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3 Exil

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Als Sartre 1915 zehnjährig in das Lycée Henri IV in der Nähe der elterlichen Wohnung aufgenommen wurde, hatte er kaum öffentliche Schulbildung genossen. Dieser Schritt war noch kein jähes Erwachen für den bücherliebenden, verhätschelten und von sich selbst eingenommenen Jungen, aber es sollte bald folgen. 1917 heiratete Anne-Marie den Sartre verhassten Joseph Mancy und erschütterte damit das Märchenland ihres Sohnes.

Für Anne-Marie bedeutete dies, sich endlich nicht mehr als erwachsene Frau im eigenen Elternhaus respektlos behandeln lassen zu müssen und sich von gewissen rechtlichen Ansprüchen der Großeltern über den Enkel zu befreien. Mancy, der ein betont sachlicher, oberflächlicher, engstirniger Wissenschaftler aus der Bourgeoisie war, brachte ihr finanzielle Sicherheit sowie den Status und die relative Unabhängigkeit einer verheirateten Frau. Für Sartre bedeutete die neue Situation einen täglichen Wettbewerb um die Zuneigung der Mutter, Unterordnung gegenüber einem praktisch veranlagten Mann, der kein Verständnis für den Unsinn des Jungen hatte, einen Umzug nach La Rochelle, eine Hafenstadt im Golf von Biskaya, und, was das Schlimmste war, eine neue, entmutigende Schule.

Er war zwölf Jahre alt und gerade dabei, ein Teenager zu werden. Seine idyllische Kindheit – die er in Die Wörter behandelte – war endgültig zu Ende. Die Zeit war gekommen, da er die wahre Welt kennenlernen sollte. Die Zeit war gekommen, schnell erwachsen zu werden.

Bis zu diesem Zeitpunkt war Sartres Für-andere-Sein – ein Konzept, das später eine zentrale Rolle in seiner Philosophie spielen sollte – fast ausschließlich positiv gewesen. Für andere zu existieren hatte bisher bedeutet, für Erwachsene zu existieren, die ihn abgöttisch liebten. Später behauptete er, dass das Wesen aller zwischenmenschlichen Beziehungen der Konflikt sei, was in seinem vielleicht berühmtesten Ausspruch kulminierte: „Die Hölle, das sind die anderen!“ (Bei geschlossenen Türen (bekannt als Geschlossene Gesellschaft), S. 97). Seine ersten wahren Konflikte, seine erste echte Begegnung mit dem Dämon „der Andere“ ereigneten sich im öffentlichen Schule in La Rochelle und waren ganz anders als die Konflikte in seinen Comicheften und die komischen Bösewichte, die er bisher gekannt hatte.

Die Jungen in La Rochelle waren außergewöhnlich aggressiv und voller Hass gegen die Deutschen, weil sie ihnen im Weltkrieg ihre Väter genommen hatten. Sie waren leicht reizbar und der wichtigtuerische Poulou mit seiner klugscheißerischen Art war ein leichtes Ziel.

Als Biograph ist man schnell versucht, an dieser Stelle zu behaupten, dass Sartre gnadenlos gemobbt wurde, und daraus eine der wesentlichen Antriebskräfte zu machen, die seinen Charakter prägten. Wir wollen hier aber nur festhalten, dass er lediglich seinen Teil an Gemeinheiten und Geringschätzung erhielt, den diese zornigen, unerzogenen und provinziellen Klassenkameraden so bereitwillig in alle Richtungen verteilten. Er wurde nicht mehr gemobbt als viele Kinder, die ein großes soziales Umfeld geistig gesund überstehen. Und wir wollen ihn selbst ein bisschen necken und sagen, dass es ihm auf gewisse Art guttat, ein bitter nötiges und lange überfälliges Gegenmittel gegen seinen Narzissmus verabreicht zu bekommen.

Eine Zeitlang erkaufte er den oberflächlichen guten Willen seiner Klassenkameraden mit teuren Schokoladen, das dafür nötige Geld stahl er von Anne-Marie. Er wurde bald erwischt und musste folglich zum ersten Mal in seinem Leben, zusätzlich zum gedankenlosen Hohn seiner Mitschüler, die Verachtung seiner Familie ertragen.

Er erfand große Geschichten über sich selbst, um seine Mitschüler zu beeindrucken, aber dies handelte ihm bloß den Ruf eines Aufschneiders ein. Das Einzige, womit er ein wenig zähneknirschenden Respekt von seinen Mitschülern gewinnen konnte, war seine Fähigkeit, seine Lehrer zu korrigieren, wenn ihnen kleine akademische Ungenauigkeiten unterliefen. Aber ein besserwisserisches Kind ist niemals beliebt bei anderen Kindern.

Als aus den Monaten Jahre wurden, begann er, sich in sich zurückzuziehen. Er vermied es, Kräfte auf Dummköpfe zu verschwenden, und begann allmählich, seinen Mund zu halten, wenn es klug war. Er besorgte sich Ausweise für alle Bibliotheken der Stadt und konzentrierte sich auf sein Schreiben. Mit einem Wort, er begann zu schreiben.

Er ertrug La Rochelle und Joseph Mancy, der ihm La Rochelle aufgebürdet hatte, bis er fünfzehn war und endlich von seinem Exil erlöst wurde. Im Herbst 1920 durfte er in seine geistige Heimat Paris zurückkehren, wo er seinen rechtmäßigen Platz unter der jungen intellektuellen Elite Frankreichs einnahm.

In den nachfolgenden Jahren hatte er nie viel über La Rochelle zu sagen. Verständlicherweise hegte er keine große Liebe für den Ort. Dennoch ehrt die Stadt ihn bis zum heutigen Tage mit einer nach ihm benannten Avenue.

Die von den Schatten des Krieges unberührte Hafenstadt La Rochelle diente ihm nicht nur als bitteres Mittel gegen seinen Narzissmus, sondern verschaffte ihm auch eine frühe Einsicht in die Sorgen der Welt. Als er nach Paris zurückkehrte, war er weniger selbstbesessen, aber auch selbstsicherer. Obwohl er nie ein Außenseiter gewesen war, hatte er einen Vorgeschmack davon kosten können, was es bedeutete, ein Außenseiter zu sein. Und er wusste, wie es sich anfühlte, Ungerechtigkeit durch andere zu erleiden. Ungerechtigkeit geschieht immer durch andere.

Der Samen der Rebellion war gesät worden. Er hatte begonnen, die Bourgeoisie zu hassen, für ihn personifiziert in Mancy. Er hasste ihre selbstgefällige Engstirnigkeit und ihren Mangel an Vorstellungskraft, ihren Dünkel und den Glauben an ihre eigene Wichtigkeit. Dieser lange anhaltende Hass beeinflusste die Wahl seines Lebensstils und prägte später seine Philosophie. Annie Cohen-Solal schreibt dazu: „Alles in allem ging der deklassierte Niemandssohn, der avantgardistische jugendliche Bastard aus den Prüfungen des Krieges einigermaßen gestärkt hervor, um sich der neu beginnenden Ära zu stellen“ (Annie Cohen-Solal, Jean-Paul Sartre: 1905–1980, S. 95).

Jean-Paul Sartre

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