Читать книгу Hegels "Phänomenologie des Geistes". Ein systematischer Kommentar - Georg W. Bertram - Страница 7

Die zentralen Fragen und Thesen der PhG

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Nähert man sich der PhG inhaltlich, so ist es hilfreich, den Hintergrund in den Blick zu nehmen, vor dem Hegel schreibt: die rasante Entwicklung der Philosophie in deutscher Sprache. Im Jahr 1781 hat Kant mit seiner Kritik der reinen Vernunft nicht weniger als die philosophische Moderne eingeläutet. Der epochale Ansatz Kants ist von seinen Zeitgenossen unter anderem dadurch gewürdigt worden, dass rasch nach ihm eine intensive Debatte über Weiterentwicklungen seiner Transzendentalphilosophie zustande kam. Hier spielten die bereits mehrfach erwähnten Fichte und Schelling eine entscheidende Rolle, da beide im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts mehrere Hauptwerke publizierten. Auf Fichtes und Schellings Weiterentwicklungen der modernen Philosophie Kants antwortete nun seinerseits Hegel mit der PhG. So können wir fragen, an welche Elemente des Diskussionszusammenhangs zwischen Kant und Schelling Hegel in besonderer Weise anknüpft.

Ich schlage vor, bei den Kantischen Grundgedanken der Selbstbegrenzung des menschlichen Wissens sowie der Selbstbestimmung als Form menschlichen Handelns anzusetzen. Das Ziel von Kants Transzendentalphilosophie besteht unter anderem darin zu zeigen, dass alle Erkenntnis von Menschen in Formen vonstattengeht, mit denen Menschen in ihrem Erkennen die Natur konfrontieren, so dass der menschlichen Erkenntnis in doppelter Weise Grenzen gesetzt sind: Erstens bedürfen Menschen einer Welt, die ihnen sinnlich begegnet, um überhaupt etwas erkennen zu können, und zweitens sind bei ihrem Erkennen immer Formen im Spiel, die es ihnen unmöglich machen, ein Wissen davon zu erlangen, wie die Welt, vom Gottesstandpunkt aus betrachtet, beschaffen ist. Diese Selbstbegrenzung menschlichen Wissens hat für Kant die positive Kehrseite, dass Menschen als Wesen verständlich werden, die eigenen Bestimmungen folgen. Insofern schafft die Selbstbegrenzung aus Kants Sicht Raum für den Gedanken der Selbstbestimmung von Menschen in ihrem Handeln. Es ist dabei wichtig zu beachten, dass es Kant nicht um zwei voneinander getrennte Elemente geht. Kant verfolgt insgesamt das Vorhaben, den spezifischen kognitiven Standpunkt sinnlicher Wesen, die erkenntnisfähig sind, zu erklären. Die Selbstbegrenzung des Wissens und die vernünftige Selbstbestimmung sind aus seiner Sicht für eine solche Erklärung entscheidend.

Die beiden Grundelemente des Kantischen Denkens sind sowohl von Fichte als auch von Schelling weiterentwickelt worden. Dabei ging es ihnen jeweils darum, Kant dafür zu kritisieren, dass er diese Elemente nicht plausibel genug ausbuchstabiert habe. Hegel setzt mit seiner kritischen Fortsetzung der Bestimmung dieser Elemente anders an: Es geht ihm nicht primär darum, dem Geist der Kantischen Elemente besser gerecht zu werden, als Kant es aus seiner Perspektive getan hat, sondern er fragt, wes Geistes Kind die Elemente sind, die Kant geltend macht. Das heißt: Hegel will die Grundlage für die Auseinandersetzung mit den von Kant aufgeworfenen Fragen klären. Er will die Voraussetzungen, die Kant mit seinem Neuansatz gemacht hat, hinterfragen und auf diese Weise erhellen, wie man überhaupt dazu kommt, so zu denken, wie Kant es vorschlägt. Das ist keine psychologische, sondern eine konstitutionslogische Frage: Was sind die Bedingungen dafür, dass man im Kantischen Sinn eine Selbstbegrenzung des eigenen Denkens vornimmt und das menschliche Tun als ein selbstbestimmtes Tun begreift? Hegels Vorhaben lässt sich mit Blick auf die beiden Elemente der Selbstbegrenzung und der Selbstbestimmung so etwas genauer artikulieren, indem man zwei Fragen voneinander unterscheidet, um die es ihm in seinem Text geht:

1 Wie ist es möglich, Grenzen des Wissen zu begreifen und in diesem Sinn eine Selbstbegrenzung des Wissens vorzunehmen?

2 Wie können epistemische Subjekte als freie Subjekte begriffen werden, als Subjekte, die die von ihnen erhobenen Wissensansprüche anderen gegenüber zu vertreten und zu verteidigen vermögen?

Formuliert man die Fragen so, haben sie zuerst einmal nicht direkt etwas miteinander zu tun. Es wird sich aber im Laufe von Hegels Überlegungen herausstellen, dass sie untrennbar miteinander zusammenhängen. Die erste Frage impliziert für ihn in erster Linie, dass wir aufklären, inwiefern wir überhaupt ein Wissen von unserem Wissen, ein Wissen des Wissens haben. Wie kommt ein Wissen davon zustande, dass man Wissen hat? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit eine Selbstbegrenzung des Wissens realisiert werden kann? Hegel argumentiert, dass wir unser Wissen vom eigenen Wissen nicht allein aus unserer Auseinandersetzung mit Objekten heraus verstehen können. Es bedarf dazu ihm zufolge eines verwirklichten intersubjektiven Kontexts von Praktiken, innerhalb deren wir von anderen als solche anerkannt werden, die ein bestimmtes Wissen haben. Aus diesem Grund wendet Hegel (im Verlauf des Buches zum ersten Mal im Selbstbewusstseinskapitel) seinen Blick von Beziehungen zwischen Subjekten und Objekten auf Beziehungen zwischen Subjekten und Subjekten, um die Selbstbegrenzung des Wissens in seiner Konstitution zu analysieren. Er schließt dabei an seine bereits erwähnte Auseinandersetzungen mit Fichtes Naturrechtslehre an und verfolgt den Gedanken, dass die Freiheit von Subjekten anderen Subjekten gegenüber nur aus Anerkennungsbeziehungen heraus verständlich gemacht werden kann. Dabei aber weicht er in erheblichem Maße von Fichte ab, der behauptet, dass die Anerkennung von anderen als eine Begrenzung der eigenen Freiheit um der Freiheit anderer willen zu verstehen ist. Genau diesen Gedanken hält Hegel für unhaltbar, da ihm zufolge die Anerkennung selbst als ein Akt der Freiheit zu verstehen ist. Sollte etwas mich zwingen, andere zu bestätigen, sie als Autorität zu achten oder in anderer Weise auf sie einzugehen, so sprechen wir nicht davon, dass ich sie anerkenne. Anerkennung ist nur dann gegeben, wenn ich sie anderen aus freien Stücken gewähre. Es ist aus diesem Grund für Hegel irreführend, Anerkennung als eine Begrenzung von Freiheit zu verstehen, wenn sie doch gerade Freiheit manifestiert. Hegel sieht sich dadurch zu dem Gedanken gedrängt, dass die Selbstbegrenzung als ein Akt der Realisierung von Freiheit im Rahmen intersubjektiver Interaktionen zu verstehen ist. Damit deutet sich an, was es heißen könnte, Selbstbegrenzung und Selbstbestimmung als zwei Seiten ein und derselben Medaille zu begreifen.

Hegel stellt also einen direkten Zusammenhang zwischen seinen Antworten auf die Fragen (a) und (b) her. Selbstbegrenzung gilt ihm nicht nur, wie Kant, als eine Voraussetzung für Selbstbestimmung. Für Hegel ist Selbstbegrenzung ein Akt der Selbstbestimmung. Den damit hergestellten Zusammenhang kann man allerdings ihm zufolge nicht ohne den Hintergrund einer gemeinschaftlichen Praxis begreiflich machen. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass für die Realisierung von Anerkennung anderer als solcher, die ein bestimmtes Wissen haben, Praktiken erforderlich sind, die in einer Tradition entwickelt sein und in die Individuen hineinsozialisiert werden müssen. Hegel hat für den Hintergrund der Tradition schon früh den Begriff der Sittlichkeit eingeführt, der auch in den entsprechenden Passagen der PhG eine entscheidende Rolle spielt (und an dem Hegel auch in späteren Arbeiten festgehalten hat7). Eine sittliche Praxis in Hegels Sinn können wir vorerst als einen traditionsgebundenen Zusammenhang von Praktiken verstehen, die von Individuen in einer Gemeinschaft geteilt werden. Damit habe ich ausreichend Material zusammengetragen, um Hegel zwei Thesen zuzuschreiben, mit denen er auf die beiden von mir unterschiedenen Fragen antwortet:

(Antwort auf a) Eine Selbstbegrenzung des Wissens wird dadurch realisiert, dass erkennende Subjekte die (begrifflichen) Strukturen ihres Erkennens von den Objekten, die sie in diesen Strukturen erfassen, dadurch unterscheiden, dass sie diese Strukturen thematisieren.

(Antwort auf b) Erkennende Subjekte sind dadurch in der Lage, ihre Wissensansprüche anderen gegenüber aus freien Stücken zu vertreten, dass sie diese Wissensansprüche und damit auch die Strukturen ihres Erkennens in einer gemeinschaftlichen Praxis der konfliktiven Auseinandersetzung mit anderen thematisieren und so verteidigen können.

Natürlich ist es unmöglich, einen so komplexen Text wie die PhG auf zwei Thesen zu reduzieren. Dennoch können die beiden genannten Thesen vielleicht einen ersten Eindruck davon geben, worum es Hegel in seinem Text geht. Sie deuten auch an, inwiefern die beiden Elemente, die Hegel von Kant und seinen anderen Vorgängern her aufgreift, aus seiner Sicht nicht zu trennen sind: Auf der einen Seite betont er, dass die Freiheit von Subjekten nur in einem Anerkennungsgeschehen zustande kommen kann, das seinerseits an eine in einer Gemeinschaft realisierte Tradition gebunden ist. Auf der anderen Seite behauptet er, dass eine entsprechende Freiheit nicht ohne Konflikte begreiflich ist, in denen Subjekte mit ihren Perspektiven anderen gegenüber Bestand haben, dass solche Konflikte aber nur dann möglich sind, wenn innerhalb der Tradition Praktiken verfügbar sind, mittels deren Subjekte sich auf ihre jeweils vertretenen Verständnisse beziehen können.

Diese grundlegende Kontur von Hegels Position lässt sich mit dem von ihm eingeführten Begriff des Geistes zusammenfassen. Geist verstehe ich dabei als Begriff für eine konfliktive gemeinschaftliche Praxis, die von Selbstverständnissen – also von Praktiken, mittels deren Subjekte innerhalb der mit anderen geteilten Praxis ihre Verständnisse thematisieren – getragen ist. Im Rahmen einer solchen Praxis sind Individuen in der Lage, sich erstens auf die Strukturen ihres Erkennens zu beziehen und damit zweitens anderen gegenüber Wissensansprüche zu vertreten. Hegels Projekt ist so tatsächlich als eine »Phänomenologie des Geistes« zu verstehen: Es geht ihm darum, die Konstitution – das In-Erscheinung-Treten – einer Praxis nachzuvollziehen, in der Selbstbegrenzung und Selbstbestimmung zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Der Begriff des Geistes ist dabei, und das wird bereits an diesem Punkt deutlich, nicht mit dem Begriff des Geistes zu verwechseln, wie er in der sogenannten philosophy of mind gebraucht wird, die man im Deutschen heute als »Philosophie des Geistes« übersetzt. Hier ist von Geist in dem Sinne die Rede, dass ein einzelnes Individuum – paradigmatisch ein Mensch – ein geistiges Wesen ist, etwa im Gegensatz zu einem Baum oder einem Stein. Hegels Begriff des Geistes setzt hingegen auf einer Ebene an, die sich nicht auf das Wirken einzelner Subjekte reduzieren lässt. Er meint dezidiert eine gemeinschaftliche Praxis, die bestimmte Eigenschaften aufweist, nämlich insbesondere die Eigenschaft, mit symbolischen Artikulationen verbunden zu sein, die die Herausbildung von Selbstverständnissen ermöglichen, die in Konflikten verteidigt werden.

Jedoch nicht nur der Begriff des Geistes ist hilfreich, um die Thesen der PhG zusammenzufassen, sondern auch der Begriff der Moderne. Aus Hegels Sicht sind die Konstitutionsbedingungen einer Praxis, in der Selbstbegrenzung und Selbstbestimmung im Zusammenhang miteinander realisiert sind, in historischen Entwicklungen zustande gekommen. Sie haben keine überzeitliche Gültigkeit – wie die Kantischen Formen transzendentaler Subjektivität –, sondern unterliegen historischen Entstehungsbedingungen (auch wenn das nicht heißt, dass sie einfach zur Disposition gestellt werden könnten). Insofern zeigt die PhG ein Charakteristikum Hegelschen Philosophierens, das er später mit der Aussage artikuliert hat, Philosophie sei »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«.8 Die PhG begreift menschliche Selbstbegrenzung und Selbstbestimmung in ihrer spezifisch modernen Ausprägung. Das ist kein historiographisches Vorhaben, so dass insbesondere das Geistkapitel als ein Kurzabriss abendländischer Geschichte zu lesen wäre. Es geht Hegel vielmehr um eine Rekonstruktion der strukturellen Entwicklung von Praktiken, die für eine moderne Praxis der Selbstbegrenzung und der Selbstbestimmung wesentlich sind.

Ein Vorbegriff einer solchen Praxis lässt sich mit zwei Charakterisierungen geben: Erstens ist eine moderne Praxis nicht in dem Sinne traditionsgebunden, dass sie durch einen bestimmten historisch-kulturellen Kontext bestimmt wäre. Zwar bestehen auch in einer modernen Praxis solche Kontexte; sie können aber von den Individuen immer unter Bezugnahme auf andere Kontexte überschritten werden. Die Möglichkeit einer solchen Überschreitung liegt zweitens in der kritischen Haltung begründet, die Individuen im Rahmen einer modernen Praxis den sie bindenden Normen gegenüber einnehmen. Das von Kant artikulierte Selbstverständnis eines aufgeklärten Denkens ist in diesem Sinn als paradigmatisch für die Moderne zu verstehen. Hegel geht es darum, die Entwicklungen nachzuvollziehen, die zu einem solchen Selbstverständnis geführt haben.

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