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4 DIE GROSSE MIGRATION

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Jede Epoche trägt die Träume der nächsten Generation bereits in ihrer Brust. Als sich das junge Jahrhundert den »Roaring Twenties« näherte, waren die Früchte der viktorianischen Innovationen allerorts sichtbar. Junge Menschen wuchsen in einer Welt auf, die mit den Pferdekutschen und straff geschnürten Korsetten ihrer Eltern nichts mehr gemein hatte. Es gab elektrisches Licht, elegant gestaltete Firmenschilder, Telefone, Aufzüge und Automobile. Die Städte waren größer geworden, lauter, aufregender und schneller.

Die Viktorianer hatten die großen Veränderungen erträumt, dabei aber die Rechnung ohne den anstehenden Krieg gemacht. Als die Infanteristen mit fehlenden Gliedmaßen und zerstörten Illusionen heimkehrten, begannen viele junge Amerikaner damit, die alten, europäischen Werte infrage zu stellen, die nicht zuletzt von Firmen wie »Victor Talking Machine« so erfolgreich tradiert worden waren.

Der Konzern hatte innerhalb weniger Jahre ein unvorstellbares Wachstum vorgelegt, war inzwischen aber auch so schwerfällig und selbstgefällig, dass er den Draht zur jungen Generation verloren hatte. Das viktorianische Faible für Klassische Musik, Marching Bands und Vaudeville hatte einer neuen Faszination Platz gemacht – dem Tanzen. Kulturelle Impulse kamen nicht mehr aus dem Opernhaus, sondern direkt von der Straße. Und wie immer gab es Plattenproduzenten, die die Zeichen der Zeit schneller erkannten als andere.

Bereits 1911 hatte mit »Alexander’s Ragtime Band« ein völlig untypischer Ohrwurm Wellen geschlagen und sich zum ersten globalen Hit gemausert. Verschiedene Versionen von verschiedenen Interpreten hatten mehr als eine Million Exemplare verkauft. Obwohl sich »Alexander’s Ragtime Band« noch am traditionellen Rhythmus der Marching Bands orientierte, transportierte er doch eine positive Energie, die das Publikum in ungeahnter Weise elektrisierte. Victor Produzenten realisierten zwar, dass ihre Kunden nach tanzbarer Ware verlangten, doch das Heißeste, was sie ihnen anbieten konnten, waren Tango und Foxtrott.

Der reduzierte Schiffsverkehr und die Einberufung von Millionen europäischer Männer hatten nach 1914 dazu geführt, dass die amerikanischen Einwanderungszahlen drastisch zurückgegangen waren. Ein wachsender Isolationismus schlug sich im »Immigration Act« von 1917 nieder, der in der amerikanischen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wurde. Doch als sich die Wirtschaft wieder belebte, schlug sich der mangelnde Nachschub unmittelbar in einem akuten Arbeitskräftemangel nieder. Das Phänomen überschnitt sich mit einem anderen gesellschaftlichen Umbruch, der im amerikanischen Süden zu beobachten war: Der latente Rassismus und eine wachsende ländliche Armut hatten dafür gesorgt, dass Millionen von Farbigen in die nordamerikanischen Städte flüchteten.

Der Krieg verstärkte damit einen existenten Prozess, der als »The Great Migration« bekannt war, nun aber neue Dimensionen annahm. 1910 lebten noch drei von vier Farbigen auf einer Farm, neun von zehn lebten in den Südstaaten. Im Laufe des nächsten Jahrzehnts zogen zwei Millionen von ihnen nordwärts, 400000 allein zwischen 1916 und 1918. Die größte Konzentration farbiger Migranten erlebte Harlem, wo sich 200000 ehemalige Sklaven in einer Nachbarschaft niederließen, die 15 Jahre zuvor praktisch noch weiß war.

Chicago war der zweitgrößte Magnet, nicht zuletzt ausgelöst durch The Chicago Defender – einer Zeitung, die primär in Mississippi, Virginia, New Orleans, Arkansas, Oklahoma, Texas und Georgia vertrieben wurde. Der andere Trend, der Chicagos Profil verstärkt prägen sollte, war die Prohibition. Da Unmengen kanadischen Alkohols in das Schwarzmarkt-Mekka jenseits der Grenze strömten, wurde Chicago die neue Boomtown, die in der öffentlichen Wahrnehmung bald nur noch mit Speakeasys und Gangstern gleichgesetzt wurde.

Die melancholischen Erinnerungen an den Süden und seine warmen Sepia-Töne fanden ihr dynamisches Pendant in den grellen Lichtern der Großstadt. Es war eine explosive Mixtur, aus der sich schon bald eine Vielzahl faszinierender Hybride entwickeln sollte.

Und die schwarze Musik aus dem Süden drängte nicht nur in die Dancehalls, sondern auch in die Büros der Musikverleger. Der erste Pionier, der schwarze Musik in die Städte des Nordens brachte, war W. C. Handy, ein farbiger Komponist und Bandleader, der seit einem Jahrzehnt auch im Musikgeschäft arbeitete.

In Handys Jugend wurde Blues überwiegend noch von Blasorchestern gespielt, die sich an den Marching Bands der viktorianischen Ära orientierten. Ende des 19. Jahrhunderts hatten viele Städte, oft sogar größere Firmen, ihre eigene Blaskapelle, die bei Festivitäten, Hochzeiten oder Beerdigungen aufspielte. Die neue Rag-Spielart entwickelte sich, als nach dem Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 in New Orleans die Instrumente der Militärkapellen unters Volk gebracht wurden. Da die schwarzen Marching Bands nicht vom Notenblatt spielten und gleichzeitig die Offbeat-Rhythmen ihrer afrikanischen Tradition integrierten, mutierte das kerzengerade Umpta der weißen Märsche nun in einen diffuseren, vielbeinigen Groove. Der Terminus »Ragtime« entstand, als man für diese lockere, ragged Art des Spielens einen Namen suchte.

Handy war der Erste, der das Wesen der »Drei-Akkorde-Harmonik« systematisch unter die Lupe nahm. Er kam zu dem Resultat, dass der schwammig-eiernde Effekt, den man später »blue note« nannte, zunächst nur von einer spezifischen Bevölkerungsschicht kultiviert wurde: Es waren die farbigen »Hilfsarbeiter, Honkytonk-Pianisten, Vagabunden und andere Mitglieder der unteren, aber unbeugsamen Gesellschaftsschicht ... Beim Singen achtete der einfache und ungeschulte Negro darauf, dass er die dritte und siebte Note der Tonleiter dehnte und so die Unterschiede zwischen Dur und Moll verwischte. Es machte keinen Unterschied, ob er sich nun auf den Baumwollfeldern im Mississippi-Delta befand oder auf den Deichen bei St. Louis.«

Im Jahre 1912 schrieb Handy einen Song, der im boomenden Markt für Notenblätter ein immenser Erfolg wurde. Er hieß »Memphis Blues«, war der erste überregionale und auf Notenblättern verbreitete 12-taktige Blues und gilt als Inspiration für den Foxtrott, der 1914 von dem New Yorker Tanz-Duo Vernon und Irene Castle kreiert wurde. Handy hatte New York im Sommer des Jahres als Bandleader besucht, als »der Tango in aller Munde war«. Er erinnerte sich, »wie ich eines Abends die Tänzer foppte, indem ich mit einem Tango-Intro anfing, dann aber plötzlich auf einen schmutzigen Blues umsattelte. Meine Augen glitten ängstlich über den Tanzboden, doch dann schien der Blitz einzuschlagen und direkt in die Füße der Tanzenden zu fahren. Irgendetwas in ihrem Inneren wollte sich den Weg nach außen bahnen. Es war ein Instinkt, der sich ausleben und mit weit ausgebreiteten Armen Freude verbreiten wollte.«

Doch wie es so schön heißt: It takes two to tango. Der Umbruch ließ sich nicht nur an den Farbigen festmachen, die nun in die Städte des Nordens strömten. Die Kriegsjahre brachten auch einen soziologischen Einschnitt für die weibliche Bevölkerung, deren Selbstverständnis nicht mehr von den viktorianischen Idealen dominiert wurde. Auch wenn der Ausdruck »Flapper« (für die »flatterhafte« Frau, die kurze Haare trug, Jazz hörte und kleinkarierte Konventionen bekämpfte) erst in den Roaring Twenties populär wurde, so machte die Frauenbewegung doch schon während des Krieges einen großen Schritt nach vorn.

Die Veränderung ließ sich beispielsweise in Englands Fabriken feststellen, wo geschätzte zwei Millionen Frauen männliche Arbeitsplätze übernahmen. Als sich die USA 1917 am Krieg beteiligten, unterstützte Teddy Roosevelt die feministische Autorin Harriot Stanton Blatch, die dazu aufgerufen hatte, endlich »die woman-power freizusetzen«. Blatch hatte unter anderem behauptet, dass der Krieg in England die dortigen Frauen »leistungsfähig ... putzmunter und glücklich« gemacht habe. Auch bei der Wahlberechtigung ließ der Zeitgeist nicht auf sich warten: Zwischen 1913 und 1920 führten Norwegen, Dänemark, Australien, Russland, Polen, Deutschland, England, Holland und Amerika das Wahlrecht für Frauen ein.

All diese gesellschaftlichen Umbrüche mögen erklären helfen, warum gerade 1917 in Chicago und New York eine neue Tanzmode Furore machte: Jazz war die erste musikalische Bewegung, die sich organisch auf den Straßen der Großstädte gebildet hatte und das Gesicht der Musikindustrie für immer verändern sollte.

Bereits vor dem Krieg wurde das Wort »Jazz« in Kalifornien benutzt und bedeutete so viel wie »Spritzigkeit«. (Einer ominösen Theorie zufolge hatte es auch Wurzeln in dem Slangausdruck »Jism«, womit das männliche Ejakulat gemeint war.) Eine plausiblere Erklärung lieferte die Herkunft aus einem gälischen Wort, das »teas« geschrieben, aber »tchass« ausgesprochen wurde – und soviel wie Hitze, Erregung, Kraft und Leidenschaft bedeutete. Es war auch der Name eines irischen Kultes, der sich um die Gestalt der Nationalheiligen St. Bridget rankt: Das ewige Feuer, das an ihrem Grab brannte, war das Wahrzeichen aller Glücksspieler – und als sich die Iren in die Neue Welt aufmachten, sei es dort zunächst in den Spielhöllen aufgetaucht, um von dort aus den Weg über den Sport auch in die Musik zu finden. Die Tatsache, dass Gälisch eine alte Sprache ist, deren Übertragung in lateinische Buchstaben der richtigen Aussprache nicht gerecht wird, mag vielleicht auch die Tatsache erklären, dass zwischen 1913 und 1918 mindestens vier Schreibweisen im amerikanischen Sprachgebrauch auftauchen: Jass, Jas, Jazz und Jaz.

1913 benutzte ein irisch-amerikanischer Sportjournalist namens Scoop Gleeson das Wort »Jass«, um die explosionsartige Dynamik von Baseball-Spielern zu beschreiben. Im »San Francisco Bulletin«, Gleesons Zeitung, konnte man bereits im April 1913 einen Artikel mit der folgenden Überschrift lesen: »In Praise of Jazz. A Futurist Word Which Has Just Joined the Language«. Der Autor Ernest J. Hopkins erklärt, dass »ein neues Wort, wie ein neuer Muskel, nur dann entsteht, wenn es eigentlich schon seit Ewigkeiten gebraucht wird. Dieses bemerkenswerte und vollmundige Wort ... bedeutet so etwas wie Leben, Vitalität, überschäumender Esprit, Freude, Pepp, Faszination, Elan, überschwängliche Virilität, Mut, Glück ... ach, was soll’s? Jazz eben. Kein anderes Wort kann das Gleiche ausdrücken.«

In Chicago benutzte man das Wort, um damit eine schon ältere, aber immer populärer werdende Spielart der Blasmusik zu bezeichnen, die mit den Migranten aus den Südstaaten gekommen war. In der Chicago Daily Tribune schrieb Chefredakteur Fred Shapiro im Sommer 1915 einen begeisterten Artikel und erklärte: »Blues ist Jazz und Jazz ist Blues ... Blues ist keine Musik, die mit Noten festgehalten wird, sondern von dem Pianisten oder anderen Solisten interpoliert wird. Dabei ist die Musik nicht einmal neu, wird aber so interpretiert, dass sie nun einen zweiten Frühling erlebt. Sie wurde im Süden bereits vor einem halben Jahrhundert gemacht, hat durch die Bearbeitung der Dunkelhäutigen aber ein neues Leben gewonnen. Im Musikgeschäft nennt man diese Musik Jazz.«

Sinnigerweise wurde das Wort in den Südstaaten erst später populär. Im November 1916 schrieb die Times-Picayune aus New Orleans in einem Vorbericht auf eine anstehende Musikparade: »Kultur-Organe aus dem Norden haben Kenntnis von den Jas Bands genommen. Zunächst hieß es, dass diese synkopierte Musik aus Chicago stammen würde, aber wie jeder, der einmal den ›Tango Belt‹ von New Orleans besucht hat, mit Sicherheit bestätigen kann, steht die wahre Wiege dieser Jaz Bands in dieser Stadt ... Genau woher die Bands stammen, die man bis zu diesem Winter nur in New Orleans kannte, lässt sich nicht ermessen. Es wird behauptet, dass sie aus den sogenannten Fish Bands entstanden seien, die an den Wochenenden in den Camps am See-Ufer spielen. Tatsache ist, dass ihre Popularität bereits Chicago erreicht hat und sicher schon bald New York überschwemmen wird.«

»Livery Stable Blues« und »Dixie Jass Band One Step«, die erste Jazz-Aufnahme, wurde von Victor im Februar 1917 veröffentlicht. Es waren weiße Musiker, die sich Original Dixieland Jass Band nannten, aus dem Süden stammten, aber in Chicago auftraten. Drei Monate später lud sie Columbia ein, zwei weitere Aufnahmen einzuspielen: »Darktown Strutters Ball« und »Back Home in Indiana«. Selbst Edison sprang auf den Zug und veröffentlichte »Everybody Loves a Jass Band« von Arthur Fields. Wobei man offensichtlich Ende 1917 zu dem Konsensus gekommen war, dass »Jazz« die orthografische Variante war, die dem beschriebenen Phänomen am nächsten kam.

1919 lag ganz London der Original Dixieland Jazz Band zu Füßen – und Columbias britische Tochterfirma gab nicht weniger als 30 Aufnahmen in Auftrag. Ihr Bandleader erinnerte sich daran, dass bei einem Privatkonzert im Buckingham Palace der französische Marschall Philippe Pétain sie so skeptisch durch sein Opernglas inspiziert habe, »als hätte er Ungeziefer bei uns entdeckt«. Als König George begeistert zu klatschen begann, hätten schließlich auch seine stocksteifen Gäste das königliche Protokoll über Bord geworfen und ihren Spaß gehabt. Nach vier frenetischen Monaten musste die Band schließlich das Land abrupt verlassen: Gerüchten zufolge hatte sie der Earl of Harrington bis an die Docks von Southampton verfolgt, weil einer der Musiker ein Techtelmechtel mit seiner Tochter begonnen hatte.

Da sich der wachsende Graben zwischen Jugend und ihren traditionell erzogenen Eltern nicht ignorieren ließ, sahen sich die Victor-Manager gezwungen, nicht nur ihr Image, sondern auch das ganze Repertoire auf den Prüfstand zu legen. Hochkultur wurde zunehmend verpönt – mit den entsprechenden Folgen für Victors Gewinnmargen. Calvin Child, der innerhalb der Firma für die Künstlerverträge zuständig war, wurde mit der delikaten Aufgabe betraut, den Opern- und Klassik-Stars neue Verträge schmackhaft zu machen: Statt astronomischen Pauschalen sollten sie künftig nur noch prozentual am Gewinn beteiligt werden. Um die bittere Pille zu versüßen, wurde ihnen allerdings immer noch ein jährliches Grundgehalt eingeräumt. Caruso erhielt immer noch fürstliche Konditionen: ein jährliches Grundgehalt von 100000 Dollar, garantiert für die nächsten zehn Jahre. Weniger zugkräftige Namen erhielten noch Garantien von durchschnittlich 15000 Dollar pro Jahr, doch das Zeitalter der prozentualen Beteiligung war nicht mehr aufzuhalten.

Nachdem alle Verträge neu ausgehandelt waren, verkündete »Talking Machine World« im Juli 1919 die »Demokratisierung der Musik«. Der Preis für Victors Opern- und Klassikaufnahmen wurde bis auf einen Dollar gesenkt – und selbst die exklusiven und limitierten Luxus-Editionen, die bis zu sieben Dollar gekostet hatten, wurden nun für die Hälfte angeboten. In einer begleitenden Werbekampagne sah man die Operngötter plötzlich mit Boxhandschuhen, in der Küche oder auf einem Fahrrad. Alle nur erdenklichen Bemühungen wurden unternommen, um der Klassischen Musik ihre snobistische Aura zu nehmen.

Was Victor allerdings nicht verhindern konnte, war der Verlust ihres Patents auf waagerecht abspielende Platten. Es war die vielleicht wichtigste Zäsur der Nachkriegsjahre, als es zu einem Prozess kam, bei dem sich Victor und die Starr Piano Company gegenüberstanden, die ein neues Label namens Gennett ins Leben gerufen hatte. Ohne eigene Patente hatte Gennett 1919 waagerechte Platten veröffentlicht – und wurde von Victor prompt vor den Kadi gezerrt. Starrs Anwälte waren allerdings in der Lage, das Gericht davon zu überzeugen, dass es in Victors Patenten einige Ungereimtheiten gab. Im Januar 1920 wies daher das Bundesberufungsgericht Victors Einspruch zurück und öffnete die Tore zu einem Wettbewerb, der diesen Namen erstmals wirklich verdiente.

Was sich bereits in den Kriegsjahren angebahnt hatte, sollte sich nun noch erheblich beschleunigen: Immer mehr Entrepreneure stiegen in den Ring, um sich im Kampf um Marktanteile eine Scheibe abzuschneiden. »Talking Machine World«, das monatliche Organ der Branche, hatte 1916 einen durchschnittlichen Umfang von 100 Seiten, der sich bis 1920 auf 200 Seiten verdoppeln sollte. Über 200 Hardware-Hersteller priesen hier ihre Produkte an – in den meisten Fällen Geräte, die nach ihren Gründern benannt worden waren: Cheney, Emerson, Heintzman, Wilson, Steger, Crafts, Onken oder Weser. Andere Firmen kopierten den Klang von »Victrola« und nannten sich Robinola, Harmonola, Tonkola oder Saxola. Im Bereich der Plattenproduktion enterten ebenfalls interessante neue Label den Markt, darunter Brunswick, Aeolian-Vocalion, Gennett, Okeh, Paramount und Black Swan. Es war bereits ein dichter, umkämpfter Markt, als Otto Heinemann, der vielleicht fortschrittlichste record man seiner Zeit, mit Okeh das erste Label an den Start brachte, das man heute als alternatives Indie-Label bezeichnen würde.

Jehuda Otto Heinemann war 1877 als sechstes von 16 Kindern in Lüneburg geboren worden. Mit 37 Jahren war er der Geschäftsführer der Carl Lindström AG, einer der größten Plattenfirmen in Europa. Zur Firma mit Sitz in Berlin gehörten ein riesiges Presswerk sowie drei große Label: Odeon, Parlophon und Beka. Die Fabrik in Berlin beschäftigte mehrere Tausend Angestellte und presste täglich 100000 Platten. Mit Vertriebsnetzen in Frankreich, England, Österreich und Holland war Carl Lindström eine der ersten »Majors« auf dem europäischen Kontinent. Mit »Disco National« hatte man gerade auch eine Dependance in Argentinien eröffnet, wo nun die ersten Aufnahmen der Tango-Legende Carlos Gardel produziert wurden.

Im Sommer 1914 segelte Heinemann nach New York, um sich vor Ort mit den Eigenheiten des amerikanischen Markts vertraut zu machen. Das Schiff hatte kaum abgelegt, als der Krieg ausbrach. Heinemann wurde kurzzeitig im englischen Hafen Southampton interniert, bevor er seine Reise nach Amerika fortsetzen konnte. Durch die verschiedensten Beistandspakte ausgelöst, sahen sich immer mehr Nationen gezwungen, in den Krieg einzutreten. Grenzen wurden geschlossen, Telegrafenkabel gekappt und die Schiffsverbindungen ein gefährliches Vabanque-Spiel. Heinemann begann es zu dämmern, dass er in Amerika festsaß und wohl oder übel Geld verdienen musste.

Auch wenn er bei Null anfangen musste, so brachte er doch reichhaltige Erfahrungen mit und hatte sich auf seinem ersten US-Trip 1909 auch bereits mit dem amerikanischen Markt vertraut gemacht. Er meldete eine Import-Export-Firma – die »Otto Heinemann Phonograph Supply Company« – in New York an und gründete eine kleine Manufaktur in Ohio. Sein Geschäftsmodell sah vor, Motoren für den blühenden Markt der unabhängigen kleinen Phonografen-Firmen zu bauen, die in den Kriegsjahren wie Pilze aus dem Boden schossen. Der Plan ging auf.

Auch mit der Plattenproduktion liebäugelte Heinemann, wollte aber zunächst einmal abwarten, bis sich der Staub der Firmengründungen gelegt hatte. 1918 kaufte er mit der »Rex Talking Machine Corporation« eine insolvente Firma und engagierte ihren musikalischen Direktor Fred Hager. Es war bezeichnend für Heinemanns Faszination mit der Kultur der amerikanischen Ureinwohner, dass ein Federschmuck-tragen­der Indianer das Logo seines Okeh-Labels zierte.

1920 besuchte er erstmals wieder Berlin und war schockiert von der beginnenden Währungskrise, von Kriegsschulden, Hungersnöten und politischer Unruhe. Nach sechs aufregenden Jahren als Firmengründer in Amerika konnte er es nicht abwarten, endlich wieder nach New York zu kommen, wo er un­geduldig das Urteil im Prozess »Starr Piano Company vs. Victor« erwartete. Mit einer Geldspritze seines früheren Arbeitgebers Carl Lindström etablierte er Okeh-Niederlassungen in Chicago, San Francisco, Atlanta, Seattle und Toronto.

Mit freiem Zugriff auf das Lindström-Repertoire begann er mit dem Import von Schallplatten für deutsche, schwedische, tschechische und jüdische Minderheiten. Doch die Beschäftigung mit diesen musikalischen Nischen führte Heinemann und sein Team schon bald zu zwei simplen Fragen: War die farbige Bevölkerung nicht die größte und potenziell profitabelste Minderheit in den USA? Und wenn ja: Warum sollte die farbige Bevölkerung anders ticken als die Minderheiten, die Okeh bereits bediente?

Genaugenommen stammte die erste Frage von dem farbigen Komponisten und Theaterproduzenten Perry Bradford, der sich in der farbigen Vaudeville-Szene einen Namen gemacht hatte. Im Februar 1920 war er ins Okeh-Studio in New Yorks West 45th Street marschiert, um sich dort mit Fred Hager auszutauschen. Er stellte ein paar Songs vor, die er für die 36-jährige Sängerin Mamie Smith geschrieben hatte, die gerade in der Vaudeville-Produktion »The Maid of Harlem« die Hauptrolle gespielt hatte. »Es gibt 14 Millionen Negros in diesem wundervollen Land«, sagte Bradford. »Natürlich werden sie die Platten kaufen, die von einem der Ihren aufgenommen wurden. Wir sind schließlich die Einzigen, die das Zeug haben, heiße Jazz-Songs zu interpretieren, die gerade frisch aus der Backröhre kommen.«

Am 10. August 1920 organisierte Okeh eine Session, die federführend von Tontechniker Ralph Peer betreut wurde. Der Song, von Mamie Smith stimmgewaltig eingesungen, hieß »Crazy Blues« und hatte eine gefällige Melodie, die sich über einen 12-taktigen Blues in der Tradition der New Orleans-Blaskapellen schmiegte. Die Aufnahme entpuppte sich als Hit und verkaufte rund eine Million Exemplare – von denen nicht wenige auch in weißen Haushalten landeten. Hager und Heinemann wussten, dass sie auf eine Goldader gestoßen waren. Umgehend bestellten sie W. C. Handy ins Okeh-Studio ein, um noch mehr Material im Brassband-Stil aufzunehmen.

Von Okehs Erfolg beeindruckt und wild entschlossen, die erste echte schwarze Plattenfirma zu etablieren, gründete Handys Musikverleger Harry Pace ein Label namens Black Swan. Er lieh sich 30000 Dollar und nahm eine Reihe von Songs auf, die aber kommerziell allesamt enttäuschten. Er durfte sich bei seinem musikalischen Direktor Fletcher Henderson bedanken, dass er in Gestalt von Ethel Waters doch noch fündig wurde. Die attraktive Sängerin mit einer unglücklichen Kindheit nahm für Black Swan zunächst »Down Home Blues« und »Oh Daddy« auf und verkaufte innerhalb von sechs Monaten eine halbe Million Platten.

Harry Paces Geniestreich bestand allerdings darin, seine Künstler auf eine Tournee durch die Vaudeville-Theater des ganzen Landes zu schicken. Zwischen November 1921 und Juli 1922 machten die »Black Swan Troubadours« in 21 Bundesstaaten und mindestens 53 Städten Station. Lester Waltin, ein farbiger Zeitungskolumnist, übernahm die Aufgabe des Tour­managers und überredete Zeitungen wie New York Age, The Chicago Defender, Pittsburgh Courier und Baltimore Afro-American dazu, die Tour publizistisch zu begleiten. Selbst einige weiße Zeitungen fühlten sich zu einer Berichterstattung bemüßigt.

Ethel Waters (die sich in ihrem Vertrag mit Black Swan verpflichten musste, in den nächsten zwei Jahren nicht zu heiraten) trat in einem eleganten Federkostüm auf, wie es in den Clubs von Chicago und New York inzwischen Mode geworden war. Die Tribute, eine Zeitung aus North Carolina, schrieb über ihren Auftritt: »Ethel Waters und ihre Jazz-Größen mögen die Bühne verlassen haben, doch die Erinnerung an sie wird sich selbst in einigen Monaten noch nicht verflüchtigt haben ... Die Zuschauer waren wie elektrisiert und wollten nicht glauben, was sie gerade erlebt hatten ... Mit vollem körperlichen Einsatz, gewagte Hüftschwünge inklusive, lieferte sie eine Show, die beim Publikum unbekannte Gipfel der Verzückung auslöste.« Nach sieben Monaten und ausnahmslos ausverkauften Konzerten war die Mailorder-Nachfrage derartig explodiert, dass Black Swan 30 Mitarbeiter einstellen musste. Bereits am Ende der Tour hatte man Ware für 100000 Dollar an 1000 verschiedene Händler geschickt.

Mit dem rapide wachsenden Interesse an den sogenannten »race records« etablierten sich neue Vertriebskanäle, die zunächst auf das Einzugsgebiet jener Zeitungen beschränkt waren, die sich ausschließlich an Farbige richteten. Zeitungsverkäufer boten Blues-Platten an ihren Ständen an, Kofferträger auf den Bahnsteigen, Verkäufer gingen von Tür zu Tür. Zeitungen wie The Chicago Defender forderten »die Musikliebhaber und alle, die den Fortschrift der farbigen Bevölkerung unterstützen wollen«, dazu auf, die neuen Platten zu kaufen.

Okeh nahm immer mehr farbige Musiker unter Vertrag, hatte aber seine ganz eigenen Ideen, was künftige Absatzmöglichkeiten betraf. Heinemann installierte nicht nur alternative Vertriebswege, sondern betrat auch Neuland, als er im Oktober 1921 damit begann, in Talking Machine World eine ungewohnte Anzeigen-Serie zu schalten: Die redaktionell gestaltete Werbung zeigte Okeh-Anzeigen in schwarzen Zeitungen – und sollte weiße Händler mit der Vorstellung vertraut machen, dass »race music« ein immenser und immens lukrativer Markt war.

Während die weiße Nachfrage nach tanzbarer schwarzer Musik weiter wuchs, bewegten sich Jazz und Blues schrittweise auf den Mainstream zu. Im täglichen Leben waren Farbige noch immer Menschen zweiter Klasse, doch im musikalischen Parallel-Universum schien die potente Mischung aus Street-Slang und Südstaaten-Kolorit eine moderne Version des American dream einzuläuten. Es war eine neue Welle, die ans Land brandete – doch hinter ihr tauchte bereits die nächste auf, die noch um einiges größer sein sollte.

Cowboys & Indies

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