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9 Die kleine Russin
ОглавлениеOlga, „la petite Russe“, war halbe Aristokratin und die Tochter einer Französin und eines russischen Adligen. Sie war in de Beauvoirs Unterricht einmal in Tränen ausgebrochen und de Beauvoir brachte sie zum Spazieren an die frische Luft, um sie zu beruhigen. De Beauvoir stellte sogleich fest, dass sie mit der acht Jahre jüngeren Frau sehr viel offener reden konnte als mit den zunehmend reservierten und empfindlichen gleichaltrigen Freundinnen. Sie begannen, sich häufiger zu sehen. Und Sartre, der oft in Rouen war, um sich von seinen wiederkehrenden Depressionen abzulenken, ließ sich bald miteinbeziehen.
Olga wurde ihre gemeinsame Leidenschaft für die nächsten zwei Jahre. Sie waren beide völlig in sie verliebt, in ihre Schönheit und in ihren jugendlichen Stolz. Olga schien ihnen die Gelegenheit zu bieten, ihre eigene verlorene Jugend nachzuholen. Sie lernten von ihr, ahmten ihre Spontaneität nach, handelten so wie sie, eher aus dem Bauch heraus anstatt aus Vernunft, mieden Wiederholung, vergaßen zu essen und zu schlafen und tanzten und feierten bis zum Umfallen. Sie verfolgten sie, warben um sie, sprachen über sie, stritten über sie und begannen sogar schon, ihr verkorkstes Leben zu ordnen, als wäre sie ihre Tochter gewesen.
Sartres Leidenschaft für sie wurde zur Besessenheit. Er war dermaßen in sie vernarrt, dass er unglücklich war, bis er ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hatte, und er ließ seinen ganzen Charme und seine ganze Intelligenz spielen, um das Interesse des unbeständigen, sprunghaften Mädchens nur für sich zu haben. Ihre Weigerung, ihn abzulehnen oder anzunehmen, stürzte ihn von 1935 bis 1937, da er alles in seiner Macht Stehende versuchte, um sie zu gewinnen, wiederholt von den höchsten Ekstasen in die tiefsten Abgründe der Verzweiflung.
Sartres und de Beauvoirs lange gepflegter Glaube, dass ihre „notwendige Liebe“ die „kontingenten Lieben“, das heißt ihre zahlreichen Affären, tolerieren und sogar von ihnen profitieren könne, wurde durch die Leidenschaft, die Olga in ihnen beiden hervorrief, auf eine harte Probe gestellt. De Beauvoir war nicht besonders eifersüchtig darauf, dass er so abgrundtief in sie vernarrt war, aber sein unziemliches Verhalten brüskierte sie. Sie ertrug es nicht, dass er sich wegen eines mehr als zehn Jahre jüngeren Mädchens derart zum Narren machte. Ihr tat Olga leid dafür, dass Sartre sich ihr derart aufdrängte, aber zugleich war sie auch oft verärgert über sie, dass sie so bereitwillig mit ihm flirtete. In Abwesenheit des einen kritisierte und beratschlagte de Beauvoir sich mit dem jeweils anderen über dessen Verhalten in dieser Dreiecksbeziehung. Die Angelegenheit kostete sie eine Menge Nerven.
Sartre gestand später, dass er niemals eifersüchtig gewesen sei, außer in Bezug auf Olga. Seine Affäre mit ihr war zweifelsohne eine prägende Episode, die sich noch viele Jahre in seinen Werken niederschlug.
Viele weibliche Figuren Sartres weisen einige von Olgas Charakterzügen auf, zum Beispiel Lulu aus seiner Kurzgeschichte Intimität oder Inez in seinem Theaterstück Geschlossene Gesellschaft. Der Olga ähnlichste Charakter ist jedoch Ivich Serguine in Sartres Romanreihe Die Wege der Freiheit. Im ersten Band der Reihe, Zeit der Reife, wird Ivich von Mathieu Delarue umworben, einem von Sartres Alter Egos.
De Beauvoir stellte diese Dreiecksbeziehung und die wilden Verhältnisse zwischen ihr, Sartre und Olga in den Mittelpunkt ihres ersten Romans, Sie kam und blieb. Sie widmete den Roman sogar Olga. Auch in In den besten Jahren setzt sie sich ausführlich mit dieser verrückten und aufwühlenden Zeit auseinander. Hier offenbart sie jedoch auch, dass diese Episode nicht nur eine Quelle großen Unglücks für die Teilnehmenden war, sondern auch großer Freude, vor allem am Anfang. Es gab viele wunderschöne Momente zusammen, als drei noch nicht einer zu viel waren.
Anfang 1937, als sie mit dem kleinen Bost etwas trinken ging, begann de Beauvoir zu zittern. Zwei Tage später wurde sie mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus gebracht. Sie war eine Zeit lang sehr krank. De Beauvoir hatte zu viel gearbeitet und sich übernommen, zu viel geraucht, in einer feuchten Wohnung gelebt und ihre Gesundheit vernachlässigt und zweifelsohne leisteten die Spannungen in der Dreiecksbeziehung auch ihren Beitrag. Die „stählerne Frau“, wie Sartre sie kurz zuvor hinter ihrem Rücken trotzig genannt hatte, war letztlich auch nur ein Mensch.
Der Schock riss ihn aus seiner fruchtlosen und zunehmend peinlichen Narretei gegenüber Olga heraus. Er erkannte endlich, dass er de Beauvoir für selbstverständlich gehalten hatte. Ihre Krankheit und die Möglichkeit, dass er sie verlieren könnte, riefen ihm wieder ins Bewusstsein, wie viel sie ihm bedeutete. Er besuchte sie jeden Tag im Krankenhaus und organisierte nach ihrer Entlassung ein gemütliches, weniger feuchtes Hotelzimmer. Zu Ostern war sie noch immer bettlägerig; er wartete an ihrem Bett, brachte ihr Essen von einem nahe gelegenen Restaurant und erfüllte ihr jeden Wunsch.
Was Olga betraf, blieben sie mit ihr gut befreundet, aber das Verhältnis war auf ein für alle drei erträglicheres Niveau abgekühlt. Nachdem sie durch all ihre medizinischen Examen gefallen und Sartres absurder Versuch, sie zu einer Philosophielehrerin auszubilden, gescheitert war, entdeckte Olga, dass sie als Kellnerin auf dem Boulevard Saint-Michel am glücklichsten war. Sie hatte bereits seit einiger Zeit eine Affäre mit dem kleinen Bost und sie heirateten später. Beide waren gleichen Alters. Trotz des Weckrufs, dass de Beauvoir knapp dem Tode entronnen war, versuchte Sartre, seinen Verlust Olgas durch einen Flirt mit Olgas jüngerer Schwester Wanda zu kompensieren, deren Temperament ähnlich sprunghaft und einnehmend war.