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II. Die Wahrnehmung oder das Ding und die Täuschung

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Die Widersprüche, die sich in der Wissenskonzeption der sinnlichen Gewissheit zeigen, werden von einer Wissenskonzeption aufgehoben, die Hegel als Wahrnehmung bezeichnet. Die Grundidee dieser Konzeption besagt, dass Wissen durch ein wahrnehmendes Erfassen von Eigenschaften an Gegenständen zustande kommt. Anders als die sinnliche Gewissheit wird damit dezidiert der Anspruch verfolgt, Wissen aufgrund von Allgemeinbestimmungen (im Sinne von Eigenschaften) zu gewinnen.

In der Diskussion des vorigen Abschnitts hatte sich gezeigt, dass die dort verfolgte Wissenskonzeption entgegen ihrem Anspruch, das konkrete Einzelne durch einen unmittelbaren Bezug auf den Gegenstand zu wissen, nur abstrakte Allgemeinheiten weiß. Die Wahrnehmung hebt diesen Widerspruch auf, indem sie ihn für den Begriff des Wissens fruchtbar macht: Allgemeinbestimmungen sollen es ermöglichen, Einzelgegenstände in ihrer Konkretheit zu wissen.

Hegels Erläuterung der entsprechenden Wissenskonzeption gliedert sich in drei Teile:

1 In einem ersten Teil wird die Wissenskonzeption in ihren Grundzügen entfaltet (96–100/93–97):

2 In einem zweiten Teil werden die Widersprüche der Konzeption in den unterschiedlichen Formen, in denen sie im Rahmen der Konzeption entwickelt werden können, verfolgt (100–107/97–103).

3 Ein dritter Teil resümiert schließlich diese Widersprüche und gibt einen Ausblick auf das Folgende (107–111/103–107).

Die Einleitung beleuchtet die zentralen Aspekte, die für die Wissenskonzeption relevant sind. Dabei lassen sich fünf solcher Aspekte unterscheiden:

1 Anspruch der Konzeption ist es zu erklären, wie man sich auf einen spezifischen Gegenstand wissend beziehen kann. In diesem Anspruch hält die Wahrnehmung an dem in der sinnlichen Gewissheit erhobenen Anspruch fest, die Welt in ihrer Konkretheit zu wissen. Entsprechend charakterisiert Hegel die Wahrnehmung, indem er sagt: »[Ihr] Kriterium der Wahrheit ist […] die Sichselbstgleichheit, […].« (100/97) Anders ist aber nun, dass dieses Kriterium durch einen Rekurs auf Bestimmungen eingelöst werden soll, die den Gegenstand dem Bewusstsein vermitteln.

2 Entsprechend soll der bestimmte Gegenstand durch Eigenschaften gefasst werden. Der Gegenstand ist dabei als dasjenige gedacht, was die Eigenschaften zusammenhält. Die Eigenschaften wiederum können allerdings nicht vom Gegenstand her begriffen werden, sondern müssen als solche verstanden werden, die von anderen Eigenschaften abgegrenzt sind (wie das Rote vom Blauen) beziehungsweise mit anderen Eigenschaften systematisch verknüpft sind (wie das Rote mit dem Farbigen).

3 Eigenschaften sind also solche, die sich wechselseitig ausschließen und genau dadurch bestimmt sind. Dies wiederum macht allerdings nicht verständlich, inwiefern Eigenschaften einen Gegenstand ausmachen.

4 Viele Eigenschaften bestehen gemeinschaftlich an einem Gegenstand, so dass das Zugleichbestehen (das »Auch«) der Eigenschaften und nicht ihr wechselseitiger Ausschluss den Gegenstand charakterisiert.

5 In diesem Aspekt aber kommt ein Moment nicht zum Tragen, von dem wir ausgegangen sind. Der Gegenstand ist in seiner Spezifik eine Einheit. Er ist nicht ein Zugleichbestehen von Eigenschaften, sondern ist die Einheit, die die unterschiedlichen Eigenschaften zusammenhält.

Mit diesen unterschiedlichen Aspekten zeichnen sich folgende grundlegende Widersprüche der Wahrnehmung ab: Eigenschaften sollen einerseits gleichgültig nebeneinander bestehen; andererseits sollen sie einander ausschließen. Der Gegenstand soll zum einen eine Einheit sein, und zum anderen soll er durch mehrere Eigenschaften in seiner Identität bestimmt werden. Diese beiden grundlegenden Widersprüche prägen die Erfahrungen, die die Bewusstseinsgestalt der Wahrnehmung macht.

Diese Erfahrungen kommentiert Hegel im zweiten Teil des Abschnitts. Zuerst durchläuft das Bewusstsein die fünf Aspekte, die Hegel bereits in seinem einleitenden Kommentar zu der Wissenskonzeption voneinander unterschieden hat. Dabei schwankt das Bewusstsein zwischen der Auffassung des Gegenstands als einer ausschließenden Einheit und der Auffassung des Gegenstands, der zufolge dieser durch mehrere zugleich an ihm bestehende Eigenschaften konstituiert ist. Wir können dieses Schwanken artikulieren, indem wir sagen, dass das Bewusstsein zwischen einer substantiellen und einer phänomenalen, also an seinen Erscheinungsformen orientierten Auffassung von Gegenständen hin- und hergerissen ist.29 Aus der Erfahrung dieses Hin-und-her-Gerissenseins kommt es dann zu einer entscheidenden Transformation der Bewusstseinsgestalt. Das Bewusstsein unterscheidet jetzt die Seite des Gegenstands als die eigentliche Wahrheit davon, wie es diesen Gegenstand auffasst. Es trennt zwischen der eigenen Tätigkeit und dem, womit der Gegenstand das Bewusstsein konfrontiert.

Mit dieser Transformation wird ein entscheidender Unterschied eingeführt, der mit der Trennung zwischen einer substantiellen und einer phänomenalen Auffassung an sich bereits etabliert ist, nämlich derjenige zwischen der Wahrheit des Gegenstands und den Täuschungen des Bewusstseins:

Es hat sich hiemit für das Bewusstsein bestimmt, wie sein Wahrnehmen wesentlich beschaffen ist, nämlich nicht ein einfaches reines Auffassen, sondern in seinem Auffassen zugleich aus dem Wahren heraus in sich reflektiert zu sein. […] – Es ist hiemit itzt, wie es bei der sinnlichen Gewissheit geschah, an dem Wahrnehmen die Seite vorhanden, dass das Bewusstsein in sich zurückgedrängt wird, aber zunächst nicht in dem Sinne, in welchem dies bei jener der Fall war; als ob in es die Wahrheit des Wahrnehmens fiele, sondern vielmehr erkennt es, dass die Unwahrheit, die darin vorkömmt, in es fällt. (102/98 f.)

In zweifacher Weise kann das Bewusstsein als Quelle der Unwahrheit verstanden werden: Entweder führt es das Zustandekommen von Allgemeinheiten auf seine eigene Tätigkeit zurück, so dass die Allgemeinheiten nicht in den Gegenständen begründet sind und es entsprechend möglich ist, die Gegenstände als bloße Einheit zu fassen. Oder es begreift sich als Quelle der Einheit des Gegenstands, die es dadurch herstellt, dass es die in der Welt bestehenden Eigenschaften zusammenfasst und so Gegenstände bildet.

Im ersten Fall ist die Einheit des Gegenstands substantiell, im zweiten Fall ist sie eine Konstruktion des Bewusstseins. Es werden also Hinsichten voneinander unterschieden, in denen das Bewusstsein tätig ist und den Gegenstand als Gegenüber und damit Maßstab seiner Tätigkeit weiß. Dieses Unterscheiden aber beendet die Täuschung nicht: Dem Bewusstsein gelingt es nicht, die Einheit des Gegenstands mit der Vielheit der an ihm vorkommenden Eigenschaften zu versöhnen.

Aus der Erfahrung des Fortbestands dieser Widersprüche entwickelt sich eine dritte Form, in der die Wissenskonzeption auftritt: Die Unterscheidung zwischen dem, was das Bewusstsein auffasst, und dem, was der Gegenstand unabhängig von dieser Auffassung ist, wird dabei in die Konzeption des Gegenstands selbst eingetragen. An ihm werden dementsprechend Momente, die den Gegenstand für sich ausmachen, von solchen Momenten unterschieden, die konstitutiv darauf bezogen sind, dass der Gegenstand wahrgenommen wird: »Das Ding ist hienach für sich, und auch für ein Anderes, ein gedoppeltes verschiedenes Sein […].« (105/102)

Aber auch diese interne Aufteilung des Gegenstands (die an Lockes Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten erinnert30) lässt sich nicht stabilisieren. Die Unterscheidung selbst besagt, dass der Gegenstand insgesamt nur von dem her verstanden werden kann, wie er für andere ist. Wenn man im Gegenstand das, was er für sich ist, und das, was er für andere (wahrnehmende Subjekte) ist, voneinander unterscheidet, dann wird der Gegenstand in seiner Konzeption auf das hin angelegt, wie er zu anderem in Beziehung steht. In Hegels Worten:

Durch den absoluten Charakter gerade und seine Entgegensetzung verhält es sich zu andern, und ist wesentlich nur dies Verhalten; das Verhältnis aber ist die Negation seiner Selbstständigkeit, und das Ding geht vielmehr durch seine wesentliche Eigenschaft zugrunde. (107/103)

Die Wissenskonzeption der Wahrnehmung erweist sich damit als eine solche, die ihren wesentlichen Anspruch, den Gegenstand in seiner Sichselbstgleichheit zu fassen, nicht einlöst.

Hegels Diagnose dafür nimmt sich erst einmal überraschend aus. Das Problem der Wahrnehmung sei, dass sie ein unzureichendes Verständnis von Allgemeinheit entwickle. Sie konzipiere Allgemeinheit als »sinnliche Allgemeinheit« (108/105). Die Idee einer in dieser Weise eingeschränkten Allgemeinheit ist, so kann man Hegel verstehen, in sich widersprüchlich. Sinnliche Allgemeinheiten sind Allgemeinheiten, die auf die Welt der Erscheinungen beschränkt sind (aus diesem Grund nennt Hegel sie »sinnlich«), nicht Allgemeinheiten, die Gegenstände als solche einbeziehen. Charakteristisch für die Wissenskonzeption der Wahrnehmung ist so, dass sie Gegenstände als solche versteht, die nicht aus sich selbst heraus in allgemeine Strukturen eingebettet sind. Die Einbettung in allgemeine Strukturen wird durch die Beziehung geleistet, in der die Gegenstände zu wahrnehmenden Subjekten stehen. Dieser Gedanke hängt in der Wissenskonzeption der Wahrnehmung damit zusammen, dass Gegenstände als solche aufgefasst werden, die aus sich heraus das sind, was sie sind. Zwar wird das Bewusstsein von dieser Konzeption als aktiv begriffen, die Aktivität erstreckt sich jedoch nicht auf die Gegenstände als solche.

Hegels Diagnose lässt sich auch noch einmal anders fassen: Die Wahrnehmung versteht Eigenschaften als solche, die im Zusammenhang vieler anderer Eigenschaften bestimmt sind. Wir können dies als ein holistisches Verständnis von Eigenschaften verstehen (als Teilaspekt des bereits angesprochenen holistischen Verständnisses von Begriffen):31 Eine Eigenschaft wie Röte ist nur im Kontext anderer Eigenschaften wie Bläue und Grünheit konstituiert. Hegel spricht in diesem Sinn von der Gesamtheit der Eigenschaften als dem »allgemeine[n] gemeinschaftliche[n] Medium« (101/98). Die Wissenskonzeption der Wahrnehmung will die Sichselbstgleichheit der Gegenstände in diesem allgemeinen Medium erfassen. Dies aber misslingt, so Hegel, da die Allgemeinheit des Mediums nicht im Sinne einer umfassend produktiven Auseinandersetzung mit Gegenständen verstanden wird. Die These lautet entsprechend, dass die Wahrnehmung gewissermaßen vor den Gegenständen haltmacht. Wer Allgemeinheit als sinnliche Allgemeinheit konzipiert, geht davon aus, dass Gegenstände unabhängig von den Strukturen der Allgemeinheit Bestand haben. Hegel macht also hier bereits implizit deutlich, dass Allgemeinheit nicht nach dem Paradigma der Allgemeinheit sinnlicher Eigenschaften gedacht werden darf.

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