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Walter Kardinal Kasper Corona-Virus als Unterbrechung – Abbruch und Aufbruch 1. Wie haben wir die Krise erfahren?
ОглавлениеSeit Wochen und Monaten hat uns die Corona-Krise im Griff. Obwohl alle betroffen waren und sind, haben wir diese Krise in sehr unterschiedlicher Weise erfahren: als vom Virus direkt Betroffene, als Angehörige von Betroffenen, als Pfleger, Ärzte und Seelsorger, unterschiedlich und oft recht nervig in unserem Familien- und Berufsleben, als Jugendliche oder als Angehörige von Risikogruppe besonders der Alten, Kranken, Behinderten, der Menschen, die in Notunterkünften oder Gefängnissen eng beieinander leben, dies alles anders in China, anders in Italien und wieder anders in Deutschland, anders für regelmäßige Kirchgänger und anders für nicht oder nur sporadisch kirchlich Praktizierende. Man könnte die Liste fortsetzen und müsste dann viele berührende Einzelgeschichten erzählen.
Viele individuelle Einzelerfahrungen und doch eine gemeinsame und alle zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenschließende Erfahrung. Wir sind es zwar nur allzu sehr gewöhnt, jeden Tag von Katastrophen zu hören. Doch es sind Katastrophen irgendwo im fernen Asien oder Afrika; jetzt handelt es sich um eine Pandemie, wörtlich übersetzt: um eine Krise, die das ganze (pan) Volk (demos), alle gemeinsam und jeden Einzelnen, betrifft. Sie bedeutet für alle eine abrupte Unterbrechung des bisherigen Lebensstils, der Lebensgewohnheiten und der als selbstverständlich angenommenen Alltagsgewissheiten. Sie betrifft uns nicht nur in unserem individuellen Leben, sondern im gesamten öffentlichen Leben und dies weltweit mit einem bisher so nie erlebten Stillstand. Belebte Millionenstädte, Flughäfen, Sport- und Vergnügungszentren sind plötzlich wie ausgestorben, und niemand kann verlässlich Auskunft geben, wie lange das so weitergehen wird.
Was da geschieht, betrifft das private und öffentliche Leben nicht nur äußerlich, es trifft unsere moderne Gesellschaft mitten ins Herz. Menschliche Grundrechte wie die Bewegungsfreiheit, der persönliche Kontakt und die Versammlungsfreiheit werden bis auf das absolut notwendige Minimum eingeschränkt und nicht zuletzt die gemeinsame öffentliche Religionsausübung in der bisherigen Form untersagt. Das kennt man bisher nur von totalitären Staaten, jetzt passiert es in freiheitlichen Staaten und wird von der übergroßen Mehrheit der Bürger in dieser außerordentlichen Situation trotz manchem Murren als vernünftig angesehen, angenommen und befolgt.
Ich erinnere mich noch an die letzten Jahre und Monate des Zweiten Weltkriegs. Wir wussten sehr oft nicht, ob, wie und wo wir am anderen Morgen aufwachen. Doch es war kein allgemeiner Stillstand; das Leben ging, wenngleich oft unter erheblichen Schwierigkeiten, weiter. Viele Kirchen waren zerstört, doch in denen, welche noch nutzbar waren, fanden Gottesdienste statt. Dass jetzt selbst an Ostern, dem Hochfest der Christenheit, auch in Rom kein gemeinsamer öffentlicher Gottesdienst stattfand, das ist in bald 2000 Jahren Kirchengeschichte nie vorgekommen.
Nichts hat uns diese allgemeine und geschichtlich einmalige Situation so deutlich vor Augen geführt wie der Segen urbi et orbi des Papstes vor dem mittelalterlichen Pestkreuz aus der Kirche San Marcello al Corso in Rom. Es wurde im Pest-Jahr 1522 unter großer Beteiligung in einer Prozession durch Rom getragen; jetzt steht der Papst auf dem fast gespenstisch menschenleeren Petersplatz allein vor diesem Kreuz und redet, auch wenn er über die Medien weltweite Aufmerksamkeit findet, wie ins Leere hinein. Kein öffentlicher Gottesdienst an Ostern, in Ost und West das zentrale Hochfest der Christen, für die Juden seit weit mehr als zwei Jahrtausenden keine Pessach-Feier mit Tisch-Gemeinschaften über die Familie hinaus und gemeinsamem Gebet in der Synagoge und für die Muslime kein Fastenmonat des Ramadan mit gemeinsamen Gebeten in Moscheen und mit dem abschließenden gemeinsamen Fest des Fastenbrechens. Das hat es so noch nie gegeben.
Der Ursprung des Virus ist nicht voll geklärt. Liegt eine menschliche Unvorsichtigkeit, ein Laborunfall vor, oder handelt es sich eher um eine Naturkatastrophe wie ein Erdbeben, ein Vulkanausbruch, ein Tornado oder Tsunami? Dass solche verheerenden Naturkatastrophen in bestimmten geologischen Zonen immer wieder möglich sind ebenso wie Epidemien, an denen jährlich viele Tausende Menschen sterben, das alles weiß und wusste man. Nun aber handelt es sich um einen bisher nicht bekannten, sich rasch weltweit verbreitenden Virus, für den auch unsere hochentwickelte Medizin bis auf Weiteres kein Heilmittel zur Verfügung hat. Das macht die Verwundbarkeit und die Zerbrechlichkeit des Menschen, seine Grenzen und auch seine Ohnmacht gegenüber den Gewalten der Natur neu deutlich und stellt den Machbarkeits- und den Fortschrittsglauben erneut infrage. Es ist eine Kontingenzerfahrung neuer, eigener, ja extremer Art.
Gerechterweise muss man hinzuzufügen: Es gibt auch positive und erfreuliche Kontingenzerfahrungen. Die große Mehrheit der Menschen reagierte mit viel gesundem Menschenverstand, oft mit erstaunlicher Kreativität und sehr oft mit bewundernswerter Solidarität. Es gibt zahllose Berichte von selbstlosem bis an die Grenzen und oft darüber hinausgehendem Einsatz von Pflegekräften, Ärzten, Seelsorgern, von freiwilligem Einsatz Jugendlicher für alte Menschen, nachbarschaftlicher Hilfsbereitschaft, Umorganisation des Zusammenlebens in den Familien oft auf sehr engem Raum mit all dem Stress, den das mit sich bringen kann. Die Menschen leben außer dem engen Kreis der Familie räumlich distanzierter voneinander und wissen sich doch mehr als bisher schicksalhaft solidarisch miteinander verbunden.
Wie realistischerweise nicht anders zu erwarten, gab und gibt es auch Beispiele von rücksichtslosem, raffiniertem kriminellem Ausnützen der Krise. Das Erstaunliche aber ist, dass insgesamt innere Kraftressourcen und menschliche Größe, die Fähigkeit, über sich selbst hinauszuwachsen, offenbar werden, welche verallgemeinernde negative Urteile über die heutige Welt und die heutige Jugend Lügen strafen. Die Erfahrung, dass in den Menschen mehr steckt, als wir oft meinen, gibt Anlass zu der Hoffnung, die wir dringend brauchen. Denn auch wenn die begründete Erwartung besteht, dass in einiger Zeit ein Medikament zur Verfügung stehen wird, wird es nach der Krise nicht so sein, wie es vor der Krise war. Schon heute müssen wir fragen: Wie werden wir die Nach-Corona-Krise schultern?
Man muss kein Schwarzseher sein, wenn man ernsthaften Prognosen Glauben schenkt, welche langfristige schwerwiegende ökonomische und damit auch soziale und politische Auswirkungen vorhersagen. Wir alle werden ärmer sein, die einen mehr und andere weniger, was wiederum soziale Verwerfungen, politische Konflikte und besonders in Europa internationale Neuordnungen zur Folge haben wird.
Die Folgen der Corona-Krise sind am ehesten wohl denen des verheerenden Erdbebens von Lissabon im Jahr 1755 vergleichbar. Noch nach mehr als 250 Jahren weiß man nicht genau, was diese Naturkatastrophe ausgelöst hat. Doch man weiß, dass das verheerende Beben die ganze damalige Kultur und aufgeklärte Philosophie zutiefst erschüttert und verändert hat. Das Beben bedeutete das Ende des Optimismus und des Fortschrittsglaubens der Aufklärung. Eine ganze Epoche europäischer Geschichte ging damals zu Ende.
Auch die Corona-Krise wird Erschütterungen unserer zivilisatorischen, gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Gewissheiten zur Folge haben, Folgen, die heute noch kaum jemand im Einzelnen absehen kann. Medizinisch werden wir Corona überwinden; geistig, kulturell, auch theologisch wird uns Corona noch lange im Griff haben und beschäftigen.