Читать книгу Hegels "Phänomenologie des Geistes". Ein systematischer Kommentar - Georg W. Bertram - Страница 11
Detaillierter Kommentar
ОглавлениеHegel beginnt das große Buch damit, dass er von einer »natürlichen Vorstellung« spricht. Er erläutert sie folgendermaßen:
Es ist eine natürliche Vorstellung, dass, eh in der Philosophie an die Sache selbst, nämlich an das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist, gegangen wird, es notwendig sei, vorher über das Erkennen sich zu verständigen, das als das Werkzeug, wodurch man des Absoluten sich bemächtige, oder als das Mittel, durch welches hindurch man es erblicke, betrachtet wird. (71/68)
Es liegt nahe zu denken, dass Hegel erst einmal philosophische Positionen kritisiert, mit denen er sich auseinandersetzt, so zum Beispiel – wie bereits angeführt – die Positionen seiner Vorgänger Kant, Fichte und Schelling. Auch andere neuzeitliche Philosophen wie Descartes, Locke, Leibniz und Hume könnten als Positionen verstanden werden, mit denen Hegel gleich zu Beginn eine kritische Abrechnung vornimmt. So könnte er die These vertreten, dass manche oder alle dieser Philosophien einer natürlichen Vorstellung folgen, die es aber zu überwinden gelte (oder so ähnlich).
Genau das macht Hegel aber nicht. Er spricht nicht von unterschiedlichen philosophischen Positionen beziehungsweise einem bestimmten Typ von philosophischen Positionen. Vielmehr spricht er – im Sinne einer Reflexion darauf, was es heißt, mit einer philosophischen Reflexion anzufangen – von einem oftmals selbstverständlich gesetzten Ausgangspunkt. Viele Philosophien gehen demnach davon aus, dass die erste Aufgabe (der theoretischen Philosophie) in einer Analyse des Erkennens besteht. Dieser Ausgangspunkt lässt sich knapper fassen, wenn man sagt, dass Philosophie einer gängigen Auffassung zufolge Erkenntniskritik leisten soll. Demnach gibt es auf der einen Seite das Erkennen (die menschlichen Erkenntnisvermögen) sowie auf der anderen Seite das (von diesen Vermögen) Erkannte, und es muss zuerst geklärt werden, welche Mittel das Erkennen zur Verfügung hat, um Zugang zu dem zu bekommen, was erkannt werden soll. Das, was erkannt werden soll, ist die unabhängig von erkennenden Wesen bestehende Realität. Hegel spricht hier knapp von dem Absoluten. Absolut ist die Realität, weil sie losgelöst von uns als erkennenden Wesen Bestand hat. Das Erkennen – also die Kräfte in uns Subjekten, die uns erkenntnisfähig machen – wird, wie Hegel sagt, immer wieder als ein Werkzeug oder ein Mittel (beziehungsweise Medium) verstanden, das den Zugang zur Realität ermöglichen soll. Die natürliche Vorstellung besagt also, dass die Realität auf der einen Seite steht und das Subjekt mit seinen Erkenntniskräften auf der anderen und dass es zuerst zu klären gilt, in welcher Weise die Erkenntniskräfte uns Zugang zur Realität verschaffen.
Was kritisiert Hegel nun an dieser Vorstellung? Er sagt es deutlich im zweiten Absatz. Seine Kritik besteht erst einmal nicht darin, dass die Vorstellung falsch ist (auch wenn er am Ende zweifelsohne zu dieser Auffassung kommt). Vielmehr besagt sie in erster Linie, dass unbegründete Voraussetzungen im Spiel sind. Er formuliert folgendermaßen:
Sie [die Furcht zu irren, wenn man nicht zuerst die Möglichkeiten des Erkennens untersucht] setzt nämlich Vorstellungen von dem Erkennen als einem Werkzeuge und Medium, auch einen Unterschied unserer selbst von diesem Erkennen voraus; vorzüglich aber dies, dass das Absolute auf einer Seite stehe, und das Erkennen auf der andern Seite für sich und getrennt von dem Absoluten doch etwas Reelles, […]. (72 f./69 f.)
Wer denkt, dass die Philosophie mit Erkenntniskritik zu beginnen habe, macht also die Voraussetzung, dass es zwei Seiten gibt: die Seite des für sich bestehenden Objekts und die Seite des erkennenden Subjekts. Das Subjekt ist getrennt vom Objekt: Diese These wird von erkenntniskritischen Überlegungen vorausgesetzt. Aber wie ist diese These begründet? Woher weiß eine erkenntniskritische Philosophie, dass diese These gilt? Sie weiß es nicht – sie muss es unhinterfragt voraussetzen. Hegel spricht in diesem Sinn von einer »leere[n] Erscheinung des Wissens« (74/71). Die Erscheinung des Wissens ist deshalb leer, weil zentrale Begriffe wie die des Objekts oder des Subjekts nicht bestimmt worden sind, sondern einfach unbestimmt an den Anfang gesetzt werden. Damit führt sich das Projekt der Erkenntniskritik aber selbst ad absurdum. Es ist keine kritische Reflexion über die Möglichkeiten des Erkennens, sondern ein Sammelsurium unkritischer Behauptungen darüber, wie das Verhältnis von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt beschaffen ist. Hegel beginnt damit in diesem Sinn seine Überlegungen mit einer Kritik des Projekts der Erkenntniskritik.
Es geht ihm also nicht primär darum, bestimmte Philosophien zu kritisieren. Seine Kritik richtet sich weder primär gegen Kant noch gegen Fichte oder – was man auch immer wieder vermutet hat – gegen Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819), einen Zeitgenossen, der eine spiritualistische philosophische Position in Anlehnung an Spinoza vertrat. Zwar ist es sicher richtig, dass alle diese Philosophen erkenntniskritische Ansätze verfolgen (und insofern auch von Hegels Kritik der Erkenntniskritik getroffen werden). Sie teilen dies mit nahezu allen anderen Philosophien, die in der Neuzeit und auch bereits in der Antike formuliert worden sind (und auch, nebenbei bemerkt, mit einer großen Zahl der Philosophien, deren Zeitgenossinnen und Zeitgenossen wir sind). Hegel geht es jedoch um den erkenntniskritischen Ansatz als solchen, den er zu überwinden trachtet.
Somit haben wir eine erste Idee davon gewonnen, wie die einleitende Kritik Hegels zu verstehen ist. Sie hat, von Anfang an, eine positive Seite, die folgendermaßen artikuliert werden kann: Hegel will nicht mit unbegründeten Voraussetzungen beginnen. Er erläutert dies auch mit Blick auf den Gehalt der zentralen Begriffe (wie derjenigen von Subjekt, Objekt, dem unabhängigen Bestehen des Objekts oder dem Erkennen im Unterschied zum Erkannten): Er will diesen Gehalt, wie er sagt, »geben« (74/71), das heißt: er will ihn entwickeln und nicht voraussetzen.
Hegels Kritik des Projekts der Erkenntniskritik macht selbstverständlich noch nicht klar, wie er selbst sich den Anfang des Philosophierens vorstellt. Dieser Frage wendet er sich im vierten Absatz der Einleitung zu. Gerade hier ist der Text recht kurzatmig und erklärt nicht allzu viel. Nachdem Hegel festgehalten hat, dass unbegründete Voraussetzungen genau das sind, was durch Wissenschaft und damit durch Philosophie überwunden werden soll, heißt es: »Aber die Wissenschaft darin, dass sie auftritt, ist sie selbst eine Erscheinung; ihr Auftreten ist noch nicht sie in ihrer Wahrheit ausgeführt und ausgebreitet.« (74/71) Es ist entscheidend zu klären, was Hegel hier sagen will. Ich schlage vor, ihn folgendermaßen zu verstehen: Wissenschaft ist immer mit Wissensansprüchen verbunden. Wenn diese erhoben werden, ist aber noch nicht klar, ob sie auch tatsächlich eingelöst werden. Das ist zunächst immer eine offene Frage. In diesem Sinne ist Wissenschaft zuerst einmal eine Erscheinung: ein Erheben von Wissensansprüchen, die in der Folge geprüft werden müssen.
Aus diesem Grund stellt Hegel auch nicht zu Beginn ein anderes Projekt gegen das Projekt der Erkenntniskritik. Er sagt in Bezug auf ein solches mögliches Vorgehen in aller Deutlichkeit: »ein trockenes Versichern gilt aber gerade soviel als ein anderes.« (74/71) Wissenschaft kann sich so nicht damit zufriedengeben, dass sie eine bestimmte Position bezieht. Genau darin ist sie eine bloße Erscheinung, wie Hegel sagt, bloß ein trockenes Versichern – oder anders gesagt: bloß ein erhobener Wissensanspruch. Wissensansprüche aber müssen eingelöst werden. Sie müssen sich anderen gegenüber bewähren. Wissenschaft ist eine Praxis, in der Wissensansprüche nicht einfach für sich stehen, sondern zu überprüfen sind. Eine entsprechende Überprüfung aber kann es nur dann geben, wenn das Wissen als Wissen thematisiert werden kann. Nur dann kann sich zeigen, ob erhobene Wissensansprüche auch eingelöst werden. Wissenschaft ist, kurz gesagt, notwendig mit einem Wissen vom Wissen verbunden. Wissenschaft ist nicht nur das Projekt, Wissen zu erlangen, sondern auch das Projekt, Wissen als Wissen zu thematisieren. In der Wissenschaft geht es um ein Wissen vom Wissen, um ein höherstufiges Wissen – ein Wissen, das sich als Wissen weiß. Drückt man es in dieser Weise aus, ist leicht zu sehen, dass Hegel nicht einfach allgemein von Wissenschaft spricht, sondern Wissenschaft in spezifischer Weise versteht: als Philosophie. Die Ausführungen Hegels zur Wissenschaft handeln von Philosophie, präsentieren also Philosophie als Wissenschaft par excellence.
Wissenschaft in diesem Sinn beginnt damit, dass von Positionen Wissensansprüche erhoben werden und dabei ein bestimmtes Verständnis davon vertreten wird, was Wissen ist. Solche Positionen werden immer in konkreter Weise auf etwas bezogen. Sie sind mit spezifischen historischen Umständen verbunden, mit körperlichen Aktivitäten und Interaktionen von Subjekten innerhalb von Gemeinschaften. Wissenschaft ist dabei, wie erläutert, insofern eine Erscheinung, als die erhobenen Wissensansprüche immer einem kritischen Blick unterworfen werden müssen, was in einem Prozess des immer neuen Überprüfens von Wissensansprüchen geschieht. So kann man die erste positive Angabe verstehen, die Hegel macht und der zufolge »diese Darstellung nur das erscheinende Wissen zum Gegenstande hat« (75/72). Die PhG ist also eine Darstellung davon, wie unterschiedliche Ansprüche, ein Wissen vom Wissen zu haben, an sich selbst scheitern und inwiefern daraus Rückschlüsse für ein angemessenes Wissen vom Wissen gezogen werden können.
Damit gewinnen wir zugleich ein erstes Verständnis der wiederkehrenden Rede von einem Weg: Es geht Hegel darum, ein Wissen, das sich als Wissen weiß, in angemessener Weise zu entfalten. Dies soll dadurch geleistet werden, dass unterschiedliche Varianten des Wissens vom Wissen als einseitig verständlich gemacht werden, also als solche, die an ihren Wissensansprüchen scheitern. Dadurch sollen sich zunehmend Konturen eines angemessenen Wissens vom Wissen ergeben. Heidegger schreibt sehr treffend, dass der Weg, den Hegel sich vornimmt, nicht als eine Reisebeschreibung durch das »Museum der Gestalten des Bewußtseins«14 zu verstehen ist. Vielmehr geht es um eine sukzessive Befragung von Einseitigkeiten, die ein Wissen vom Wissen verhindern.
Hegel charakterisiert im Anschluss den Weg, den er sich vornimmt, mit zwei weiteren Formulierungen, die beide auf ihre Weise klärend sind. Er charakterisiert ihn als den »Weg des natürlichen Bewusstseins, das zum wahren Wissen dringt« (75/72), und als »Weg der Verzweiflung« (75/72). Das »natürliche Bewusstsein«, von dem Hegel hier spricht, ist nicht mit der »natürlichen Vorstellung« zu verwechseln, die am Anfang der Einleitung steht. Wie wir gesehen haben, ist die »natürliche Vorstellung« eine solche, die Hegel überhaupt nicht für natürlich hält. Er ist vielmehr der Meinung, dass in dem Projekt der Erkenntniskritik viele unbegründete und überhaupt nicht selbstverständliche Voraussetzungen stecken. Hegels Charakterisierung der Vorstellung als »natürlich« ist also als ironisch zu verstehen. Seine Rede von einem »natürlichen Bewusstsein« ist hingegen nicht ironisch. Sie bezeichnet vielmehr ein einfaches Wissen vom Wissen im Sinne eines Wissensanspruchs, der besonders voraussetzungslos vertreten wird.
In dieser Erläuterung steckt eine entscheidende These, die Hegel mit vielen seiner Vorläufer teilt: Jedes Bewusstsein ist ein Wissen vom Wissen. Bewusstsein ist immer Selbstbewusstsein. Dies hat bereits Descartes behauptet,15 und alle wesentlichen neuzeitlichen Positionen sind ihm darin gefolgt. Hegel macht damit noch einmal deutlich, dass es ihm nicht darum geht, seinen Vorgängern einfach eine andere Position entgegenzusetzen. Er will vielmehr von gegebenen Positionen ausgehend eine Position entwickeln, die nicht mehr an ihren Wissensansprüchen scheitert. Das natürliche Bewusstsein ist als ein selbstverständlich erhobener Wissensanspruch ein geeigneter Ausgangspunkt, um zu diesem Punkt zu gelangen.
Auf der Basis des bislang Geklärten lässt sich auch verstehen, was Hegel meint, wenn er von einem »Weg der Verzweiflung« spricht. Es handelt sich um einen Weg, in dem zunehmend die Selbstverständlichkeit, Wissensansprüche zu erheben, verlorengeht. In diesem Sinn verzweifelt das natürliche Bewusstsein. Diese Verzweiflung ist dabei nicht einfach ein theoretisches Geschehen, sondern hat eine existentielle Dimension. In dem Maße, in dem das Erheben von Wissensansprüchen für uns immer selbstverständlich ist und auf selbstverständliche Weise vollzogen wird, sind wir es, die verzweifeln. Die PhG behandelt unterschiedlichste Positionen, denen das Erheben von Wissensansprüchen in der ein oder anderen Weise selbstverständlich ist. Und da sich immer wieder Selbstverständlichkeiten in das Erheben von Wissensansprüchen einschleichen, geht die Verzweiflung immer weiter.
Hegel stellt genau in diesem Sinne einen Bezug zum Skeptizismus her, indem er von einem »sich vollbringende[n] Skeptizismus« (75/72) spricht. Der Skeptizismus ist eine Position, die besagt, dass wir nicht zu Wissen gelangen können. Es gibt ihn mindestens in einer antiken und einer neuzeitlichen Variante. Der antike Skeptizismus der pyrrhonischen Schule plädiert auf Basis der These von der Unmöglichkeit des Wissens für eine bestimmte Lebenshaltung. Hegel kommentiert diese Variante des Skeptizismus im Rahmen des Selbstbewusstseinskapitels. Der neuzeitliche Skeptizismus vertritt hingegen die These von der Unmöglichkeit des Wissens im vollen Sinne; so zum Beispiel in der Variante, die David Hume (1711–1776) vor Hegel explizit vertreten hat.16 Hegel knüpft mit seiner Bemerkung in der Einleitung mehr an dieses neuzeitliche Verständnis des Skeptizismus als an seinen antiken Vorläufer an. Dass der Skeptizismus sich vollbringt, heißt so gesehen: Das Verzweifeln an den Selbstverständlichkeiten, die bei Wissensansprüchen im Spiel sind, führt dazu, dass Wissen als eine zunehmend unsichere Sache erscheint. Genau dies aber ist eine grundsätzliche Voraussetzung von Wissen: Wissen ist nur im Durchgang durch den Skeptizismus möglich. Es muss ausgehalten werden, dass Wissen nicht endgültig abgesichert zu werden vermag. Alles Wissen muss so die Herausforderung des Skeptizismus bestehen, und zwar nicht in dem Sinne, dass der Skeptizismus widerlegt wird (wie unter anderem Kant dachte),17 sondern in dem Sinne, dass der Skeptizismus als Herausforderung aller Wissensansprüche zugelassen wird. Der Skeptizismus ist eine Bedrohung unseres Wissens; aber er wäre falsch verstanden, wenn man ihn als allein destruktiv verstünde. Konsequent betrachtet ist der Skeptizismus produktiv. Erst durch den Skeptizismus wird Wissen möglich, das Bestand hat. Hegel verkehrt damit die skeptische Doktrin: Der Skeptizismus ist für ihn eine Theorie von der Möglichkeit des Wissens, die sich gerade aus dem Abbau von Selbstverständlichkeiten ergibt. Wir können jetzt vielleicht besser verstehen, wie Hegel seine Überlegungen zusammenfasst:
Der sich auf den ganzen Umfang des erscheinenden Bewusstseins richtende Skeptizismus macht dagegen den Geist erst geschickt zu prüfen, was Wahrheit ist, indem er eine Verzweiflung an den sogenannten natürlichen Vorstellungen, Gedanken und Meinungen zustande bringt, welche es gleichgültig ist, eigene oder fremde zu nennen, und mit welchen das Bewusstsein, das geradezu ans Prüfen geht, noch erfüllt und behaftet, dadurch aber in der Tat dessen unfähig ist, was es unternehmen will. (76/73)
Die bislang nachvollzogenen Überlegungen machen auch verständlich, wie Hegel das Ziel des von ihm projektierten Weges versteht. Er sagt ja sehr deutlich: »Das Ziel aber ist dem Wissen ebenso notwendig als die Reihe des Fortganges gesteckt […].« (77/74) Das Ziel liegt dort, wo der Skeptizismus sich vollbringt, und das heißt: dort, wo Wissen gerade durch die Herausforderungen des Skeptizismus hindurch verständlich wird. Das Ziel liegt also für Hegel nicht dort, wo der Skeptizismus ausgeschaltet wurde, sondern dort, wo er sich gewissermaßen selbst verwirklicht hat.18 Das Ziel kann man in Hegels Sinn also mit folgender Frage auf den Punkt bringen: Wie kann man skeptisch sein, ohne zum Skeptiker zu werden? Die Antwort auf diese Frage kann vorläufig lauten: Man kann dies dadurch sein, dass man sich zu sich selbst immer und durchweg kritisch verhält, ohne sich und die eigenen Ansprüche dabei insgesamt aufzugeben. Wenn man sich in seinem Wissen durchsichtig geworden ist, dann weiß man, dass es einer ständigen kritischen Befragung des Wissens bedarf. Man identifiziert sich in diesem Fall auch mit der kritischen Selbstreflexion und nicht nur mit bestimmten Wissensinhalten, die man auf die ein oder andere Art und Weise erworben hat. Aus diesem Grund bleibt man auch in aller Kritik bei sich selbst. Hegel deutet in diese Richtung, das Ziel des von ihm anvisierten Weges zu verstehen, wenn er sagt:
Was auf ein natürliches Leben beschränkt ist, vermag durch sich selbst nicht über sein unmittelbares Dasein hinauszugehen; aber es wird durch ein anderes darüber hinausgetrieben, und dies Hinausgerissenwerden ist sein Tod. Das Bewusstsein aber ist für sich selbst sein Begriff, dadurch unmittelbar das Hinausgehen über das Beschränkte, und, da ihm dies Beschränkte angehört, über sich selbst; mit dem Einzelnen ist ihm zugleich das Jenseits gesetzt, wäre es auch nur, wie im räumlichen Anschauen, neben dem Beschränkten. Das Bewusstsein leidet also diese Gewalt, sich die beschränkte Befriedigung zu verderben, von ihm selbst. (77 f./74)
Mit diesen Ausführungen bezieht sich Hegel auf einen Unterschied, den unter anderem ein anderer der wichtigen Vorgänger Hegels, Johann Gottfried Herder (1744–1802), in seinen anthropologischen Überlegungen gemacht hat:19 Natürliche Lebewesen haben organische Anlagen, um in bestimmten Umgebungen lebensfähig zu sein. Sie sind in diesem Sinn unmittelbar an diese Umgebungen gebunden und auf diese beschränkt. Kommt es zu relevanten Änderungen dieser Umgebungen, zum Beispiel durch einen menschlichen Eingriff oder durch Naturkatastrophen, verändern sie sich oder gehen zugrunde. Bewusste beziehungsweise rationale Lebewesen hingegen können sich von ihren Umgebungen distanzieren. Sie können sich und ihre Umwelt befragen. Insofern ist für Menschen nichts einfach in ihrer bloßen Natur begründet, sondern immer erst dadurch, dass sie sich zu etwas verhalten. Sie können immer Fragen stellen wie: »Ist das richtig?«, oder: »Sollten wir das so machen?« Durch solche Fragen verderben sie sich, wie Hegel pointiert sagt, jede beschränkte Befriedigung. Alles, was ihnen einfach natürlich vorkommt, kann sich als unnatürlich, falsch oder anders erweisen.
Nun ist es allerdings Hegel zufolge nicht so, dass Menschen einfach von Natur aus kritikfähig sind. Sie müssen sich Kritikfähigkeit erarbeiten. In diesem Sinn spricht er davon, dass der Weg zum Wissen vom Wissen nur durch »Bildung« (76/73) zu erreichen ist (dieser Begriff wird entsprechend auch im Geistkapitel eine wichtige Rolle spielen). Er behauptet in der Einleitung damit, dass es sein Anspruch ist, das Wissen vom Wissen bis zu dem Punkt zu verfolgen, an dem wir uns in unserer – nichtnatürlichen – Konstitution als selbstkritische Wesen verständlich werden – als Wesen, die alles einer kritischen Prüfung zu unterziehen vermögen. Ist dieser Punkt erreicht, wird verständlich, dass ein Wesen bleiben kann, was es ist, auch und gerade dann, wenn es durch Selbstkritik Veränderungen anstößt. Genau diese Struktur will Hegel aufklären.
Damit lässt sich bereits ein erster Hinweis darauf gewinnen, warum die PhG immer wieder historische Entwicklungen einbezieht. Der Punkt, an dem wir uns als selbstkritische Wesen verständlich werden, ist aus Hegels Sicht als ein solcher zu verstehen, der historisch erreicht wurde – und zwar in der Moderne. Ich habe bereits in der Einführung dieses Kommentars betont, dass die Konstitutionsbedingungen eines angemessenen Wissens vom Wissen aus Hegels Sicht eine historische Dimension haben.20 Aus diesem Grund verfolgt er in dem Nachvollzug der Einseitigkeit unterschiedlicher Konzeptionen eines Wissens vom Wissen einen Weg, der zu einem modernen Standpunkt führt: zu einem sich vollbringenden Skeptizismus.21
Nachdem das Ziel des Hegelschen Projekts so weit umrissen ist, wendet sich Hegel der Frage der Methode zu und macht sich gewissermaßen selbst einen Einwand: Muss eine Untersuchung unterschiedlicher Arten und Weisen, Wissen zu verstehen, nicht auf eine Methode zurückgreifen? Wenn wir gesagt haben, dass es Hegel darum geht, die Wissensansprüche derer zu prüfen, die beanspruchen, etwas über Wissen zu wissen: Braucht eine solche Prüfung nicht bereits ein Wissen davon, wie Wissen richtig zu bestimmen ist, und in diesem Sinn einen Maßstab? In Hegels Worten klingt dieser Einwand folgendermaßen:
Diese Darstellung als ein Verhalten der Wissenschaft zu dem erscheinenden Wissen, und als Untersuchung und Prüfung der Realität des Erkennens vorgestellt, scheint nicht ohne irgendeine Voraussetzung, die als Maßstab zugrunde gelegt wird, stattfinden zu können. (78/75)
Hegel weiß, dass er aus der Perspektive von jemandem schreibt, der das Ziel bereits erreicht hat. Aus diesem Grund begreift er seine Darstellung als das »Verhalten der Wissenschaft zu dem erscheinenden Wissen«, und stellt sich vor die Frage, ob er nicht immer schon seine Erkenntnisse als Maßstab einbringen wird, wenn er irgendwelche Konzeptionen davon, was Wissen ist, in ihren Ansprüchen prüft. Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend für das Verständnis des Vorgehens in dem Buch selbst. Hegel schenkt ihr im Rahmen der Einleitung auch fast die Hälfte des Platzes. Ich will sie in zwei Schritten resümieren:
Der erste Schritt besteht darin zu verstehen, was Hegel meint, wenn er sagt, das Bewusstsein gebe »seinen Maßstab an ihm selbst« (80/76). Diese wichtige Formulierung erfordert erst einmal eine terminologische Klärung: »Bewusstsein« bedeutet, wissend zu sein. Ein Bewusstsein ist eine bestimmte Art und Weise, etwas zu wissen. Es ist hilfreich, hier den Begriff der Bewusstseinsgestalt einzuführen, der sich bei Hegel erstmals am Ende der Einleitung findet (vgl. 83/80) und der – im Anschluss an Hegels Diktion – in der Sekundärliteratur vielfach verwendet wird, um Hegels Vorgehen in der PhG zu erklären. Hegel handelt in seinem Buch, so kann man mit diesem Begriff sagen, von unterschiedlichen Bewusstseinsgestalten. Wir wissen bereits, dass diese Bewusstseinsgestalten jeweils unterschiedliche Ideen davon haben, was Wissen ist und wie man es haben kann: Sie vertreten ein unterschiedliches Wissen vom Wissen. Ich will für solche Ideen einen knappen Begriff einführen, den ich den gesamten Kommentar über verwenden werde, nämlich den Begriff der Wissenskonzeption. Jede Bewusstseinsgestalt vertritt eine spezifische Wissenskonzeption.
Wir können damit erste wichtige Konturen für den Gang der PhG festhalten: Dieser Gang bietet eine Abfolge von Bewusstseinsgestalten, also Wissenskonzeptionen. Bewusstseinsgestalten sind also nicht irgendwelche historisch realisierten einzelnen Bestände von Wissen (zum Beispiel der christliche Schöpfungsglaube oder die Newtonsche Physik). Es handelt sich vielmehr um unterschiedliche Verständnisse von Wissen – um unterschiedliche Theorien davon, was Wissen ist.
Hegel schlägt nun plausiblerweise vor zu sagen, dass eine Wissenskonzeption (eine Bewusstseinsgestalt) immer zwei Momente umfasst: Einerseits hält sie etwas Bestimmtes für Wissen, und andererseits bezieht sie sich mittels dieses Wissens auf etwas (sie hat das Wissen, das sie hat, von etwas). Sie erhebt einen Wissensanspruch und hat einen Gegenstand, auf den sie sich mit diesem Wissensanspruch bezieht. Jede Wissenskonzeption vertritt eine bestimmte Auffassung davon, wie Gegenstände, in Bezug auf die wir zu Wissen gelangen können, zu verstehen sind, und davon, was es heißt, in Bezug auf diese Gegenstände Wissen zu haben. Kurz gesagt: Eine Wissenskonzeption ist immer als eine Verbindung von einem Wissensanspruch und einer Gegenstandsauffassung zu verstehen (auch diese Begrifflichkeit werde ich im Kommentar immer wieder verwenden). Hegel sagt nun, dass wir diese beiden Seiten, die in einer Bewusstseinsgestalt notwendig zusammenhängen, jeweils als Maßstäbe füreinander verstehen können. Wir können sagen, dass die Auffassung von Gegenständen der Maßstab dafür ist, dass Wissensansprüche (»der Begriff«) eingelöst werden oder scheitern. In Hegels Worten:
Nennen wir das Wissen den Begriff, das Wesen oder das Wahre aber das Seiende oder den Gegenstand, so besteht die Prüfung darin, zuzusehen, ob der Begriff dem Gegenstande entspricht. (80/77)
Wir können aber auch den Wissensanspruch als den objektiven Maßstab verstehen und entsprechend ihn vom Gegenstand her verstehen, so dass die Gegenstandsauffassung sich als das erweist, was an einem verfolgten Wissensanspruch scheitern kann. Wiederum in Hegels Worten:
Nennen wir aber das Wesen oder das An-sich des Gegenstandes den Begriff, und verstehen dagegen unter dem Gegenstande, ihn als Gegenstand, nämlich wie er für ein anderes ist, so besteht die Prüfung darin, dass wir zusehen, ob der Gegenstand seinem Begriff entspricht. (80/77)
Die zwei Momente, die in jeder Wissenskonzeption zusammenhängen, prüfen sich, so verstanden, wechselseitig. Die Gegenstandsauffassung bildet einen Prüfstein des erhobenen Wissensanspruchs und dieser Anspruch den Prüfstein der Gegenstandsauffassung. Aus diesem Grund muss der Wissensanspruch, den eine Wissenskonzeption vertritt, nicht extern geprüft werden, sondern es kommt immer zu einer internen Prüfung. Diese Struktur wird uns den gesamten Text der PhG hindurch begleiten. Durchweg kommentiert Hegel Bewusstseinsgestalten in der Polarität, die zwischen den von ihr vertretenen Wissensansprüchen und ihren Gegenstandsauffassungen besteht.
Damit ist klar, dass die Kenntnis des Ziels keine Voraussetzung für die Prüfung von Bewusstseinsgestalten im Sinne von Wissenskonzeptionen darstellt. Jede Bewusstseinsgestalt enthält alle Momente, die für die Prüfung relevant sind. Und mehr noch: Jede Bewusstseinsgestalt vollzieht in sich selbst diese Prüfung, da sie immer ein Verständnis ihres eigenen Wissensanspruchs mitbringt. So ist – grundsätzlich (wir werden sehen, dass Hegel durchaus Ausnahmen macht) – jede Bewusstseinsgestalt in Selbstkritik begriffen und entwickelt sich von daher stets weiter. Jede Wissenskonzeption weiß, welchen Wissensanspruch sie erhebt, und kann sich insofern darin reflektieren, wie sie ein bestimmtes Verständnis des Wissens mit einer Gegenstandsauffassung verbindet. Hegel drückt dies folgendermaßen aus:
Denn das Bewusstsein ist einerseits Bewusstsein des Gegenstandes, anderseits Bewusstsein seiner selbst; Bewusstsein dessen, was ihm das Wahre ist, und Bewusstsein seines Wissens davon. (81/77)
Die Erläuterungen, mit denen Hegel die Selbstkritik von Wissenskonzeptionen in der PhG verfolgt, sind mit einem technischen Vokabular verbunden, das er bereits in den hier kommentierten Absätzen der Einleitung gebraucht. Es handelt sich um die Bezeichnungen »an sich«, »für es«, »für sich«, »für anderes« und »für uns«. Erste Erläuterungen dieser Bezeichnungen lassen sich gut auf Basis der Überlegungen zu den grundlegenden Strukturen des Bewusstseins geben.
»An sich« hat eine Bewusstseinsgestalt immer die beiden Momente, von denen bislang die Rede war, und das heißt: unabhängig davon, ob die Bewusstseinsgestalt sich von sich aus auf sie bezieht oder nicht. Wenn die Bewusstseinsgestalt sich hingegen selbst auf die Momente, die für sie wesentlich sind, bezieht, dann spricht Hegel davon, dass sie »für es« (das Bewusstsein) beziehungsweise »für sich« sind. In diesem Fall entwickelt Hegel seine Artikulationen aus der Perspektive des Bewusstseins. In anderen Fällen spricht er davon, dass »für uns« die Momente so oder so zu verstehen sind. Damit ist die Perspektive desjenigen bezeichnet, der die Entwicklung der PhG durchlaufen hat und der aus diesem Grund die jeweiligen Positionen aus dem am Ende erzielten Überblick heraus artikulieren kann. Die bislang erläuterten Bezeichnungen unterscheiden die Perspektiven, aus denen heraus die Momente einer Bewusstseinsgestalt zugänglich sind und aus denen man sich auf sie bezieht (im Sinne einer Erkenntnistheorie dieser Momente).
Die Bezeichnungen »für anderes« und korrelativ dazu auch »für sich« (in einer anderen als der eben bereits kommentierten Verwendung) beschreiben die Art und Weise, wie die Momente einer Bewusstseinsgestalt konstituiert sind (also die Ontologie der Momente). Spricht Hegel hier davon, ein Moment sei »für sich«, bedeutet dies, dass dieses Moment aus sich heraus konstituiert ist. Ist hingegen davon die Rede, ein Moment sei »für anderes«, dann ist dieses Moment nicht aus sich heraus konstituiert, sondern ist in seiner Konstitution abhängig von anderem. Hegel hält sich in seiner Analyse von Bewusstseinsgestalten streng daran, erkenntnistheoretische und ontologische Unterschiede mittels dieser Begriffe zu markieren.
Damit komme ich zum zweiten Schritt in Hegels Zurückweisung der Notwendigkeit eines externen Maßstabs, mit dem wir nachvollziehen können, inwiefern Hegel die interne Prüfung von Wissenskonzeptionen als eine immanente Kritik begreift. Aufgrund dieser Prüfung befinden sich Wissenskonzeptionen in einer Bewegung, die von Hegel folgendermaßen kommentiert wird:
Diese dialektische Bewegung, welche das Bewusstsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird. (82/78)
Ich habe oben schon bemerkt, dass diese Thesen Hegels erst einmal sehr irritierend sind. Geht es um Wissen, begreifen wir mögliche Anpassungen unserer Überzeugungen nicht so, dass sich mit unseren Überzeugungen auch die Gegenstände unserer Überzeugungen ändern. Normalerweise gehen wir vielmehr davon aus, dass Gegenstände bei einer Änderung unserer Wissensansprüche gleich bleiben. Hegel kann schlecht so verstanden werden, dass er an dieser Trivialität uneingeschränkt rütteln will.22 Stellen wir aber in Rechnung, dass es Hegel darum geht, ein angemessenes Wissen vom Wissen zu begründen und dass er aus diesem Grund Wissenskonzeptionen durchgeht, kann man ihm erst einmal den folgenden Gedanken zuschreiben: Mit jeder Veränderung von Wissenskonzeptionen kommen auch neue Gegenstandsauffassungen zustande. Wissenskonzeptionen haben unterschiedliche Auffassungen davon, was Gegenstände des Wissens sind. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich von Wissenskonzeption zu Wissenskonzeption das, was als Gegenstand gilt, ändert. Hegels These hat damit einen klaren Sinn: Sie besagt, dass jeweils mit einer neuen Wissenskonzeption auch eine neue Gegenstandsauffassung zustande kommt.
Dabei entstehen Gegenstandsauffassungen nicht einfach so neu. Die neuen Gegenstandsauffassungen reflektieren vielmehr die Probleme, die sich in alten Gegenstandsauffassungen ergeben haben. Gegenstandsauffassungen entwickeln sich auseinander. In diesem Sinn sagt Hegel: »Dieser neue Gegenstand enthält die Nichtigkeit des ersten, er ist die über ihn gemachte Erfahrung.« (82/79)
Die Veränderung von Wissenskonzeptionen und damit von Gegenstandsauffassungen ist aber nicht nur eine theoretische, abstrakte Angelegenheit. Mit Gegenstandsauffassungen verändern sich vielmehr auch die Gegenstände selbst. Insofern rüttelt Hegel durchaus an der Einschätzung, Gegenstände seien einfach aus sich heraus als Gegenstände des Wissens zu verstehen. Für unser Wissen von Gegenständen sind Gegenstandsauffassungen grundlegend. Mit Letzteren also verändern sich durchaus auch die Gegenstände, von denen wir Wissen zu erlangen suchen.
Der Erfahrungsbegriff, den Hegel auch in dieser These verwendet, scheint der Interpretation, die ich bislang entwickelt habe, zu widersprechen. Ist Erfahrung nicht das, was sich in Auseinandersetzung mit einzelnen Gegenständen vollzieht? Von Erfahrung reden wir doch normalerweise dann, wenn wir lernen, dass Herdplatten heiß sein können oder dass es in Kollegien zu unüberbrückbaren Spannungen kommen kann. Erfahrungen sind in diesem Sinn empirisch: Sie resultieren aus unserer Konfrontation mit Sachverhalten in der Welt.
Es ist wichtig zu erkennen, dass Hegel Erfahrung primär jedoch nicht in dieser Weise versteht. Erfahrung ist für ihn daran gebunden, dass Wissen sich verändert. Eine Veränderung des Wissens aber vollzieht sich dadurch, dass unser Wissen vom Wissen eine neue Gestalt annimmt. Erst dadurch können wir den bloßen Anschein von Veränderung (»ein trockenes Versichern«) von einer echten Veränderung unterscheiden. Erfahrung ist insofern aus Hegels Sicht immer an die Widersprüche gebunden, die sich in Wissenskonzeptionen ergeben. Sie resultiert nicht aus der Konfrontation mit bloßen Gegenständen, sondern daraus, dass Wissensansprüche sich an den in Gegenstandsauffassungen gegebenen Gegenständen nicht bewähren. Erfahrung setzt insofern die Spannung voraus, die nach Hegels Verständnis alles Bewusstsein ausmacht. Sie ist – um es kurz zu sagen – nicht empirisch, sondern dialektisch-spekulativ.23
Die Widersprüche, auf denen die dialektisch-spekulative Struktur der Erfahrung beruht, sind dabei nicht einfache Widersprüche, die sich leicht ausräumen lassen (in dem Sinne, dass wir einfach eine der Thesen, die im Widerspruch zueinander stehen, fallenlassen), sondern es handelt sich um Widersprüche, die uns gerade aufgrund ihrer gewissen Unlösbarkeit (es wird noch zu klären sein, inwiefern hier von einer »gewissen Unlösbarkeit« die Rede ist) zu einer Weiterentwicklung unseres Denkens veranlassen.24 Erfahrungen führen so dazu, dass wir unsere Begriffe verändern; sie greifen in unser Denken ein. Wenn ich mit Hegel davon spreche, dass Erfahrung damit dialektisch bestimmt ist, heißt dies: Erfahrung ist der Prozess immanenter Kritik, in dem sich aus einem Widerspruch von zwei für uns grundlegenden Verständnissen ein neues Verständnis ergibt, in dem dieser Widerspruch auf eine neue Ebene gehoben wird.
Um ein Beispiel zu geben: Wir machen eine Erfahrung, wenn wir erkennen, dass die Bestimmungen des Menschen als eines Sinnenwesens und eines geistigen Wesens sich widersprechen, und aus dieser Einsicht heraus eine neue Konzeption des Menschen entwickeln, zum Beispiel die Konzeption des Menschen als eines unbestimmten Wesens, eines »nicht festgestellten Tiers«, wie Nietzsche sagt.25 Hegel spricht oft davon, dass wir die widersprüchlichen Bestimmungen in der neuen Bestimmung aufheben. Der Begriff der Aufhebung wird immer wieder als einer der zentralen methodischen Begriffe von Hegels Philosophie angesehen. Zwar spielt dieser Begriff in der PhG keine besonders prominente Rolle. Man kann ihn aber heranziehen, um das Verständnis der immanenten Kritik, das die PhG verfolgt, zu artikulieren. Demnach hebt eine neue Bestimmung die Widersprüche alter Bestimmungen dahingehend auf, dass sie (a) diese alten Bestimmungen überwindet, dass sie (b) diese alten Bestimmungen dabei zugleich bewahrt und dabei (c) eine neue Ebene begründet. Aufhebung ist ein in diesem Sinne jeweils dreifaches Geschehen – und Dialektik eine Theorie der Produktivität der Widersprüche.
Hegels Begriff der Erfahrung ist im Rahmen dieser Theorie zu verstehen. Erfahrung kommt demnach dadurch zustande, dass die theoretischen Begriffe, in denen Menschen ihr Wissen artikulieren und somit Wissen von ihrem Wissen haben, sich weiterentwickeln. Wer im Sinne Hegels Erfahrungen macht, entwickelt sich in seinem Wissen über sich und damit über die Welt weiter. Er verändert damit sein Wissen über sich und über die Welt. Man kann sagen, dass Hegel somit Erfahrung als Realisierung von Selbstkritik (in dem oben erläuterten Sinn) versteht. Er vertritt damit einen anspruchsvollen Begriff von Erfahrung, dem zufolge nicht ein bloßer Erwerb von Wissen, sondern eine kritische Reflexion von Wissen Erfahrung ausmacht. Aus einer solchen Reflexion resultiert dabei nicht »ein leeres Nichts« (83/80), sondern kommt ein spezifisches neues Wissen über das eigene Wissen zustande: also eine neue Wissenskonzeption (im Kapitel zum absoluten Wissen wird sich zeigen, dass sich eine Veränderung von Wissenskonzeptionen durchaus auch als ein Aspekt einer Auseinandersetzung mit Gegenständen in der Welt verstehen lässt).
Hier wird noch einmal deutlich, inwiefern Hegels »sich vollbringender Skeptizismus« sich von einem substantiellen Skeptizismus unterscheidet. Letzterer behauptet eine Unmöglichkeit von Wissen. Nach gängigem Verständnis formuliert er gerade in seiner neuzeitlichen Variante skeptische Hypothesen (zum Beispiel im Sinne der Frage: »Kannst du aus deiner Bewusstseinsperspektive heraus ausschließen, ein Gehirn im Tank zu sein, das in raffinierter Art und Weise zu den Bewusstseinseindrücken stimuliert wird, die du hast?«) und macht geltend, dass diese Hypothesen nicht ausgeschlossen werden können. Solange dies aber so ist, gebe es, streng genommen, kein Wissen. Hegels dialektische Widersprüche, die den Prozess der Erfahrung vorantreiben, funktionieren jedoch nicht wie skeptische Hypothesen. Sein Skeptizismus ist vielmehr der Prozess, in dem immer mehr Bestimmungen, die wir für feststehend zu halten geneigt sind, sich als für sich genommen unhaltbar erweisen, so dass ein komplexerer begrifflicher Horizont gewonnen werden muss, innerhalb dessen diese Bestimmungen (in dem erläuterten Sinn) aufgehoben sind. Die Unhaltbarkeit der Bestimmungen führt nicht zu ihrer bloßen Negation. Sie führt vielmehr zu einer Weiterentwicklung von Bestimmungen, in der die unhaltbaren Bestimmungen in veränderter Form weiter Bestand haben. Aus dieser Entwicklung heraus hängen alle Bestimmungen, in denen wir unser Wissen artikulieren, grundlegend zusammen.
Hegels Begriff von Erfahrung ist dabei durchaus auch als ein kritischer Begriff zu verstehen. Kritisiert werden all diejenigen Haltungen, in denen man sich einer Selbstkritik verweigert. Wer sich mit der Welt nur deshalb auseinandersetzt, um Bestätigung für seine sowieso schon bestehenden Überzeugungen zu gewinnen, kann die für sein Verständnis von Wissen konstitutiven Zusammenhänge mit anderen Verständnissen nicht nachvollziehen und wird so gegenüber den eigenen Einseitigkeiten blind. Er verliert damit auch den Kontakt zur Welt als der Instanz, die entsprechende Einseitigkeiten immer wieder herausfordert.
Damit haben wir die Einleitung jetzt so weit durchdrungen, dass wir uns ihrem Ende nähern können:
Die Erfahrung, welche das Bewusstsein über sich macht, kann ihrem Begriffe nach nichts weniger in sich begreifen als das ganze System desselben, oder das ganze Reich der Wahrheit des Geistes, so dass die Momente derselben in dieser eigentümlichen Bestimmtheit sich darstellen, nicht abstrakte, reine Momente zu sein, sondern so, wie sie für das Bewusstsein sind, oder wie dieses selbst in seiner Beziehung auf sie auftritt, wodurch die Momente des Ganzen, Gestalten des Bewusstseins sind. (84/80)
Hegel wiederholt hier noch einmal zwei zentrale Thesen, die er in der Einleitung vertritt: Die Wissenskonzeptionen, die von Menschen vertreten werden, hängen systematisch darin zusammen, dass sie jeweils den Ausschnitt eines Bildes darstellen, das sich erst durch die Entwicklung der Widersprüche, die in diesen Wissenskonzeptionen im Spiel sind, zusammensetzt. Hegel vertritt so erstens die These, dass sich aus der Entwicklung der Widersprüche ein Zusammenhang ergibt. Und er vertritt zweitens die These, dass dieser Zusammenhang ein Ziel kennt.
Dieses Ziel wird bereits in der Einleitung mit dem berüchtigten Begriff des »absoluten Wissens« (84/81) markiert: Die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins, die Wissenschaft von der erscheinenden Wissenschaft vollendet sich mit dem »absoluten Wissen«. Das klingt so, als steuere Hegel auf einen endgültigen Abschluss zu, auf eine nicht mehr zu überbietende Gestalt des Wissens. Wir haben aber gesehen, dass das Ziel der Entwicklung, die Hegel in der PhG verfolgt, ganz anders verstanden werden kann: Es handelt sich um das Ziel, an dem Wissen sich als eine in einem produktiven Sinne unsichere, grundsätzlich mit Selbstkritik verbundene Praxis durchsichtig geworden ist. Hier ist eine Wissenskonzeption erreicht, die auch die Revision der Verständnisse von Wissen als notwendigen Teil des Gewinnens von Wissen verstehen kann und die sich aus diesem Grund in allen weiteren Revisionen gerade nicht mehr verändert, sondern – wie Hegel gerne sagt – in ihnen bei sich bleibt. Diese Wissenskonzeption ist ein Abschluss, der aus sich heraus mit weiterer Entwicklung verbunden ist.