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4 Der Himmel auf Erden

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Es war zweifellos zuträglich für Sartres persönliche Entwicklung, dass er in Paris nicht zu seinen Großeltern zog. Er ging wieder ins Lycée Henri IV, diesmal jedoch als Internatsschüler, und besuchte seine Großeltern nur sonntagmorgens, nach dem Chor. Er erneuerte Freundschaften, die er im Alter von zwölf Jahren unterbrochen hatte, vor allem mit Paul Nizan.

Sartre und Nizan galten mit ihren Streichen und satirischen, scharfsinnigen Kommentaren während ihrer Schul- und Universitätszeit als infernalisches Duo „Nitre und Sarzan“. Nizan, der es im Gegensatz zu Sartre eilig hatte, erwachsen zu werden, hatte bald zahlreiche Erzählungen, Gedichte und Essays in Zeitschriften veröffentlicht und wurde zum Vorbild für dessen literarisches Schaffen.

Im Henri IV lag der Schwerpunkt auf akademischem Wettbewerb und Erfolg und Sartre fühlte sich darin wie ein Fisch im Wasser. Seine Lektüre war nicht auf dem aktuellsten Stand – nicht genug Proust –, aber er holte schnell auf und konnte bald in Pausen über Swann reden wie über einen persönlichen Freund.

Seine Intelligenz und sein Scharfsinn wurden nicht mehr verachtet, sondern bewundert und er baute sehr bald ein großes öffentliches Ansehen darauf auf. Er war sein eigenes Abbild, er war die Rollen, die er spielte. Es gab niemals etwas wie einen privaten Sartre als Gegenstück zu einem offiziellen. Sich völlig in die eigene Rolle zu werfen und das absolute In-der-Situation-Sein zu erkennen, das würde nun und für immer der Sartre-Weg sein, der authentische Weg, der Ungemach verhindert.

Damals wie heute wimmelt es in der Gegend um den Boulevard Saint-Michel in der Nähe des Jardin du Luxembourg von Schulen und Universitäten, allen voran die weltberühmte Sorbonne. Diese Ansammlung von Bildungseinrichtungen fördert den Wettbewerb, Innovation, die Begegnung kluger Geister und die gegenseitige Vernetzung. Sartre und seine Klassenkameraden waren buchstäblich von dem, was sie herausforderte und was sie werden wollten, in Stein gemeißelt umgeben. Der nächste Schritt, das Lycée Louis-le-Grand, lag nur einen Steinwurf vom Henri IV entfernt. Und die meritokratische École normale supérieure (ENS), eines der angesehensten Studienzentren Frankreichs für Philosophie und verwandte Fachrichtungen und Sartres ultimatives Ziel, war bloß einige Hundert Meter südlich gelegen.

Die Prüfungen waren der Schlüssel zu diesen erhabenen Gebäuden und Sartre und seine kleine Spezialeinheit von Strebern drehten diese Schlüssel in ihrem Aufstieg auf der Pariser Ausbildungsleiter enthusiastisch einen nach dem anderen herum, um ihren Platz in der besten Bildungseinrichtung Frankreichs zu bekommen.

Sartre las sehr viel, jedes avantgardistische Buch, das ihm in die Hände kam. In seiner Vorstellung war er bereits Nietzsches Übermensch, nur Nizan galt ihm als ebenbürtig. Er war bereits seit Jahren Romanautor, aber er wollte ein großer Romanautor werden, eine riesige Gestalt wie Dickens oder Proust.

Im Louis-le-Grand studierte er beim kleinen, verkrüppelten und einflussreichen Professor Colonna d’Istria, der ihn mit der Lehre Henri Bergsons bekannt machte. Sartre las Bergsons Zeit und Freiheit für einen Aufsatz über die Dauer und war schnell begeistert. Er fand in Bergson eine beinahe perfekte Beschreibung seines eigenen Bewusstseins und der Art, wie er es erlebte. Er war fasziniert von Bergsons Unterscheidung zwischen der teilbaren wissenschaftlichen Zeit und dem das seelische Leben bestimmenden kontinuierlichen Zeitfluss im Bewusstsein.

Bei seinem Studium Bergsons entwickelte Sartre zunächst seinen zentralen Gedanken der Zeitlichkeit: dass Zeit und Bewusstsein eng miteinander verwandt waren. Er verfeinerte sein Verständnis dieses Gedankens durch seine Beschäftigung mit Edmund Husserl und Martin Heidegger, die ihrerseits ebenfalls von Bergson beeinflusst waren, und setzte ihn schließlich in die Mitte seiner eigenen Geisteslehre.

Sartres Eklektizismus und sein zielloser Dilettantismus endeten mit der Entdeckung Bergsons. Bergson inspirierte Sartre dazu, sich selbst in erster Linie als Philosoph zu betrachten. Er wusste sofort, dass er eine Affinität zur Philosophie hatte und dass er viel zu ihr beitragen könne. Wie viele andere große Geister in den Jahrhunderten fühlte er, dass nur das Studium der Philosophie seinen rastlosen Geist vollkommen in Beschlag nehmen, beschäftigen und herausfordern könne.

Er gab jedoch nach der Entdeckung seiner Liebe für die Philosophie nicht seine frühere Aspiration auf, Schriftsteller zu werden. Er wurde vor die Wahl zwischen Philosophie und der Schriftstellerei gestellt und konnte auf keine von beiden verzichten. Also entschied er sich, in beiden zu überragen und sie miteinander zu vermischen wo möglich, sodass sie einander ergänzten. Er schrieb philosophische Werke mit reichhaltigen Beschreibungen aus dem wahren Leben, die sich streckenweise wie literarische Texte lesen. Und er verfasste wahrhaftig philosophische Kurzgeschichten, Romane und Dramen.

Im Spätsommer 1924 schrieb Colonna d’Istria an Nizan und gratulierte seinen Philosophenfreunden zu ihrer Aufnahme in die ENS. Er war zuversichtlich, dass sie Teil einer Gruppe „neuer Philosophen“ werden würden, die glänzende Karrieren vor sich hatten und mit ihrem Intellekt ein neues Zeitalter prägen sollten. Er hatte nicht Unrecht.

Im Jahre 1924 war die ENS ein schäbiges, schmutziges Gebäude und die Studenten waren schludrig und legten wenig Wert auf körperliche Hygiene. Ihre Geister dagegen waren hell und messerscharf und sie pflegten eine starke Arbeitsethik. Wie für Studenten üblich, wollten sie jedoch immer den Eindruck erwecken, als erreichten sie ihre Ziele ohne großen Arbeitsaufwand. „Dem Genie wird es im Schlaf gegeben.“

Nachdem Sartre sich in der schulischen Turnhalle große Muskeln zum Boxen und Ringen antrainiert hatte, wurde aus dem kleinen Sartre der zähe, kleine Sartre, der muskulöse Sartre, wenn nicht sogar der Waschbrettbauch-Sartre. Er hatte eine unbändige Energie und Charakterstärke. Er besaß die Fähigkeit, sich gnadenlos anzuspornen und Stunde um Stunde hart zu arbeiten, Woche für Woche. In diesem Vollgasmodus blieb er einige Jahrzehnte. Er war stolz und selbstbewusst. Zu seinem Freund Daniel Lagache sagte er einst: „Ich will der Mensch sein, der am meisten über alles Bescheid weiß“, und er meinte es ernst.

Er verschlang mindestens ein halbes Dutzend Bücher pro Woche und betrachtete sie unter seinem eigenen Blickwinkel, seinen eigenen Theorien und Philosophien. Er arbeitete viel mehr als nötig für seine Scheine in Philosophiegeschichte, Allgemeiner Philosophie, Psychologie, Logik, Ethik und Soziologie. Für ihn waren sie alle dasselbe. Er begann seine Lehrer an Wissen zu übertreffen und bemerkte bald, dass sie ihm nicht länger das Wasser reichen konnten.

Er musste seine Fragen deshalb direkt den großen Meistern stellen: Platon, Aristoteles, Descartes und Kant. Er durchpflügte ihre Werke nach einer Antwort. Nur Paul Nizan und Raymond Aron konnten mit ihm Schritt halten. Insbesondere Aron wurde zu seinem intellektuellen Sparringspartner, bis Simone de Beauvoir auf der Bildfläche erschien. Aron war nach de Beauvoir der bedeutendste persönliche philosophische Einfluss auf Sartres Leben.

Sartre, Nizan und Aron verschrieben sich der mächtigen kartesianischen Methode des systematischen Zweifels, dem wissenschaftlichen Skeptizismus. Was nicht gewiss ist, muss verworfen werden, bis man etwas entdeckt oder formuliert, das der strengsten Überprüfung standhält. Obwohl das meiste von Sartres Geistesphilosophie der kartesianischen Position widersprach, verehrte er Descartes zeit seines Lebens und bezeichnete sich selbst stets als Postkartesianer.

Sartre wurde eine beinahe legendäre Gestalt unter seinen Kommilitonen. Eine Legende in seiner eigenen Mittagspause. Er leistete bedeutende Beiträge für das Kabarett der ENS, das unter seinem Einfluss beißender und gemeiner wurde. Bei einer Aufführung, in der Sartre eine entscheidende Rolle spielte, saß sogar Edouard Herriot im Publikum, der dreimalige Premierminister der Dritten Französischen Republik, der ein Ehemaliger der ENS war.

Sartre schrieb Sketche und Lieder, trug vor, sang, spielte Klavier – alles, um sich über das Establishment zu mokieren, insbesondere den Hochschulleiter Gustave Lanson. Ein falscher Bart und eine gefälschte Ehrenlegion verwandelten Sartre in ein perfektes Abbild Lansons. Sartre verachtete Lanson, der ein einflussreiches Buch über die Unterrichtsmethode der französischen Sprache verfasst und sich selbst zu deren Hüter ernannt hatte. Die anhaltende Verspottung Lansons warf ein derart schlechtes Licht auf das öffentliche Ansehen des politischen Urgesteins, dass er 1927 als Direktor zurücktreten musste.

Sartre liebte es, sich über das Establishment lustig zu machen, es zu untergraben und ihm Streiche zu spielen, und er hatte, wie die meisten Studenten, linkspolitische Tendenzen entwickelt, ohne damals jedoch ernsthaft politisch zu werden. Er schloss sich verschiedenen politischen Bewegungen an, aber er weigerte sich, einer von ihnen zugeordnet zu werden. Er war und blieb immer zu sehr Freidenker, um lange an einer Parteilinie anzuhängen. Er ließ sich politisch immer nur durch das definieren, wogegen er war. Daher stammt auch sein turbulentes Verhältnis zum Parti communiste français (PCF) in seinen späteren Jahren. Er war oft ein „Reisegefährte“ des PCF, aber niemals ein vollwertiger, bekennender Anhänger.

Nizan seinerseits wurde früh vollwertiges Mitglied des PCF. 1926 reiste er nach England, in den Nahen Osten und Nordafrika. Entsetzt von den Auswirkungen des europäischen Imperialismus kam er als ein völlig anderer Mensch zurück: ernsthafter, reifer und ein Anhänger des marxistischen Glaubens. Er betrachtete die Beschäftigungen in der ENS als die Possen privilegierter bürgerlicher Intellektueller, die auf Kosten der armen, unterdrückten Arbeiter die Zeit totschlugen.

Nizan heiratete an Heiligabend 1927 Henriette Alphen und wurde bald dabei gesehen – oh Schreck aller existenziellen Schrecken! –, wie er einen Kinderwagen durch den Jardin du Luxembourg schob. Sartre und er blieben Freunde, aber das Nitre-Sarzanische duo infernale war Geschichte. Nachdem Nizan sich von ihm entfernt hatte, war Sartre bereit für eine neue zentrale Beziehung in seinem Leben.

Jean-Paul Sartre

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