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5. Für einen Neuanfang

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Die durch Covid-19 hervorgerufene Pandemie hatte verheerende – und oftmals leider tödliche – Auswirkungen auf das Leben vieler unserer Weggefährten, Männer und Frauen, und hat auch in den Köpfen und Herzen nicht minder negative Folgen gezeitigt: Angesichts dieser Geißel, die die Menschheit getroffen hat, hat sich ein Gefühl der Panik, eine pauschale und diffuse Angst ausgebreitet, die Menschen dazu treiben kann, den Feind, den es zu fürchten gilt, vorschnell zu identifizieren und anderen gegenüber Gefühle der Ablehnung zu hegen. Frucht dieser Angst war für viele die Erfahrung einer tiefen Einsamkeit, in der sie dazu neigten, sich zu verschanzen – als wäre der andere Mensch lediglich eine Gefahr, vor der man fliehen, oder ein Feind, vor dem man sich schützen muss. Gleichzeitig hat diese furchtbare Erfahrung am eigenen Leib oder in der Person geliebter Menschen, die im Kampf gegen das Übel nicht alle siegreich waren, vielen neue Horizonte des Denkens und Fühlens erschlossen. Was wird all das für die Zukunft der Gewissen und der ganzen Menschheit bringen? Nach einer so weitreichenden und tiefgreifenden Bewährungsprobe Prognosen zu stellen, ist sicherlich gewagt, doch eines steht fest: Die verordnete Einschließung in den Häusern und die Bilder unzähliger Särge mit Leichen, die auf die Friedhöfe gebracht wurden, um dort verbrannt oder begraben zu werden, werden in uns allen unweigerlich tiefe Spuren hinterlassen. Es sind vor allem einige Impulse, die es für morgen aufzulesen gilt: Botschaften des Lebens und der Hoffnung, Botschaften, die eher durch Gesten als durch Worte zu uns sprechen.

Eine erste Botschaft kommt gerade von jenen, die sich auf vielerlei Art mutig und großzügig aufgeopfert haben, um die Kranken zu pflegen, den Gemeinschaften – auch im geistlichen Sinne – beizustehen, die Gesunden zu schützen und die wesentlichen Dienstleistungen des zivilen Lebens sicherzustellen. Es wäre zu wünschen, dass ihr Beispiel alle dazu anspornen kann, sich mehr und besser in Sachen Nächstenliebe zu engagieren. Es gilt, den Wert des Gemeinwohls wiederzuentdecken – eine Wiederentdeckung, für die es im Übrigen viele Anzeichen gegeben hat: angefangen mit der Zustimmung, mit der eine breite Mehrheit der einfachen Leute auf die ihnen auferlegten Beschränkungen reagiert hat und die beweist, dass viele Menschen – trotz der Anmaßung und Streitsucht einiger Protagonisten auf der politischen Bühne – unserer Geschichte gerecht geworden sind, die vom christlichen Glauben geprägt ist. Es war eine Übung der Verantwortung für alle: Und wenn Verantwortung bedeutet, eine Last auf sich zu nehmen (das lateinische Wort für »antworten«, respondere, lässt das Wort »Last«, pondus, anklingen), dann ist jeder aufgerufen, nicht nur die eigene Last zu tragen, um sich vor möglicher Ansteckung zu schützen, sondern auch die Last jedes anderen und aller anderen auf sich zu nehmen und alles daranzusetzen, dass sich das Virus – das auch von Menschen ohne Krankheitssymptome übertragen werden kann, die gar nicht wissen, dass sie sich infiziert haben – nicht weiter ausbreitet.

Sodann war verordnete Einschließung für nicht wenige eine Gelegenheit, die unmittelbaren Beziehungen wieder neu zu würdigen, angefangen mit den Beziehungen innerhalb der Familie. Unter dem Druck von Produktivität und eines übertrieben aktionistischen Konsum- und Karrierestrebens – verbreiteter Lebensstil in einer Gesellschaft des Wohlstands und der angemaßten Überlegenheit anderen gegenüber – waren diese Familienbeziehungen nicht selten vernachlässigt oder geringgeschätzt worden, bis die Ausbreitung des todbringenden Virus dafür sorgte, dass sich alle wieder neu ihrer Grenzen und ihrer großen Verletz­lichkeit bewusst wurden. Womöglich werden diese Erfahrungen vielen helfen, die Bedeutung der kleinen Gesten der Aufmerksamkeit und Güte gegenüber anderen – angefangen beim unmittelbaren Nächsten – sowie den Wert der Zeit wiederzuentdecken, die man damit verbringt, mehr zu beten, mehr nachzudenken, den anderen mehr zuzuhören und sich ihnen mehr hinzuschenken. Wieder zuhören zu lernen, die Kraft und Schönheit des Gesprächs wiederzuentdecken, selbst kleine Gesten des Teilens zu leben, vor allem mit denen, die besonders schwach und benachteiligt sind, aus Liebe zu den anderen »Zeit zu vergeuden« – auch das sind Impulse, die uns aufgrund dessen, was wir erlebt haben und voraussichtlich auf eine noch unabsehbare Zeit weiterhin werden erleben müssen, in den Sinn kommen können.

Außerdem darf nicht übersehen werden, dass auch die Europäische Union zu einer tiefgreifenden Selbstüberprüfung, révision de vie, gerufen ist: Der Traum ihrer Gründerväter war ausgerichtet auf den unendlichen Wert jeder menschlichen Person und damit auf die Prinzipien der Verantwortung und Solidarität. Mit der Pandemie entstand die Herausforderung, diese Inspiration in die Tat umzusetzen, um dem Schutz des Lebens und der Gesundheit aller, angefangen bei den Schwächsten, zu dienen. Das hat die Frage aufgeworfen, ob auf europäischer Ebene ausreichend Handlungsträger bereit sind, sich bis zum Letzten einzusetzen, um eine solche Herausforderung anzunehmen. Unterdessen darf die Enttäuschung nicht ignoriert werden, die viele angesichts eines Europas empfinden, das den ambitionierten Plan, ein »gemeinsames Haus« für alle Europäer zu sein, nicht einmal annähernd verwirklicht hat: Auch wenn hier keinen übereilten pessimistischen Einschätzungen das Wort geredet werden soll, ist doch unschwer zu erkennen, dass die Gesellschaften vieler ­Industrieländer des alten Kontinents von Zersplitterung und egoistischer Isolation gekennzeichnet sind. Auf die eigene Region begrenzte Interessen kommen auf, die sich gegen jede Solidaritätslogik durchsetzen. Es fehlen eine gemeinsame Seele, eine gemeinsame Identität, ein allgemeiner, von Großzügigkeit angetriebener Schwung, aus denen sich weitgespannte Träume und Projekte für das Gemeinwohl speisen könnten: Europa ist lediglich in wirtschaftlicher Hinsicht nominell geeint, ohne jedoch ein einheitliches und weiter gespanntes politisches Programm zu verfolgen. Deshalb erweist es sich als unfähig, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Antworten zu geben, und läuft Gefahr, den Zug der Geschichte zu verpassen.

Wie dringend notwendig wäre es also, dass sich auch als Reaktion auf diese dramatische Prüfung eine europäische Steuerungsform (»Governance«) mit echter Autorität herauskristallisiert, die von allen anerkannt wird und sich der Habgier einiger nationaler Mächte entgegenzustellen vermag, die zum geringstmöglichen Preis den größtmöglichen Profit aus dem »gemeinsamen Haus« herausschlagen wollen – eine Governance nach dem Vorbild dessen, wozu die Gründerväter des geeinten Europa vom Format eines de Gasperi, eines Adenauer oder eines Schuman in der Lage waren! Wenn wir auf ihr Beispiel blicken, müssen wir uns fragen: Wie können wir die Egoismen und die Angst sowohl der Einzelnen als auch ganzer regionaler und nationaler Gemeinschaften überwinden, um ein größeres Gemeinwohl zu verwirklichen, das allen und in erster Linie den besonders Schwachen und Benachteiligten zugutekommt? Die Antwort kann nicht ohne eine breite Einbeziehung des Gewissens gegeben werden: Es gilt, sich selbst und andere dazu zu erziehen, den Traum von einer solidarischen Menschheit anzuerkennen, zu nähren und zu verwirklichen, die sich in den Dienst aller und insbesondere der Schwächsten stellt, um die Qualität ihres Lebens und ihrer Gesundheit zu schützen. Die Herausforderung betrifft uns alle in der ersten Person: Und genau hier erweist sich der Glaube an den Gott, der sich in Jesus Christus als Liebe geoffenbart hat, als kostbarer denn je.

Das hat Papst Franziskus der Kirche und der Welt am 27. März 2020 auf einem vollkommen leeren Petersplatz ins Gedächtnis gerufen, als er während der wunderschönen Andacht zur Zeit der Epidemie, die Millionen von Menschen auf den Bildschirmen verfolgten, in seiner Predigt sagte: »Seit Wochen scheint es, als sei es Abend geworden. Tiefe Finsternis hat sich auf unsere Plätze, Straßen und Städte gelegt; sie hat sich unseres Lebens bemächtigt und alles mit einer ohrenbetäubenden Stille und einer trostlosen Leere erfüllt, die alles im Vorbeigehen lähmt […]. Wir sind verängstigt und fühlen uns verloren. Wie die Jünger des Evangeliums wurden wir von einem unerwarteten heftigen Sturm überrascht. […] Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben. […] Es ist die Zeit, den Kurs des Lebens wieder neu auf dich, Herr, und auf die Mitmenschen auszurichten. Und dabei können wir auf das Beispiel so vieler Weggefährten schauen, die in Situationen der Angst mit der Hingabe ihres Lebens reagiert haben. […] Löschen wir die kleine Flamme nicht aus (vgl. Jes 42,3), die niemals erlischt, und tun wir alles, dass sie die Hoffnung wieder entfacht […]; unser Glaube ist schwach und wir fürchten uns. Du aber, Herr, überlass uns nicht den Stürmen. Sag zu uns noch einmal: ›Fürchtet euch nicht‹ (Mt 28,5). Und wir werfen zusammen mit Petrus ›alle unsere Sorge auf dich, denn du kümmerst dich um uns‹ (vgl. 1 Petr 5,7).«

Christsein und die Corona-Krise

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