Читать книгу Christsein und die Corona-Krise - George Augustin - Страница 12
2. Die Frage
ОглавлениеDie hypothetische Bedrohung ist plötzlich Realität geworden: Auch wenn der Westen zu Beginn der Tragödie von Wuhan – der chinesischen Stadt, wo sich die ersten dramatischen Auswirkungen von Covid-19 zeigten – noch mit einer gewissen Sorglosigkeit auf das »chinesische Übel« blickte und dachte, um sich davor zu schützen, genüge es, die Verbindungen zum asiatischen Riesen zu kappen, vergingen nur wenige Wochen, bis deutlich wurde, dass der tückische Feind bereits mitten unter uns war. Die Bagatellisierungsversuche einiger Machthaber auf dem Planeten Erde waren bald vom Tisch: Die Pandemie war inzwischen überall auf dem Vormarsch, und die Immunitätsbehauptung hielt der tragischen Evidenz der Zahlen derer, die durch das Corona-Virus erkrankten, und mehr noch derer, die in der Folge starben, nicht stand. Besonders erschreckend war die Zahl der Betroffenen unter den alten Menschen: Gewiss waren sie dem Angriff des Virus aufgrund ihrer Anfälligkeit stärker ausgesetzt, doch in mehreren Ländern führte ein Zusammenspiel aus schwerwiegenden Versäumnissen und ungerechtfertigten Verzögerungen der zu ihrem Schutz zu treffenden Maßnahmen Situationen herbei, die für viele von ihnen tödlich endeten. Danach dauerte es nicht mehr lange, bis sich die Pandemie als eine Bedrohung für alle Altersgruppen herausstellte: Die Todesfälle unter den jungen Menschen hinterließen größeren Eindruck, und gleichzeitig fügte die Schwächung der tragenden Wirtschafts- und Gesellschaftskräfte dem Leben nicht weniger Länder schwerste Schäden zu. Die erste Frage, die daraufhin in vielen Herzen und Köpfen aufstieg, war die universale Frage, die sich immer dann stellt, wenn Schmerz und Tod in unseren Häusern Einzug halten und unsere Gefühle und unsere Person direkt betreffen: Warum? Warum all dieses Übel? Warum all dieser Schmerz?
Für viele war es von diesen Überlegungen aus nur noch ein kleiner Schritt zu jener grundlegenden Frage nach dem, der im Letzten für alles verantwortlich ist: Wenn Gott existiert und wenn er gerecht ist, warum dann dieses tödliche Virus? Wenn er ein guter Gott ist, wie kann er dann zulassen, dass so viel Böses unter uns und insbesondere unter den Schwächsten und Wehrlosesten wütet? Wenn er ein Vater ist, warum behandelt er uns dann nicht wie seine Kinder? Es ist eine uralte Frage, die mit dramatischer Aktualität wiederkehrt: wegen des plötzlichen Ausbruchs der Pandemie und wegen des neuen und unerwarteten Schauspiels, dem wir beiwohnen und das ebenso tragisch wie nah ist: nah an uns, unserem Leben, unseren Gefühlen, unserer Arbeit, unseren Häusern. 1755 veranlasste das Erdbeben von Lissabon Voltaire, im Candide und in seinem Gedicht über die Katastrophe von Lissabon die Überzeugungskraft des Urteils eines Gottfried Wilhelm Leibniz, der von unserer Welt als von der »besten aller möglichen Welten« gesprochen hatte, zu bestreiten. Jenes entsetzliche Ereignis schien ihm dessen Theorie von der Theodizee an der Wurzel zu untergraben: Angesichts der unzähligen unschuldigen Opfer lässt sich keine »Rechtfertigung Gottes« aufrechterhalten und kann vor allem keine »Lehre vom Gesetz und der Gerechtigkeit Gottes« unverändert bestehen bleiben.
Der Unterschied zu der furchtbaren Pandemie unserer Tage besteht darin, dass das Erdbeben von 1755 zeitlich und hinsichtlich der Opferzahlen begrenzt war, während heute unser Wissen über dieses Virus derart minimal ist, dass sich keine realistische Prognose bezüglich der Dauer und Reichweite seines zerstörerischen Wirkens treffen lässt, und wir nicht einmal über eine zuverlässige Prävention in Form eines Impfstoffs oder über ein wirksames Gegenmittel in Form eines Arzneistoffs verfügen. Der Mythos vom homo emancipator, der sein Schicksal selbst bestimmt und Herr über seine in allen Belangen siegreichen Kräfte ist, wird hier von Grund auf infrage gestellt. Und auch wenn dies keine Rechtfertigung dafür sein darf, den Möglichkeiten der Wissenschaft mit Pessimismus zu begegnen, darf es doch auch kein Anlass für eine Wissenschaftsgläubigkeit sein, die über ihre unvermeidlichen Grenzen hinwegsieht. Gewiss wird es erforderlich sein, so viel wie irgend möglich in menschliche Ressourcen und wirtschaftliches Potential zu investieren, um den Fängen der Pandemie zu entkommen, doch es wird ebenso erforderlich sein, weit demütiger und wachsamer zu bleiben als in der Vergangenheit, damit wir nicht Gefahr laufen, uns im Zusammenhang mit der Natur und ihren möglichen Reaktionen auf die Übergriffe des Menschen und seines Handelns in der Geschichte mit neuen und vielleicht noch schlimmeren Bedrohungen auseinandersetzen zu müssen.