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4. Die »Berührung« Gottes
ОглавлениеAuch in Zeiten des Corona-Virus kann also geschehen, was sich einst auf den Straßen Galiläas zutrug: »Und immer, wenn er [Jesus] in ein Dorf oder eine Stadt oder zu einem Gehöft kam, trug man die Kranken auf die Straße hinaus und bat ihn, er möge sie wenigstens den Saum seines Gewandes berühren lassen. Und alle, die ihn berührten, wurden geheilt« (Mk 6,56). Die Berührung Jesu heilt, weil sie die Berührung Gottes ist: jenes Gottes, der aus Liebe zu uns Mensch geworden ist, um unser Menschsein zu »berühren« und in jeder Hinsicht zu teilen und uns das Geschenk des Heils zu übermitteln, das von ihm kommt. Der Ort, an dem diese göttliche Berührung ihren Höhepunkt erreicht, ist das Kreuz: Am Kreuz macht sich Jesus den Schmerz aller zu eigen, nimmt unsere Sünden und unsere Übel auf sich und schenkt uns in der Zeit und für die Ewigkeit die Fülle des Lebens. Am Kreuz ist der ewige Sohn auch in den Abgrund der Schwäche, der Zerbrechlichkeit, der Schmerzen, der Einsamkeit, der Dunkelheit eingetreten, den so viele wegen des Corona-Virus erlebt haben und noch erleben. Am Kreuz hat Jesus uns die Liebe Gottes zu jedem Menschen geoffenbart und uns gezeigt, dass wir – wir alle, ohne Ausnahme – daran teilhaben können. Und der Geist, den der sterbende Jesus dem Vater übergab, wurde ausgegossen, um der göttliche Tröster zu sein, der uns hilft, das Böse zu besiegen, Schmerz in Liebe, Leiden in Hingabe, Krankheit in Heilung, Zerbrechlichkeit in Stärke zu verwandeln – auch angesichts der Geißel dieses verheerenden Virus.
Gott berührt uns durch Kreuz und Auferstehung Jesu, den Ursprung des siegreichen und gewissen Lebens, und befähigt uns, den finsteren Weg der Prüfung zu gehen und ihn in eine Schule des Glaubens und der Güte, in eine Quelle der befreienden und rettenden Liebe zu verwandeln: »Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert« (Mt 10,38 und Lk 14,27). Wer den gekreuzigten Jesus liebt und ihm nachfolgt, kann sich unmöglich nicht dazu berufen fühlen, jenen, die leiden, ihr Kreuz zu erleichtern, durch tätige Hingabe an die anderen, durch tatkräftiges und wachsames Bemühen, jedes Golgota in einen Ort der Auferstehung und Lebensfülle zu verwandeln. Genau das tun die vielen Menschen – Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger, medizinische Fachkräfte, Priester, Arbeiter –, die sich in diesen Zeiten der Pandemie für das Gemeinwohl einsetzen und dafür, dass die wesentlichen Dienste auch weiterhin geleistet werden können. In denen, die sich bemühen, so zu leben und zu handeln, ist das Kreuz Christi nicht um seine Kraft gebracht worden (vgl. 1 Kor 1,17). Durch sie erreicht uns die Berührung der göttlichen Gnade, die vergibt, heilt, tröstet und erneuert, und durch sie wird der Sieg des zum Leben wiederauferstandenen Herrn greifbar. Auch das ist eine Weise, wie Gott in dieser dramatischen Pandemie zu uns spricht. In einem Gedicht von Emily Dickinson – einsamer Ruferin im Amerika des 19. Jahrhunderts – heißt es: »Wer nicht den Himmel fand – hier unten – / Der geht auch oben fehl – / Denn Engel mieten nebenan, / Wohin wir auch verziehn«.27 Man muss also die Augen des Glaubens bemühen, um »die Heiligen von nebenan« zu erkennen, wie Papst Franziskus sie nennt, und sich an ihnen ein Beispiel zu nehmen.
Auch noch in anderer Hinsicht lässt die Tragödie der Pandemie die Berührung Gottes erkennbar werden: Viele haben erfahren und oft entdeckt oder wiederentdeckt, welche große Hilfe ihnen in diesen schmerzlichen Zeiten aus dem Glauben erwachsen ist. Der Glaube gibt uns Augen und Herz, um zu verstehen, dass Gott nicht der Rivale des Menschen, sondern sein aufrichtigster und treuester Verbündeter ist. Wer an Jesus Christus glaubt, der weiß, dass der ewige Sohn am Kreuz unseren Tod und unsere Sünden auf sich genommen hat, weil er uns helfen wollte, unser Kreuz zu tragen. Gott, der Liebe ist, wird den, der auf ihn vertraut, niemals verlassen. Dank des Glaubens an Gott kann die Furcht durch Hoffnung, egoistische Verschlossenheit durch neuen Schwung im Einsatz für andere, Einsamkeit durch tätige Solidarität mit den Bedürftigsten besiegt werden. In diesen Zeiten der von außen auferlegten Einschließung fand bei vielen die Besinnung auf das, was unsere engen Alltagshorizonte übersteigt, mehr Raum ebenso wie das Gebet, das als Quelle des Lichts und des Friedens erfahren oder wiederentdeckt wurde. Für etliche war es ein Gewinn, über das nachzudenken, was wir durchgemacht haben und wie wichtig es ist, Entscheidungen zu treffen, die von dem klaren und mutigen Willen inspiriert sind, die noch bis vor kurzem vorherrschende Logik des Konsumismus und Hedonismus zu überwinden. Sich dem Dienst am Gemeinwohl zu verschreiben und auf Gott, der Liebe ist, zu vertrauen, befreit von der Angst, weil es uns die Wahrheit erfahren lässt, die in den Worten des ersten Johannesbriefs ausgedrückt ist: »Die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht« (1 Joh 4,18).