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Den 5ten Novembris 1769
ОглавлениеDie Welt ist ein allen Menschen gemeiner Körper, Veränderungen in ihr bringen Veränderung in der Seele aller Menschen vor die just diesem Theil zugekehrt sind.
Träume führen uns offt in Umstände, und Begebenheiten hinein, in die wir wachend nicht leicht hätten können verwickelt werden, oder lassen uns Unbequemlichkeiten fühlen welche wir villeicht als klein in der Ferne verachtet hätten, und eben dadurch mit der Zeit in dieselben verwickelt worden wären. Ein Traum ändert daher offt unsern Entschluß, sichert unsern moralischen Fond besser als alle Lehren, die durch einen Umweg ins Hertz gehen.
Ich habe schon auf Schulen Gedancken vom Selbstmord gehegt, die den gemein angenommenen in der Welt schnur stracks entgegen liefen, und erinnere mich, daß ich einmal4 lateinisch für den Selbstmord disputirte und ihn zu vertheidigen suchte. Ich muß aber gestehen, daß die innere Ueberzeugung von der Billigkeit einer Sache (: wie dieses aufmercksame Leser werden gefunden haben) offt ihren lezten Grund in etwas duncklem hat, dessen Aufklärung äuserst schwer ist, oder wenigstens scheint, weil eben der Widerspruch, den wir zwischen dem klar ausgedruckten Satz und unserm undeutlichen Gefühl bemercken, uns glauben macht wir haben den rechten noch nicht gefunden. Im August 1769 und in den folgenden Monaten habe ich mehr an den Selbst Mord gedacht als jemals vorher, und allezeit habe ich bey mir befunden, daß ein Mensch bey dem der Trieb zur Selbst Erhaltung so geschwächt worden ist, daß er so leicht überwältigt werden kan, sich ohne Schuld ermorden könne. Ist ein Fehler begangen worden, so liegt er viel weiter zurück. Bey mir ist eine villeicht zu lebhaffte Vorstellung des Todes, seines Anfangs und wie leicht er an sich ist schuld daß ich vom Selbstmord so dencke. Alle die mich nur aus etwas gröseren Gesellschafften und nicht aus einem Umgang zu zweyt kennen werden sich wundern, daß ich so etwas sagen kan. Allein HErr Ljungberg5 weiß es, daß es eine von meinen Lieblings Vorstellungen ist mir den Tod zu gedencken, und daß mich dieser Gedancke zuweilen so einnehmen kan, daß ich mehr zu fühlen als zu dencken scheine und halbe Stunden mir wie Minuten vorübergehn. Es ist dieses keine dickblütige Selbst Creutzigung, welcher ich wider meinen Willen nachhienge, sondern eine geistige Wollust für mich, die ich wider meinen Willen sparsam geniese, weil ich zuweilen fürchte, jene melancholische Nachteulenmäßige Betrachtungsliebe möchte daraus entstehen.
Nicht da seyn heißt bey den Naturforschern, wenigstens bey einer gewissen Classe so viel als nicht empfunden werden.
Für das künfftige sorgen, muß bey Geschöpfen die das künfftige nicht kennen sonderbare Einschränckungen leiden. …
Der Bauer, welcher glaubt, der Mond sey nicht gröser als ein Pflug Rad, denckt niemals daran daß in einer Entfernung von einigen Meilen eine gantze Kirche nur wie ein weiser Fleck aussieht, und daß der Mond hingegen immer gleich groß scheint, was hemmt bey ihm diese Verbindung von Ideen, die er eintzeln alle hat? Er verbindet in seinem gemeinen Leben auch wircklich Ideen villeicht durch künstlichere Bande, als diese. Diese Betrachtung solte den Philosophen aufmercksam machen, der villeicht noch immer der Bauer in gewissen Verbindungen ist. Wir dencken früh genug aber wir wissen nicht daß wir dencken, so wenig als wir wissen daß wir wachsen oder verdauen, viele Menschen unter den gemeinen erfahren es niemals. Eine gnaue Betrachtung der äusseren Dinge führt leicht auf den betrachtenden Punckt, uns selbst, zurück und umgekehrt wer sich selbst einmal erst recht gewahr wird geräth leicht auf die Betrachtung der Dinge um ihn. Sey aufmercksam, empfinde nichts umsonst, messe und vergleiche; dieses ist das gantze Gesetz der Philosophie.
Was ist es, das macht, daß wir uns zuweilen eines geheimen Kummers standhafft entschlagen können, da die Vorstellung, daß wir unter dem Schutz einer höchstgütigen Vorsicht stehen, die gröste Würckung auf uns hat, und dennoch offt in der nächsten halben Stunde diesem nemlichen Kummer beynah unterliegen. Mit mir ist es wenigstens so, ohne daß ich sagen könte, daß ich bey der 2ten Vorstellung meinen Kummer von einer neuen Seite betrachte, andere Relationen einsehe, nichts weniger. Fände dieses statt, so würde ich diese Anmerckung nicht einmal niedergeschrieben haben. Ich glaube vielmehr, daß die moralische Empfindlichkeit im Menschen zu unterschiedenen Zeiten verschieden ist, des Morgends stärcker als des Abends.
Es donnert, heult, brüllt, zischt, pfeift, braust, saußt, summet, brummet, rumpelt, quäckt, ächzt, singt, rappelt, prasselt, knallt, rasselt, knistert, klappert, knurret, poltert, winselt, wimmert, rauscht, murmelt, kracht, gluckset, röcheln, klingelt, bläset, schnarcht, klatscht, lispeln, keuchen, es kocht, schreyen, weinen, schluchzen, krächzen, stottern, lallen, girren, hauchen, klirren, blöcken, wiehern, schnarren, scharren, sprudeln. Diese Wörter und noch andere, welche Töne ausdrücken, sind nicht blose Zeichen, sondern eine Art von Bilderschrifft für das Ohr.
Das Zurücktretten von Personen die hefftig mit andern zancken kan zuweilen seinen Grund in einer Furcht vor der eigenen Unenthaltsamkeit anzeigen. …
Menschliche Philosophie überhaupt ist die Philosophie eines eintzelnen gewissen Menschen durch die Philosophie der andern selbst der Narren corrigirt und dieses nach den Regeln einer vernünfftigen Schätzung der Grade der Wahrscheinlichkeit. Sätze worüber alle Menschen übereinkommen sind wahr, sind sie nicht wahr, so haben wir gar keine Wahrheit. Andere Sätze für wahr zu halten zwingt uns offt die Versicherung solcher Menschen, die in der Sache viel gelten, und jeder Mensch würde das glauben, der sich in eben den Umständen befände, so bald dieses nicht ist, so ist eine besondere Philosophie und nicht eine die in dem Rath der Menschen ausgemacht ist, Aberglaube selbst ist Local Philosophie, er giebt seine Stimme auch.
Weiser werden heißt immer mehr und mehr die Fehler kennen lernen, denen dieses Instrument, womit wir empfinden und urtheilen, unterworfen seyn kan. Vorsichtigkeit im urtheilen ist was heut zu tage allen und jeden zu empfehlen ist. Gewönnen wir alle 10 Jahre nur eine unstreitige Wahrheit von jedem philosophischen Schrifftsteller, so wäre unsere Erndte immer reich genug.
Es giebt Menschen, die sogar in ihren Worten und Ausdrücken etwas eigenes haben, (die meisten haben wenigstens etwas, das ihnen eigner ist) da doch Redensarten durch eine lange Mode so und nicht anders sind, solche Menschen sind allzeit einer Aufmercksamkeit würdig, es gehört viel Selbstgefühl und Unabhängigkeit der Seele [dazu] bis man so weit kommt. Mancher fühlt neu und sein Ausdruck womit er dieses Gefühl andern deutlich machen will ist alt.
Den Männern in der Welt haben wir so viel seltsame Erfindungen in der Dichtkunst zu dancken, die alle ihren Grund in dem Erzeugungstrieb haben, alle die Ideale von Mädchen und dergleichen. Es ist Schade, daß die feurigen Mädchen nicht von den schönen Jünglingen schreiben dürfen wie sie wohl könten, wenn es erlaubt wäre. So ist die männliche Schönheit noch nicht von denjenigen Händen gezeichnet, die sie allein recht mit Feuer zeichnen könten. Es ist wahrscheinlich, daß das geistige, was ein paar bezauberte Augen in einem Körper erblicken, der sie bezaubert hat, gantz von einer andern Art sich den Mädchen in männlichen Körpern zeigt, als es sich dem Jüngling in weiblichen Körpern entdeckt.
Es ist zum Erstaunen, wie wenig dasjenige offt, was wir für nützlich halten, und was auch leicht zu thun wäre, doch von uns gethan wird. Die Begierde, geschwind viel wissen zu wollen, hindert offt die gnauen Untersuchungen, allein es ist selbst dem Menschen, der dieses weiß, sehr schwer etwas gnau zu prüfen, da er doch weiß, er kommt auch nicht zu seinem Endzwecke viel zu lernen, wenn er nicht prüft.
1 Leibniz’ Idee einer auf der logischen Beziehung der Begriffe zueinander bestehenden Erkenntnismethode, die sich einer entsprechend aufgebauten Universalsprache bedienen müßte.
2 Ein zeitgenössisches Buch diskutierte die ›Kunsttriebe‹, d.h. angebliche Kunst-Instinkte, der Tiere.
3 Statt »größten«?
4 Als Gymnasiast.
5 Lichtenbergs intimster Studienfreund.