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6 Le Havre
ОглавлениеDie Jahre in Le Havre waren ein bedeutsamer Abschnitt für die persönliche wie philosophische Entwicklung Sartres. Obwohl Verlage seine frühen Manuskripte ablehnten und der schnelle Erfolg, den er sich als Student naiverweise erhofft hatte, ausblieb, arbeitete er beständig an seinen Ideen und entwickelte sie weiter. Er war nicht länger der angeberische, Streiche spielende, von hellen, jungen Köpfen umgebene Student, sondern wurde ernsthafter und seine Selbstwahrnehmung ehrlicher.
Die Atmosphäre in Le Havre durchdrang seine Stimmungen. Das Sonnenlicht der Küste und die Meeresbrise ließen die schmutzigen Slums, das schäbige Rotlichtviertel, die großen, finsteren, windverwehten Hafenanlagen und das elegante bürgerliche Wohnviertel über den Klippen mit seinen Villen, Gärten und Kirchen mit schmerzvoller Deutlichkeit und Schärfe hervortreten. Le Havre wurde Bouville, die Stadt, in der Sartres erstaunlicher erster Roman Der Ekel spielt.
Die Gedanken, über denen Sartre während seiner einsamen Spaziergänge brütete, die ängstliche Erkenntnis, dass die Wirklichkeit unerbittlich und überwältigend ist, jedoch immer ungreifbar, nicht notwendig, kontingent und überflüssig, wurden Der Ekel, die erschreckende und widerliche ontologische Offenbarung, die im Kern des Romans steckt.
Sartre skizzierte seine Gedanken über Kontingenz bereits 1926 während seiner Nietzsche-Studien. Er brütete während seines Wehrdienstes weiter über diesen Gedanken und nahm sie in Gestalt einer immer wachsenden Ansammlung von Notizen und Passagen mit nach Le Havre, die er sein „Faktum über Kontingenz“ nannte; „Faktum“ war ein Begriff, mit dem er und Nizan jegliche Form schonungsloser Analyse bezeichneten.
Der Ekel spielt im Jahre 1932. Und tatsächlich hatte das „Faktum“ erst 1931 begonnen, die Gestalt dessen anzunehmen, was später der Roman werden sollte, den wir heute kennen. Die Arbeit daran begleitete Sartre sechs Jahre lang und brachte nicht weniger als drei unterschiedliche abgeschlossene Fassungen hervor, die er beständig überarbeitete und korrigierte, selbstverständlich immer unter dem gewissenhaften Auge de Beauvoirs.
Er ließ seine Gedanken und Erfahrungen in seine Arbeit einfließen, während der er zugleich alles beiseiteschob, was ihm oder de Beauvoir als unnötig erschien. Das Ergebnis war ein äußerst polierter und ausgefeilter Text, Sartres vollkommenstes Erzählwerk, vermutlich sein größtes Werk überhaupt. Der Ekel ist ein stilistisches Meisterwerk, das eine nahtlose Verbindung von Erzählwerk und Philosophie darstellt: eine Tour de Force, die eine unverwechselbare und tiefe philosophische Vision voranbringt, ohne jemals zu verfehlen, ein reiner und tatsächlicher Roman zu sein. Es ist, wie viele Kommentatoren wie etwa Iris Murdoch angemerkt haben, ein seltenes Beispiel für einen wahrhaft philosophischen Roman.
Es gibt kein überflüssiges Wort in Der Ekel. Folglich hat sogar seine deutsche Übersetzung den großartigen poetischen Klang, der an Hugo von Hofmannsthal erinnert. „Was für ein Buch ist Der Ekel?“, fragt Iris Murdoch in Sartre: Romantic Rationalist und schlussfolgert, dass „[e]s […] mehr wie ein Gedicht oder ein Zauberspruch [wirkt] als wie ein Roman“ (S. 19).
Der gestrige Himmel, ja, der gefiel mir – ein enger, regenschwarzer Himmel, der sich an die Scheiben drückte wie ein lächerliches und rührendes Gesicht. Aber die heutige Sonne hat nichts Lächerliches, ganz im Gegenteil. Auf alles, was ich liebe, auf den Rost des Baugeländes, auf die verfaulten Zaunbretter, fällt ein sparsames, vernunftbegabtes Licht, dem Blick vergleichbar, den man nach einer schlaflosen Nacht auf die Entschlüsse wirft, die man tags zuvor begeistert gefaßt hatte – den man auf die Seiten wirft, die man ohne jede Verbesserung und auf einen einzigen Zug niedergeschrieben hatte. (Der Ekel, S. 20)
Natürlich war Le Havre nicht gänzlich oder auch zum Großteil das tragische, romantische Leben des Philosophendichters, des einsamen Mannes, der aus der Tiefe seiner Isolation zur Welt sprechen wollte. Sartre war dort, um in der Schule zu unterrichten, um Woche für Woche in die Gesellschaft anderer Menschen forciert und ihren vielfältigen Erwartungen ausgesetzt zu werden, genötigt, einen regelmäßigen und anspruchsvollen Alltagsberuf auszuüben, den aufzugeben er sich nicht leisten konnte. Er stürzte sich darauf, wie er sich auf beinahe alles stürzte, mit großer Begeisterung.
Er war freundlich und sachlich zu seinen Schülern, ermutigte sie dazu, selbständig zu denken und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Er inspirierte sie mit seiner eigenen Liebe zum Nachdenken und seine persönlichen Anmerkungen und Anekdoten machten seinen Logik-, Psychologie-, Ethik- und Metaphysikunterricht unterhaltsam und leichter zugänglich.
Er war nur einige Jahre älter als die ältesten Schüler und schloss sich ihnen in den ersten Jahren an. Bei Picknicks am Strand sang er mit ihnen gemeinsam obszöne Lieder. Das aus heutiger Sicht Außergewöhnlichste war, dass er ihnen erlaubte, im Klassenraum zu rauchen. Er stand den Schülern sehr nahe, was bei der Schulbehörde Misstrauen erweckte, obwohl man zugeben musste, dass er eine große Fachkenntnis besaß und seine Schüler hervorragende Noten hatten.
Er ließ die Bourgeoisie Le Havres sehr früh seine Verachtung für sie erkennen. Bei der jährlichen Preisverleihung, wo er als der jüngste Lehrer die Eröffnungsrede halten musste, verzichtete er auf höfliche Floskeln und sprach über die Köpfe der hochgeschnürten Eltern hinweg direkt zu seinen Schülern. Sein Thema war die neue, weitgehend abgelehnte Kunstform des Kinos.
Noch skandalöser war, dass „der Anarchist“ – wie er von Gegnern wie Befürwortern gleichermaßen genannt wurde – sich vorsätzlich ein Zimmer im schäbigen Hotel Printania in den tiefer gelegenen Slums der Stadt genommen hatte, mit Aussicht auf das Elektrizitätswerk und den Rangierbahnhof. Er zog dies dem höheren, respektablen, bourgeoisen Stadtteil vor, wo man erwartete, dass ein Lehrer und ENS-Absolvent wohnen sollte.
Er zehrte vom Treiben der unteren Stadt mit seinen Hafenanlagen, Bordellen, Bars und Cafés, als ob er selbst direkt an das unaufhörliche Rauschen des Elektrizitätswerkes angeschlossen wäre. Die Cafés wurden sein Büro und waren seitdem immer seine bevorzugten Arbeitszimmer. Das Leben der Cafés, das ständige Kommen und Gehen darin, das Klappern und Reden lenkten ihn nicht ab. Stattdessen trieben sie, gemeinsam mit der ständigen Anregung durch Kaffee, Bier, Zigaretten- und Pfeifentabak, seine ruhelose Schreiberei an.
Wenn Sartre nicht gerade Schüler unterrichtete und an seinen Sachen schrieb, studierte er Literatur, deren Erträge er in Form monatlicher Lesungen in der Aula der Lyre Havraise vorstellte. Er war ernsthaft, aber entspannt und interagierte mit seinem literaturliebenden Publikum; er erforschte die Werke damals in Frankreich noch unbekannter Autoren wie Virginia Woolf, James Joyce, Aldous Huxley, John Dos Passos und William Faulkner.
Seine Wahl an Schriftstellern reflektierte das tiefe Interesse, das er und de Beauvoir für die zeitgenössische englische, irische und amerikanische Literatur entwickelt hatten – und sie der französischen Gegenwartsliteratur häufig vorzogen. Seine eigenen belletristischen Werke wurden stark von den nichtlinearen Erzählsträngen und der Stream-of-Consciousness-Methode beeinflusst, die von diesen Autoren angewandt wurden. Viele ihrer Techniken waren neu und hochmodern, wie auch Sartres Analysen dieser Techniken. Diese Analysen bildeten das Fundament der von Kritikern gefeierten Literaturartikel, die er in La Nouvelle Revue Française gegen Ende der 1930er-Jahre publizierte.
Um in Form zu bleiben, betrieb Sartre seinen eigenen Boxverein in der Turnhalle Charles Porta. Zu seinen Mitgliedern zählten Schüler und einige der „cooleren“ Lehrer – der Englischlehrer, der Sportlehrer: die üblichen Verdächtigen. Mit Sandsäcken und Seilspringen brachte er ihnen das Boxen bei. Das war Sartre: immer zum Kampf bereit.
Sartre unterrichtete im Lycée François Ier immer im selben Klassenraum, dem Philosophiezimmer, ein bisschen abseits der anderen Klassenzimmer, wie es bei Philosophiezimmern oft der Fall ist, um zu vermeiden, dass das freie Denken die konventionelleren Schüler anstecken könnte. Nach seinem Tod ehrte Le Havre ihn und benannte die Straße vor seinem Philosophiezimmer Rue Jean-Paul Sartre. So machte eine weitere Provinzstadt, die ihn für eine Weile beherbergte, seinen Namen unsterblich, indem sie ihn mit ihrer Infrastruktur vermählte. Anders als La Rochelle „gefiel es [Sartre] in Le Havre ganz gut“ (In den besten Jahren, S. 105). Andererseits waren es ganz unterschiedliche Zeiten, die er in den grundsätzlich nicht sehr voneinander verschiedenen Städten verbrachte.