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7 Aprikosencocktails
ОглавлениеDer größte Vorteil des Lehrerdaseins sind zweifellos die Ferien. Im Juni 1932, während seine Schüler für ihre Prüfungen lernten, verbrachte Sartre zehn wundervolle Tage in Marseille. Er genoss die Sonne und de Beauvoir brachte ihn an alle Orte, die sie in der Zwischenzeit lieben gelernt hatte, sodass er sie auch lieben lernen könne.
Kurz darauf unternahmen sie eine zweite Reise nach Spanien, um die Orte zu besuchen, die sie im vorigen Jahr hatten auslassen müssen. Sie reisten gerne und hatten die vage Vorstellung, bald jeden Winkel der Welt sehen zu wollen. Ab diesem Zeitpunkt waren gemeinsame Reisen ein wesentlicher Teil ihrer Beziehung.
De Beauvoir kehrte zum Ende des Sommers nicht wieder nach Marseille zurück. Sosehr sie die Stadt liebte, sie gehörte in den Norden und freute sich sehr darüber, eine Stelle als Lehrerin in Rouen zugeteilt zu bekommen, das etwa auf halber Strecke zwischen den zwei Polen ihres Lebens lag: Sartre und Paris.
Sartres ehemalige Schüler in Le Havre erinnerten sich in Interviews mit seiner führenden Biographin Annie Cohen-Solal sehr lebhaft daran, wie er oft nach der letzten Unterrichtsstunde davonstürzte, um den Zug nach Rouen zu bekommen und seine geheimnisvolle Frau zu besuchen. Der Zug von Le Havre nach Rouen fuhr weiter nach Paris; dies erleichterte es ihnen deutlich, gemeinsam in ihre Lieblingsstadt zu reisen, was sie auch oft taten.
Man kann sich ihr stilles Glück leicht vorstellen: der lächelnde Sartre mit einem Buch in der Hand und der Pfeife im Mund, während de Beauvoir in den Zug aufsteigt und ihn küsst. Die Treffen waren bei ihrer vergangenen Begegnung oder in Briefen minutiös geplant worden – oder auch an einem dieser verschrobenen, jedoch vollkommen funktionstüchtigen Telefone der Dreißigerjahre.
Im Frühling des Jahres 1933 wurde ein solcher Ausflug unternommen mit dem Ziel, sich mit Aron zu treffen, der aus Berlin nach Paris gekommen war. Aron befand sich in einem Sabbatjahr in Berlin, um die Philosophie Husserls am Französischen Institut zu studieren. Bei diesem legendären Treffen, das heute einen Eckpfeiler der Sartre-Anekdoten darstellt, begannen die drei am Bec de Gaz auf der Rue Montparnasse (wobei sie de Beauvoir zufolge Aprikosencocktails tranken, Aron zufolge jedoch nur Bier), über die Phänomenologie Husserls zu diskutieren: die philosophische Untersuchung und Beschreibung von Phänomenen, wie sie dem Bewusstsein erscheinen.
Sartres Philosophie hatte so etwas wie eine Sackgasse erreicht. Er arbeitete noch immer bei jeder Gelegenheit an seinem „Faktum über die Kontingenz“. Aber um wirklich damit voranzukommen, um wirklich seine eigene Sartre’sche Philosophie formulieren zu können, benötigte er einen Ansatz, der altmodische idealistische und realistische Argumentationen überwand und es ihm erlaubte, sie durch die „Bejahung der Souveränität des Bewusstseins und der Präsenz der Welt, wie sie uns gegenwärtig ist“ (In den besten Jahren, S. 118), zu überwinden. In einer berühmten Passage über das legendäre Treffen schreibt de Beauvoir:
Aron wies auf sein Glas: „Siehst du, mon petit camarade, wenn du Phänomenologe bist, kannst du über diesen Cocktail reden, und es ist Philosophie!“ Sartre erbleichte vor Erregung; das war genau, was er sich seit Jahren wünschte: man redet über den nächstbesten Gegenstand, und es ist Philosophie. (In den besten Jahren, S. 118)
Sartre verlor keine Zeit. Er besorgte sich auf dem Boulevard Saint-Michel Emmanuel Lévinas’ Die Theorie der Anschauung in der Husserlschen Phänomenologie und begann unterwegs in den ungeschnittenen Seiten zu lesen. In dem Buch gab es einiges über die Kontingenz; aber zu Sartres Erleichterung hatte der 1859 geborene Husserl nicht dieselben Gedanken zu dem Thema gehabt wie er.
Sartre begann, intensiv Husserl zu studieren. Er las alles, was Husserl geschrieben hatte, und für die kommenden sechs Jahre kaum einen anderen Philosophen. Husserl wurde Sartres größter philosophischer Einfluss, sowohl unmittelbar als auch wiederum über den Einfluss auf dessen Schüler Martin Heidegger, mit dem Sartre sich später auch ausführlich beschäftigte.
Eines von Sartres Hauptwerken, Die Transzendenz des Ego: Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, ist im Grunde seine Auseinandersetzung mit Husserl. Darin übernimmt er einige Aspekte von Husserls Theorie von der Beziehung zwischen Bewusstsein und Welt, während er andere Aspekte kritisiert. Es ist ein ehrgeiziges Buch, in dem er erstmals seine Bewusstseinstheorie formuliert, die das Herzstück seines späteren Schaffens wird.
Nach dem folgenschweren Treffen am Bec de Gaz war Sartre von der Phänomenologie besessen. Es war, als ob er eine Droge gefunden hätte, ein dauerndes Stimulans, den Katalysator, der ihn als Philosophen endlich zielstrebig in eine bestimmte Richtung katapultierte. Die Phänomenologie bildete den Pfeiler seiner eigenen Philosophie. Er würde ihr für den Rest seiner Karriere treu bleiben und sie in Essays, weitschweifigen philosophischen Abhandlungen, Kurzgeschichten, Romanen, Theaterstücken, Biographien und sogar Filmdrehbüchern beständig zu einer durchdringenden Lehre der Conditio humana verfeinern und weiterentwickeln.
Sartre und Aron brüteten gemeinsam einen hervorragenden Plan aus. Sartre bewarb sich im Herbst 1933 als Nachfolger Arons am Französischen Institut in Berlin und Aron würde Sartres Lehrerstelle in Le Havre übernehmen. Dieses Arrangement kam beiden perfekt gelegen. Aron brauchte eine Arbeit, wenn seine Zeit in Berlin zu Ende ging, und Sartre wollte unbedingt eine Auszeit von seinem streng regulierten Alltag im Schulbetrieb nehmen. Er konnte es kaum abwarten, sich in ein erschöpfendes Vollzeitstudium Husserls in der Heimat dieses berühmten Philosophen zu stürzen.
Der Jahrgangsbeste von Frankreichs bester Schule aus dem Jahre 1929 reichte seine Bewerbung ein. Sie wurde erwartungsgemäß akzeptiert. Sartre machte sich auf den Weg nach Deutschland, um dessen beste Philosophen zu studieren – es gibt so viele großartige deutsche Philosophen –, während das schlimmste Kapitel der deutschen Politik seinen Anfang nahm.
Aber Sartre hatte noch ein paar Monate Schulunterricht und dann die erholenden Sommerferien vor sich, bevor er endlich wieder in das Studentenleben eintauchen konnte, das er so sehr liebte. Am Ende des Schuljahres in Le Havre füllten seine Schüler ihn mit Alkohol ab und brachten ihn in ein örtliches Bordell. Es war Sartres erste Bordellerfahrung und er war zu betrunken, um sich an Details zu erinnern – obwohl er, seinem engen Freund Jacques-Laurent Bost zufolge, danach erklärte, auf dem Rücken einer rüstigen Hure die Treppen hochgetragen worden zu sein.
Nachdem Sartre und de Beauvoir die vergangenen zwei Sommer Spanien besucht hatten, entschieden sie sich dieses Jahr, stattdessen nach Italien zu fahren – teilweise auch um die günstigen landesweiten Zugfahrten in Anspruch zu nehmen, die Mussolini angeboten hatte, um Besucher in die Ausstellung der faschistischen Revolution in Rom zu locken. Sie verbrachten die meiste Zeit in Florenz und nur einige wenige Tage in Rom.
Die Hauptstadt befand sich fest im Griff des faschistischen Fiebers. Faschistische Plakate und Wahlsprüche waren überall und aufbrausende, aggressive Schwarzhemden beanspruchten auf den Bürgersteigen den Vorrang für sich. Die beiden Verliebten wollten den ganzen Tag lang durch die Straßen der Ewigen Stadt streunen, doch zur Abenddämmerung wurden sie von patrouillierenden Schwarzhemden bedrängt und zurück in ihr Hotel beordert.
Als Jugendlicher war Sartre davon ausgegangen, mit 28 bereits ein berühmter Schriftsteller zu sein. Doch nun, mit 28 Jahren, war er im Grunde noch immer ein Schullehrer aus der Provinz; und selbst wenn mehr als das in ihm steckte, so war er dennoch nicht berühmt. Wie jeder traurige, fleißige Schreiberling hatte auch er einige Artikel publiziert, jedoch noch nichts, was damals als bedeutend betrachtet wurde.
Um es schlimmer zu machen, was seinem Ego einen weiteren Stich versetzte, waren seine Zeitgenossen ihm bereits ein ganzes Stück voraus. Nizan stand kurz davor, seinen ersten Roman Antoine Bloyé zu veröffentlichen, und bewarb sich als Kommunist für politische Ämter. In der Zwischenzeit hatte Aron, der fließend Deutsch sprach, bereits an der Universität Köln unterrichtet. Kurz nach dem Stellentausch mit Sartre hatte Aron seine ersten beiden Bücher veröffentlicht.
Da merkte Sartre, dass sein Sabbatjahr ihm eine einmalige Gelegenheit bot, um aufzuholen. Es war an der Zeit, seine laufenden Projekte liegen zu lassen und neue in Angriff zu nehmen. Er widmete sich dem Vorhaben, die verschiedenen philosophischen und literarischen Fäden, an denen er jahrelang gesponnen hatte, miteinander zu einer bedeutenden und kohärenten Theorie zu verweben, die ihm zu Ruhm und Ehre verhelfen sollte. Obwohl er schon immer ein rastloser Arbeiter war, legte er sich selbst einen neuen Arbeitsplan auf, der selbst bei seinen bisherigen Ansprüchen furchteinflößend war.
Morgens las und analysierte er Husserl, mit dem bescheidenen Ziel, die Parameter der Phänomenologie nachhaltig neu zu definieren. Am Nachmittag beschäftigte er sich mit seinem allgegenwärtigen, im steten Wandel befindlichen „Faktum über die Kontingenz“. Wenn er tagsüber noch Zeit übrig hatte, versuchte er sich an Heidegger in der Originalsprache. Leider hatte er große Schwierigkeiten mit Heideggers gewundener Sprache – ein Problem, das auch diejenigen kennen, die Heidegger in Übersetzung zu lesen versuchen.
Am Abend entspann er bei intensiven Diskussionen seine Gedanken mit weiteren Doktoranden bei einer oder drei Pfeifen, einem Glas deutschem Bier und einer großen Bratwurst. Sein Wissen und Verständnis der Philosophie waren nicht das Einzige, das während seines Deutschlandaufenthaltes zunahm.
Sartre ist sehr dafür kritisiert worden, damals nicht die Feder gegen die Nazis ergriffen zu haben. Er verfügte über die Verbindungen und hätte z.B. französischen Zeitungen eindrucksvolle Artikel über Szenen senden können, die er erlebt oder von denen er zumindest gehört hatte. Zusätzlich zu dem rechtsextremen Schwadronieren, dem er und de Beauvoir bereits in Italien begegnet waren, gab es hier Massendemonstrationen mit hakenkreuzschwingenden Fanatikern, verstörend nationalistischen Reden und Bücherverbrennungen. Juden wurden bedroht, beleidigt und ihre Habseligkeiten beschlagnahmt. Der spätere Sartre hätte hier mit klarer, entschiedener und bestechender Entrüstung seine Stimme erhoben, doch dieser noch relativ junge Sartre war noch kein Zoon politikon.
Als schonungslos selbstfixierter, vom Gedanken des einzelnen Menschen besessener Individualist pflegte Sartre eine romantische Haltung wider die Politik, die er bloß als Massenphänomen betrachtete. Er war Nizan nicht ins politische linke Spektrum gefolgt. Linksextrem oder rechtsextrem, für ihn war all dies nur kollektiver Fanatismus und unwürdige Herdenmentalität. Er hatte noch nicht die einfache Wahrheit akzeptiert, dass jemand, der sich nicht aktiv gegen eine Sache stellt, effektiv für sie ist. Er hatte zweifellos die moralische Pflicht, aktiv Farbe zu bekennen – was er 1933–34 jedoch ignorierte.
Andererseits genießen seine Kritiker den Vorteil, dass man hinterher immer klüger ist. Er wusste nicht, was die Nazis einmal werden und was für entsetzliche Gräuel sie anrichten sollten. Unter Intellektuellen gab es eine weit verbreitete Selbstgefälligkeit gegenüber Adolf Hitler. Sie täuschten sich selbst damit, dass sein Einfluss bereits am Schwinden gewesen sei. Ein so absurd kleiner Mann – sein „kindische[s] Gesicht, dieses Fliegengesicht“ (Der Aufschub, S. 63) – würde sich auf keinen Fall lange halten können. Ein derart absurdes Regime würde sich nicht lange halten können. Die deutsche Bevölkerung würde gewiss aufwachen.
Andererseits war Sartre aus dem einzigen banalen Grund in Deutschland, sich in seinem intellektuellen Elfenbeinturm einzunisten. Er verbrachte unzählige Stunden mit seinem Studium und den Großteil seiner Freizeit mit einer kleinen Gruppe französischer Doktoranden. Als offizielle Gäste des Französischen Instituts waren er und seine Gefährten mit Unterkunft und regelmäßigen Mahlzeiten versorgt. Welcher völlig in sein Studium versunkene Studierende weiß oder kümmert sich darum, was in den Nachrichten geschieht? Das zeitgenössische Deutschland war eine Hintergrundkulisse, die leicht ignoriert werden konnte. Cohen-Solal bringt es auf den Punkt, wenn sie sagt: „[E]s [war] nicht das zeitgenössische Deutschland gewesen […], das sie angezogen hatte, sondern solche Schriftsteller wie die des Sturm-und-Drang, solche Philosophen wie die des 19. Jahrhunderts“ (Cohen-Solal, S. 179).
Sartres Fokus lag auf der besten deutschen Philosophie, nicht auf der schlechtesten deutschen Politik. Hätte er seine Zeit damit verbracht, Hitler zu kritisieren, anstatt Husserl zu studieren, wäre er vermutlich nicht der große Philosoph Sartre geworden, der große Verfechter individueller Freiheit und Verantwortung, wodurch Hitler der Menschheit noch größeren Schaden zugefügt hätte. Aber vielleicht ist dies gar kein besonders gutes Argument – selbst mit seinem vollen Terminplan hätte er Zeit finden können, etwas zu sagen.
Er verbrachte Weihnachten und Neujahr 1933/34 in Frankreich, aber zu Ostern besuchte de Beauvoir ihn in Berlin. Da sie eine offene Beziehung führten, erzählte er ihr von seiner Vorliebe für deutsche Frauen. Er hatte allerdings noch keine verführen können, da die Sprachbarriere ihn seiner größten Waffe beraubte, sodass ihm nur seine auffällige Hässlichkeit blieb. De Beauvoir blieb noch über die Schulferien hinaus dort – vielleicht um ein Auge auf ihn zu werfen –, dann verzichtete er darauf, ein weiteres Jahr zu bleiben.
Er verließ Berlin im Juni 1934, dem Monat seines 29. Geburtstags, nur wenige Wochen bevor Hitler nach Hindenburgs Tod zum absoluten Alleinherrscher Deutschlands wurde. Sartre hatte den Durchbruch als bedeutender Autor und Philosoph noch immer nicht geschafft und es würde noch eine Weile dauern, bis er es endlich schaffen würde. Aber die Startrampe war errichtet und er hatte eine genaue Reiseroute geplant.