Читать книгу Aphorismen – Sudeleien – Stichelreden - Georg Christoph Lichtenberg - Страница 6
[A] [1765–1770]
ОглавлениеDer grose Kunstgriff kleine Abweichungen von der Wahrheit für die Wahrheit selbst zu halten, worauf die gantze Differential Rechnung gebaut ist, ist auch zugleich der Grund unsrer wizzigen Gedancken, wo offt das Ganze hinfallen würde, wenn wir die Abweichungen in einer philosophischen Strenge nehmen würden.
Um eine allgemeine Charackteristick1 zu Stande zu bringen müssen wir erst von der Ordnung in der Sprache abstrahiren, die Ordnung ist eine gewisse Musick, die wir festgesezt, und die in wenigen Fällen (zE. femme sage, sage femme) einen sonderbaren Nuzzen hat. Eine solche Sprache die den Begriffen folgt müssen wir erst haben, oder wenigstens für besondere Fälle suchen, wenn wir in der Charackteristick fortkommen wollen. Weil aber unsere wichtigsten Entschlüsse, wenn wir sie ohne Worte dencken, offt nur Punckte sind, so wird eine solche Sprache eben so schwer seyn zu entwerfen, als die andere, die daraus gefolgert werden soll.
Es ist schwer anzugeben, wie wir zu den Begriffen gekommen sind die wir jezo besizzen, niemand, oder sehr wenige werden angeben können, wenn sie den HErrn von Leibniz zum erstenmal haben nennen hören; weit schwerer aber wird es noch seyn, anzugeben, wenn wir zum erstenmal zu dem Begrif gekommen, daß alle Menschen sterben müssen, wir erlangen ihn nicht so bald, als man wohl glauben solte. So schwer ist es den Ursprung der Dinge anzugeben, die in uns selbst vorgehen, wie wird es erst alsdenn ergehen, wenn wir hierinn [etwas] in Dingen ausser uns zu Stande bringen wollen?
Die Erfindung der wichtigsten Wahrheiten hängt von einer feinen Abstracktion ab, und unser gemeines Leben ist eine beständige Bestrebung uns zu derselben unfähig zu machen, alle Fertigkeiten, Angewohnheiten, routine, bey einem mehr, als bey dem andern, und die Beschäfftigung der Philosophen ist es, diese kleinen blinden Fertigkeiten, die wir durch Beobachtungen von Kindheit an uns erworben haben, wieder zu verlernen. Ein Philosoph solte also billig als ein Kind schon besonders erzogen werden.
Die grösten Dinge in der Welt werden durch andere zu wege gebracht, die wir nichts achten, kleine Ursachen, die wir übersehen, und die sich endlich häufen.
Rousseau nennt mit Recht den Accent die Seele der Rede (: Emile p. 96 T. I.) und Leute werden von uns offt für dumm angesehn und wenn wir es untersuchen, so ist es blos der einfache Ton in ihren Reden. Weil nun dieses bey den Schrifften wegfällt, so muß der Leser auf den Accent geführt werden, dadurch daß man deutlicher durch die Wendung anzeigt, wo der Ton hingehört, und dieses ist es, was die Rede im gemeinen Leben vom Brief unterscheidet und was auch eine blos gedruckte Rede von derjenigen unterscheiden solte, die man würcklich hält.
Die Versart den Gedancken anzumessen ist eine sehr schwere Kunst, und eine Vernachlässigung derselben ist ein wichtiger Theil des lächerlichen. Sie verhalten sich beyde zusammen wie im gemeinen Leben Lebens-Art und Amt.
Die Esel haben die traurige Situation, worinn sie jezo in der Welt leben, villeicht blos dem wizigen Einfall eines losen Menschen zu dancken, dieser ist Schuld, daß sie zum verächtlichsten Thier auf immer geworden sind und es auch bleiben werden, denn viele Eselstreiber gehen deswegen mit ihren eleven so fürchterlich um, weil es Esel, nicht weil es träge und langsame Thiere sind.
Plato sagt das poetische Genie werde durch die Harmonie und die Versart rege gemacht, und dieses sezze den Dichter in den Stand ohne Ueberlegung seine Gedichte zu verfertigen. Plato thou reason’st well, ein jeder wird dieses bey sich verspürt haben, wenn er mit Feuer Verse gemacht hat, villeicht könten wir durch ähnliche Kunstgriffe unsre übrige Fähigkeiten eben so in Bewegung sezzen, hauptsächlich auch die Ausübung der Tugend. Eine grose Fertigkeit im dividiren und zwar nach der Methode, die man über sich dividiren heißt, die ich bey jemand bemerckte, brachte mir zuerst den Lusten zur Rechenkunst bey; ich dividirte mehr der Eyförmigen Gestalt der Auflösung willen, als aus einer andern Absicht. Ich habe junge Mathematicos gekannt … die offt ein solches Vergnügen darinn [fanden] die Worte Calcul und Vues in dem Calcul auszusprechen, daß ich nicht zweifle, daß kleine Neben Ergözlichkeiten, die sich in dergleichen Vorstellungen fanden, ihren Fleiß munter erhalten haben.
Aus den Träumen der Menschen, wenn sie dieselben gnau anzeigten, liese sich villeicht vieles auf ihren Charackter schliesen. Es gehörte aber dazu nicht etwa einer sondern eine ziemliche Menge.
Wir würden gewiß Menschen von sonderbarer Gemüths-Art kennen lernen, wenn die grosen Striche, die jezo Meer sind, bewohnt wären, und wenn villeicht in einigen Jahrtausenden unser gegenwärtiges festes Land Meer und unsere Meere Länder seyn werden, so werden gantz neue Sitten entstehen, über die wir uns jezo sehr wundern solten.
Die Speißen haben vermuthlich einen sehr grosen Einfluß auf den Zustand der Menschen, wie er jezo ist, der Wein äusert seinen Einfluß mehr sichtbarlich, die Speißen thun es langsamer, aber villeicht eben so gewiß, wer weiß ob wir nicht einer gut gekochten Suppe die Lufftpumpe und einer schlechten den Krieg offt zu verdancken haben. Es verdiente dieses eine gnauere Untersuchung. Allein wer weiß ob nicht der Himmel damit grose Endzwecke erreicht, Unterthanen treu erhält, Regierungen ändert und freye Staaten macht, und ob nicht die Speißen das thun was wir den Einfluß des Clima nennen.
Wir müssen uns freylich unsre gegenwärtigen Augenblicke allemal zu Nuz zu machen suchen, und dieses wäre nicht sehr schwer, denn wir dürften nur jeden Augenblick thun, was uns am meisten gefällt, allein wer sieht nicht daß uns bald Stoff dazu fehlen würde. 2 Jahre so hingebracht würden uns alle künfftige verderben; jeder gegenwärtige Augenblick ist ein Spiegel aller künfftigen, und unser gegenwärtiges Vergnügen, verglichen mit dem daß er ein künfftiger wird kan darin ein gröstes werden.
Hefftigen Ehrgeiz und Mistrauen habe ich noch allemal beysammen gesehen.
Wir arbeiten öffters daran einen lasterhafften Affeckt zu dämpfen, und wollen dabey unsere übrige gute alle behalten, dieses kommt aus unserer Methode her, womit wir den Menschen schildern, wir sehen den Charackter desselben nicht als ein sehr richtig zusammengefügtes gantzes an, das nur in seinen Theilen verschiedene relative Stellungen annehmen kan, sondern wir sehen die Affeckte wie aufgeklebte Schönpflästergen an, die wir verlegen und wegwerfen könten. Viele dergleichen Irrthümer beruhen auf den dabey so nöthigen Sprachen, weil diese keine Verbindung nothwendig unter sich haben, sondern sie erst durch die beygefügte Erinnerungen bekommen, so kommt die gewöhnlichste Bedeutung uns immer in den Sinn, so bald man die Erinnerung ein wenig nur aus der Acht läßt, daher wenn eine allgemeine Charackteristick erfunden werden soll, so muß nothwendig erst eine solche Sprache hervorgesucht werden.
Die Vorurtheile sind so zu reden die Kunsttriebe2 der Menschen, sie thun dadurch vieles, das ihnen zu schwer werden würde bis zum Entschluß durchzudenken, ohne alle Mühe.
Ich wünschte mir an jedem Abend die Secunde des vergangenen Tags zu wissen, da mein Leben den geringsten3 Werth hatte, das ist, da, wenn Reinigkeit der Absichten, und Sicherheit des Leben Geld werth sind, ich am allermeisten würde gegolten haben.
Man muß sich in Acht nehmen, daß man um die Möglichkeit mancher Dinge zu erweißen nicht gar zu bald auf die Macht eines höchstvollkommenen Wesens apellirt, denn sobald man zE. glaubt [daß] Gott die Materie dencken mache, so kan man nicht mehr erweisen, daß ein Gott ausser der Materie sey.
Eine Empfindung die mit Worten ausgedruckt wird, ist allzeit wie Musick die ich mit Worten beschreibe, die Ausdrücke sind der Sache nicht homogen genug. …
Es ist in der That ein sehr blindes und unsern aufgeklärten Zeiten sehr unanständiges Vorurtheil, daß wir die Geographie und die Römische Historie eher lernen, als die Phisiologie und Anatomie, ja die heidnische Fabellehre eher, als diese für Menschen beynah so unentbehrliche Wissenschafft daß sie nächst der Religion solte getrieben werden. Ich glaube daß einem höheren Geschöpfe, als wir Menschen sind, dieses das reitzendste Schauspiel seyn muß, wenn er einen großen Theil des menschlichen Geschlechts starr ein paar tausend Jahre hinter sich gehen sähe, und aufs ungewisse und unter dem Freybrief Regeln für die Welt aufzusuchen sich und der Welt unnütz sterben, [die] ihren Körper der doch ihr vornehmster Theil war nicht kanten, da ein Blick auf ihn sie, ihre Kinder, ihren Nächsten, ihre Nachkommen, hätte glücklich machen können.
Um uns ein Glück, das uns gleichgültig scheint, recht fühlbar zu machen müssen wir immer dencken, daß es verlohren sey, und daß wir es diesen Augenblick wieder erhielten. Es gehört aber etwas Erfahrung in allerley Leiden dazu um diese Versuche glücklich anzustellen.
Die Criticker lehren uns, uns an die Natur zu halten, und die Schrifftsteller lesen es, sie halten es aber immer für sicherer sich an Schrifftsteller zu halten, die sich an die Natur gehalten haben. …
Wenn man einen guten Gedancken ließt, so kan man probieren, ob sich etwas ähnliches bey einer andern Materie dencken und sagen lasse. Man nimmt hier gleichsam an, daß in der andern Materie etwas enthalten sey das diesem ähnlich sey. Dieses ist eine Art von Analysis der Gedancken, die villeicht mancher gelehrter braucht ohne es zu sagen.
Wenn wir so vollständig sprechen könten als wir empfinden, die Redner würden wenige widerspenstige, und die Verliebten wenig grausame finden. Unser gantzer Körper wünschet bey der Abreiße eines geliebten Mädgens, daß sie da bleiben mögte, kein Theil drückt es aber so deutlich aus als der Mund: wie soll er sich aber ausdrucken, daß man auch etwas von den Wünschen der übrigen Theile empfindet? Gewiß das ist sehr schwer zu rathen, wenn man noch nicht in dem Fall würcklich ist, und noch schwerer wenn man nie darinn war.
Bey einem Verbrechen ist das was die Welt das Verbrechen nennt selten das was die Strafe verdient, sondern da ist es, wo unter der langen Reihe von Handlungen womit es sich gleichsam als mit Wurtzeln in unser Leben hinein erstreckt diejenige ist, die am meisten von unserm Willen dependirte, und die wir am allerleichtesten hätten nicht thun können.
Wenn die Substantzen Eigenschafften besitzen die sich andern vergegenwärtigen lassen, so können wir zugleich Glieder in verschiedenen Welten seyn ohne uns jedoch in mehr als einer bewußt zu seyn, denn Eigenschafften der Substantzen sind so zu reden durchdringlich. So können wir sterben und in einer andern Welt fortleben.
Es giebt eine gewisse Art Menschen, die mit Jedem leicht Freundschafft machen, ihn eben so bald wieder hassen und wieder lieben, stellt man sich das menschliche Geschlecht als ein gantzes vor, wo jeder Theil in seine Stelle paßt, so werden dergleichen Menschen zu solchen Ausfüll-Theilen die man überall hinwerfen kan. Man findet unter dieser Art von Leuten selten grose Genies, ohneracht sie am leichtesten dafür gehalten werden.
Das Maas des wunderbaren sind wir, wenn wir ein allgemeines Maas suchten, so würde das wunderbare wegfallen und würden alle Dinge gleich groß seyn.
Geister ohne eine Welt ausser ihnen müssen seltsame Geschöpfe seyn, denn da von jedem Gedancken der Grund in ihnen liegt, so sind die seltsamsten Verbindungen von Ideen allzeit recht. Leute nennen wir rasend, wenn sich die Ordnung ihrer Begriffe nicht mehr aus der Folge der Begebenheiten in unsrer ordentlichen Welt bestimmen läßt, deswegen ist gewiß eine sorgfältige Betrachtung der Natur, oder auch die Mathematick das sicherste Mittel wider Raserey, die Natur ist so zu sagen das Laufseil, woran unsere Gedancken geführt werden, daß sie nicht ausschweifen.
Die Einrichtung unserer Natur ist so weise, daß uns so wohl vergangener Schmerz, als vergangene Wollust Vergnügen erweckt; da wir nun ferner eher eine zukünfftige Wollust voraussehen als einen zukünfftigen Schmerz, so sehen wir daß wircklich nicht einmal die traurige und angenehme Empfindung in der Welt gleich vertheilt sind, sondern daß würcklich auf Seiten des Vergnügens ein größeres statt findet.
Das Glück der Menschen besteht in einer richtigen Verhältniß seiner Gemüths Eigenschafften und seiner Affeckten, wenn eine wächßt, so leiden alle andern, daraus entstehen unzählige Mischungen. Das was man einen großen Geist nennt kan so gut eine Mißgeburt seyn, als es ein großer Spieler ist, aber eine nützliche Mißgeburt, so waren Savage und Günther wahrhaffte Mißgeburten, der Mann der ruhig und vergnügt lebt, ist der eigentliche Mensch, und ein solcher Mensch wird es selten sehr weit in einer Wissenschafft bringen, weil jede Maschine die zu vielem nützen soll selten zu jedem so starck nützen kan als eine die nur allein zu einer eintzigen Absicht gemacht ist. Deswegen ist es eben so weiß eingerichtet, daß wenige Leute Genie haben, als es weißlich ist, daß nicht alle Leute taub oder blind sind. …
Es ist ein gantz unvermeidlicher Fehler aller Sprachen daß sie nur genera von Begriffen ausdrücken, und selten das hinlänglich sagen was sie sagen wollen. Denn wenn wir unsere Wörter mit den Sachen vergleichen, so werden wir finden daß die lezteren in einer gantz andern Reihe fortgehen als die erstern. Die Eigenschafften die wir an unserer Seele bemercken hängen so zusammen, daß sich wohl nicht leicht eine Gräntze wird angeben lassen, die zwischen zweyen wäre, die Wörter, womit wir sie ausdrücken, sind nicht so beschaffen, und zwey auf einander folgende und verwandte Eigenschafften werden durch Zeichen ausgedrückt, die uns keine Verwandschafft zu erkennen geben. Man solte die Wörter philosophisch decliniren können, das ist ihre Verwandschafft von der Seite durch Veränderungen angeben können. In der Analysi nennt man einer Linie a unbestimmtes Stück x, das andere nicht y wie im gemeinen Leben, sondern a – x. Daher hat die mathematische Sprache so große Vorzüge für der gemeinen.
Es kan ohnstreitig Creaturen geben, deren Organe so fein sind, daß sie nicht im Stande sind durch einen Lichtstrahl durchzugreifen, so wie wir nicht durch einen Stein durchgreifen können, weil unsere Hände eher zerstört werden würden.
Villeicht ist ein Gedancke der Grund aller Bewegung in der Welt, und die Philosophen, welche gelehrt haben, daß die Welt ein Thier sey, sind villeicht durch diesen Weg darauf gekommen, sie haben sich villeicht nur nicht so eigentlich ausgedruckt wie sie villeicht hätten thun sollen. Unsere gantze Welt ist nichts als die Würckung eines Gedanckens von Gott auf die Materie.