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5 DIE UNSICHTBARE WELLE

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Am Horizont – genaugenommen: auf hoher See – warf bereits ein anderes Ereignis seinen Schatten voraus, auch wenn zunächst nur Teenager in der Lage waren, diesen Schatten überhaupt wahrzunehmen. Dabei war es eine tödliche Springflut, die schon bald über die Plattenindustrie hereinbrach und viele Errungenschaften der Gründerzeit mitreißen sollte. Begleitet von den kulturellen Veränderungen, die ohnehin in der Luft lagen, schlug das Radio 1922 urplötzlich zu und schickte die Plattenindustrie in ihre erste ernsthafte und chronische Depression. 20 Jahre Aderlass und Agonie waren vonnöten, um endlich wieder das Licht am Ende des Tunnels zu sehen.

In den 80er Jahren des vorangehenden Jahrhunderts hatte es im Menlo Park neben Phonograph und Glühbirne ein drittes Projekt gegeben, in das sich Edisons Team vertiefte. Edison hatte nachgewiesen – wie schon einige Forscher vor ihm –, dass man elektro-akustische Impulse auch durch die Luft übertragen kann. Die »drahtlose Telegraphie«, wie das Phänomen zunächst genannt wurde, war eine der großen Utopien des Viktorianischen Zeitalters gewesen, doch im Vergleich zu Telefon, Glühbirne und Phonograph schrie das Radio nach gewaltigen Investitionen. Selbst ein starrsinniger Krösus wie Edison kapitulierte vor der Herausforderung und machte seine Patente lieber zu Geld.

Eldridge Johnson, mit Abstand der mächtigste Mann in der Musikbranche, gehörte zu denjenigen Beobachtern, die Berichte über die Geburtswehen des vermeintlichen Heilsbringers nur noch mit Kopfschütteln zur Kenntnis nahmen. Mehr als jedes andere Forschungsprojekt hatte das Radio für absurde Prophezeiungen und ständige Investitionsblasen gesorgt. Es war relativ unwahrscheinlich, dass ein vergleichsweise krudes System, das man zum Morsen zwischen Schiffen nutzte, noch mit spektakulären Verbesserungen aufwarten würde. Denn diese qualitativen Quantensprünge waren notwendig, um komplexe Klanggebilde über größere Entfernungen transportieren zu können – und dabei womöglich eine noch bessere Tonqualität zu erzielen als die jüngsten »Talking Machines«.

Der tragische Held dieser Geschichte war der italienische Erfinder Guglielmo Marconi, der 1895 Edisons Patente gekauft hatte. Als Fachmagazine über Marconis Feldversuche berichteten, wurde das öffentliche Interesse erneut geweckt. Im Mai 1899 veröffentlichte die New York Times eine euphorische Reportage, in der es hieß: »Alle Völker dieser Erde könnten plötzlich so viel übereinander lernen – und die Menschen würden ihren Ohren nicht trauen, wie viel Neuigkeiten und Informationen auf sie einprasseln würden.« Das World’s Work-Magazin spekulierte 1905 über »den Tag, an dem ein Rancher in Arizona sein Empfangsgerät einschaltet und an Ort und Stelle die jüngsten Nachrichten hören kann«.

In den Zeitungen erschienen prompt Anzeigen von zwielichtigen Finanziers, die private Investoren suchten und ein »finanzielles Polster für den Lebensabend« versprachen: »100 investierte Dollar«, hieß es dort beispielsweise, »werden Tausende an Profiten abwerfen.« 1907 schrieb allerdings ein investigativer Journalist namens Frank Fayant eine Reportage im Success Magazine, die »Fools and Their Money« betitelt war und von einer »drahtlosen Telegraphen-Blase« sondergleichen sprach. Als Resultat seiner Veröffentlichung wurden diverse Firmen vor den Kadi gezogen – was zumindest Raum für die ernsthafteren Investoren und Forscher schaffte.

Neben Marconi war das vor allem der serbische Mathematiker und Physiker Nikola Tesla. Er hatte in den 1880ern in Edisons Menlo Park-Labor gearbeitet, sich dann aber mit Edison wegen finanzieller Differenzen überworfen. Röntgen- und radioaktive Strahlung, Radar und Fernsteuerung waren seitdem die Themen gewesen, mit denen er sich bevorzugt beschäftigt hatte. Tesla, einer der respektiertesten Köpfe in damaligen Forscherkreisen, hatte bereits 1908 prophezeit, dass »ein Geschäftsmann in New York Anweisungen diktieren kann, die dann umgehend als gedruckter Text in seinem Büro in London vorliegen werden ... Ein preiswertes Gerät, nicht größer als eine Armbanduhr, wird es möglich machen, an jedem Ort der Erde – auf Land wie auf Wasser – Musik zu hören oder die Rede eines Politikers zu verfolgen, den Vortrag eines Wissenschaftlers oder die Predigt eines Geistlichen – ganz gleich, wo auf dieser Erde die Rede gehalten wird. In der gleichen Weise wird man auch Fotos, Worte, Zeichnungen oder gedruckte Objekte von einem Ort zum anderen übertragen können.«

Tesla mochte der brillanteste Mann in seinem Metier sein, neigte aber auch zu Neurosen. In den Luxushotels, in denen er lebte, mussten Gegenstände wie Handtücher oder Handseife stets im Dreier-Paket ausgewechselt werden. Problematischer indes war die Tatsache, dass seine Forschungen überwiegend mit europäischen Geldern finanziert wurden. Nachdem er im Waldorf Astoria astronomische Rechnungen aufgetürmt hatte – und der Krieg die europäischen Gelder versiegen ließ –, war Tesla gezwungen, halb fertige Sendeanlagen an den Besitzer des Hotels zu verkaufen.

Im Vergleich dazu war Marconi ein bodenständiger Geschäftsmann. Er hatte Sendemasten in Neufundland und im irischen Galway gekauft und konzentrierte sich auf die kommerzielle Schifffahrt, die sofort die lebensrettenden Qualitäten des Radios erkannt hatte. Sein anderer Schwerpunkt war Radio-Equipment, das er primär an Teenager verkaufte – damals gemeinhin »Amateure« oder nur »Boys« genannt. Die Funker auf den Schiffen waren die Ersten gewesen, die sich über die jungen Radio-Piraten beschwert hatten, da sie die Kommunikation auf den Meeren mit dummen Späßen und unflätiger Sprache torpedierten.

1909 waren es etwa jugendliche Radio-Amateure in Rhode Island, die mit ihren Meldungen über eine vermeintliche Schiffskatastrophe die U.S. Navy alarmiert hatten. Ein Schiff wurde zum Unglücksort geschickt – bis man nach einer nächtlichen Suche realisierte, einem schlechten Scherz aufgesessen zu sein. Nach einem tatsächlichen Zusammenstoß zwischen der »SS Florida« und einem Dampfboot gaben Radio-Piraten dem zu Hilfe eilenden Schiff vier Mal falsche Koordinaten, was die Rettungsaktion um zwölf kostbare Stunden verzögerte. Nachdem sich die Berichte über jugendliche Radio-Randalierer häuften, verbot es der »Radio Act of 1912« Privatpersonen, einen bestimmten Teil des Frequenzspektrums überhaupt noch zu nutzen.

Der Untergang der »Titanic« im April 1912 sollte sich als Katalysator für das neue Medium erweisen. Die Funker an Bord waren Marconi-Angestellte, deren Notrufe von einem 60 Meilen entfernten Schiff empfangen wurden, das ebenfalls mit einem Marconi-Radio ausgerüstet war. Als die »Carpathia« um vier Uhr morgens am Unglücksort eintraf, fand man 706 verzweifelte Passagiere, die frierend in den Rettungsbooten ausgeharrt hatten. Während die »Carpathia« Kurs auf New York nahm, versuchte die U.S. Navy mehrfach vergeblich, die Radio-Crew auf dem Schiff zu erreichen. US-Präsident William Howard Taft hatte wohl den Wunsch geäußert, mit den Überlebenden schon vor ihrer Ankunft in Verbindung zu treten. Marconi hingegen hatte sein Personal angewiesen, keine Informationen über den Vorfall an Dritte weiterzugeben.

Der Grund für die sprichwörtliche Funkstille kristallisierte sich erst heraus, als die »Carpathia« in New York anlegte: An den Docks warteten Journalisten der New York Times, der Marconi die Exklusiv-Story des Radio-Operateurs verkauft hatte. Die U.S. Navy, von Marconis sozialistischen Ideen ohnehin wenig erbaut, war alles andere als begeistert und ließ ihren Unmut an den unschuldigen Radiotechnikern aus.

Bei einer parlamentarischen Untersuchung in England war der Tenor ungleich freundlicher. »Diejenigen, die überlebt haben«, so der britische Postminister, »dürfen sich bei einem Mann bedanken ... Mr. Marconi und seiner wundervollen Erfindung.« Besagte Erfindung, die nun jährliche Zuwachsraten von 2000% verzeichnete, bekam plötzlich sogar geopolitische Dimensionen.

Der Ausbruch des Krieges sollte sich dabei als Motor erweisen. Unmittelbar nach der Kriegserklärung hatte England die Telegrafen-Kabel gekappt, die Deutschland mit Amerika verbanden. Die Möglichkeiten eines globalen Telefonnetzes gewannen eine derartig strategische Bedeutung, dass sich die Navy mit AT&T und Westinghouse zusammenschloss, um heimlich an einer entsprechenden Technologie zu arbeiten. Die Ausstattung von Sendeanlagen mit gasgefüllten Röhrenverstärkern gab den AT&T-Forscher im Oktober 1915 erstmals die Möglichkeit, Radiosignale von einer Navy-Station bei Washington DC bis nach Honolulu und Paris zu schicken.

Als immer mehr Teenager abenteuerliche Kriegsgeschichten kolportierten, wie man mit Radiosignalen deutsche Zeppeline in den Hinterhalt locken könne, schien niemand mehr den Amateur-Radio-Boom aufhalten zu können. Und doch kam das Ende abrupt: Als sich Amerika im April 1917 am Ersten Weltkrieg beteiligte, verbot die Regierung aus Gründen der nationalen Sicherheit jeglichen Radio-Verkehr – selbst das passive Hören. In einer gezielten Aktion ließ die U.S. Navy Marconis Patente annullieren und konfiszierte Teslas Sendemasten, da sie mit deutschen Geldern finanziert worden seien. Alle Radio-Hersteller wurden gesetzlich verpflichtet, nur noch für die Navy zu produzieren.

Als die Navy zu Kriegsende ihr Monopol verlängern wollte, lehnte der US-Kongress allerdings ab. Immerhin trafen sich im April 1919 Navy-Captain Stanford Hooper und Admiral William Bullard mit Managern von General Electric und überredeten sie, die sogenannten »Alexanderson-Alternatoren« (die für die Übertragung im Längstwellen-Bereich unabdingbar waren) nicht an Marconi zu verkaufen. Sie empfahlen General Electric auch, eine eigene Radio-Produktion aufzubauen und ein kommerzielles Monopol in der Langstrecken-Nutzung zu suchen. Die Vorschläge der Militärs stießen auf offene Ohren: General Electric kauften Marconis amerikanische Produktionsstätten und gründeten im Oktober 1919 RCA. Im Gegenzug erhielt Bullard einen Sitz im Aufsichtsrat. Das Monopol für Langstrecken-Telefonie ging an den RCA-Partner AT&T.

RCA übernahm die Radio-Fertigung von General Electric und Westinghouse, kaufte einen Großteil der verfügbaren Patente vom Markt auf und installierte landesweit Sendeanlagen. Als das Verbot privater Radionutzung endlich aufgehoben wurde, setzte sich der Boom der Vorkriegs-Jahre ungebrochen fort – diesmal aber mit besserem Equipment und weitaus mehr Nutzern als zuvor.

Die Begeisterung unter den Teenagern kannte keine Grenzen – und führte dazu, dass die Schallplattenfirmen empfindliche Umsatzrückgänge zu verzeichnen hatten, da die Läden nun verstärkt Radio-Apparaturen anboten. Den Ladenbesitzern blieb nicht verborgen, wie die enthusiastischen Kids – ihre skeptischen Väter im Schlepptau – die Unwissenheit der Radioverkäufer auf eine harte Probe stellten. Da die Väter aber erst das Portemonnaie zückten, wenn alle Fragen zufriedenstellend beantwortet waren, blieb es den Verkäufern nicht erspart, sich wohl oder übel auf den Informationsstand der Teenager zu bringen. Die anfangs hohen Kosten für Radio-Equip­ment erklären auch, warum der Vandalismus in öffentlichen Telefonzellen in diesen Jahren sprunghaft zunahm: Die Teenager rissen die Hörer heraus, um sich mit den Bestandteilen Kopfhörer zu basteln.

Ende 1922 hatten die Anbieter jedenfalls rund zwei Millionen Radios an ihr meist jugendliches Publikum verkauft. Von den 20300 lizenzierten Radiosendern wurden nicht weniger als 15780 von Amateuren betrieben. Die meisten von ihnen waren Teenager, die nun vor allem Musik in den Äther schickten.

Als 1922 die »National Radio Conference« zu ihrer ersten Sitzung zusammenkam, waren es vor allem Industrielle und Politiker, die ans Rednerpult traten. Von den 31 Beiträgen stammten aber auch drei aus den Reihen der »American Radio Relay League«, die für die Lizenzvergabe an Privatpersonen zuständig war. »Wir bemühen uns nach Kräften, das Image des Radios als Spielzeug abzuschütteln«, gab die Organisation zu Protokoll – und schreckte auch nicht davor zurück, in ihrem Mitgliedermagazin unerwünschte Radio-Randalierer beim Namen zu nennen. »Wenn wir von dem ›kabellosen Bürger‹ sprechen, dann meinen wir damit nicht den Jungen in kurzen Hosen, der in seinem Radio ein Spielzeug sieht ..., sondern ein riesiges Forum, in dem die Bürger dieses Landes in eine sinnvolle Kommunikation treten können.« Herbert Hoover, der damalige Wirtschaftsminister, betonte in seiner Eröffnungsrede die Notwendigkeit, »die berechtigten Interessen [der Industrie] zu berücksichtigen, gleichzeitig aber auch dieses wundervolle Wesen zu schützen – den amerikanischen Jungen, ohne den das Interesse an diesem Thema nicht so explosionsartig gewachsen wäre«.

Die Probleme für die Plattenfirmen potenzierten sich noch, als der Radio-Boom genau in die Jahre des wirtschaftlichen Abschwungs fiel. Auf die boomende Wirtschaft der Kriegsjahre war eine Deflation gefolgt, da die heimkehrenden Soldaten den Arbeitsmarkt überflutet hatten. Es war eine kuriose Episode in der 30-jährigen Geschichte der Branche, dass auf die Phase der höchsten Plattenverkäufe (in und um 1921) das Jahr mit dem größten Einbruch folgte.

Das erste Opfer war Columbia. Da man sich in den Boom-Jahren massiv verschuldet hatte und immer größere Lagerbestände produzierte, ließ die Rezession hier umgehend die Alarmglocken klingeln. Für das Jahr 1921 vermeldete Columbia Verluste von 4,6 Millionen Dollar, was den gesamten Fehlbetrag auf 15,7 Millionen trieb. Die Firma war nicht mehr in der Lage, die Schuldscheine in Höhe von 22 Millionen Dollar zu bedienen. Unter Aktionären wurden erste Stimmen laut, die die Einbestellung eines Konkursverwalters forderten.

Bei Victor war es einmal mehr Caruso, der den unvermeidlichen Einbruch zumindest hinauszögerte. Nach seinem Tod im August 1921 war die Verkaufskurve noch stark angestiegen, um 1922 aber um ein Drittel einzubrechen. Im darauffolgenden Jahr waren sogar die sonst so stabilen »Red Seal«-Verkäufe auf sechs Millionen gefallen und sollten bis zum Ende des Jahrzehnts noch weiter absacken.

Edison Records hatte einmal 10000 Angestellte gezählt, war im Februar 1922 aber bereits auf 3000 Mitarbeiter geschrumpft. In einem internen Memo bekundete ein Top-Mana­ger allerdings mit erstaunlichem Freimut, dass man das Radio nicht als alleinigen Sündenbock missbrauchen dürfe. »Eine Ein-Mann-Meinung über Musik kann einfach nicht funktionieren«, schrieb Walter Miller an den halb tauben Patriarchen Edison. »Im letzten Jahr waren allein Sie es, die die Melodien aussuchten. Und Ihrem Einspruch ist es zu verdanken, dass wir die vier größten Erfolge des Jahres nicht aufnehmen konnten.«

Viele der Independents, die nach dem Krieg wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, sollten in den Jahren 1921 und 1922 ebenso spurlos wieder verschwinden. Harry Pace, der Gründer von Black Swan, gab zu Protokoll, dass »die Geburt des Radios unseren Untergang einleitete. Umgehend fingen die Händler an, Bestellungen zu stornieren ... Lieferungen wurden ungeöffnet returniert – und viele Schallplatten-Läden wurden über Nacht zu Radio-Läden.« Während Black Swan im Dezember 1923 den Konkurs anmeldete, standen beim Radio-Produzenten RCA alle Anzeichen auf Expansion: Mit 55 Millionen Dollar Umsatz hatte man Victor (37 Millionen) bereits hinter sich gelassen.

Die Händler erlebten die tektonischen Verschiebungen mit eigenen Augen in ihren Läden: Im Vergleich zum Radio sahen die »Talking Machines« einfach alt aus. Nach 40-jährigem Wachstum war die einst so imposante »Victrola« von einer neuen, interaktiven Technologie abgelöst worden. Eldridge Johnson, der reichste Mann der Branche, verkroch sich mit Depressionen ins Bett – nicht ohne zuvor seinen Stars zu befehlen, das Radio grundsätzlich zu boykottieren. Ihres einst so umsichtigen Gründers beraubt, verfiel Victors Management in einen tödlichen Tiefschlaf.

Hunderte neuer Radiosender etablierten sich derweil in den USA – und allesamt übertrugen sie neue Unterhaltungsprogramme: Boxkämpfe, politische Großveranstaltungen, Comedy-Shows, Märchen für Kinder. Amerika, von seiner eigenen Fantasie und Innovationsfähigkeit fasziniert, wurde amerikanischer, als es je war.

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