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DAS IST UNSER HAUS – WOHNRAUMBESCHAFFUNG IN WESTBERLIN

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Da wir das Leben in Braunschweig nach kürzester Zeit satthatten, planten wir nach Westberlin zu ziehen. Dort lebten inzwischen Hunderte Ex-DDR-Punks. Eine riesige Ostsubkultur-Gemeinde. Als minderjährige, 17-jährige Republikflüchtige und deren Fluchthelfer durften wir nicht die Transitstrecke durch die DDR benutzen. Wir wären sofort verhaftet worden. Somit gab es nur eine Möglichkeit, die Mauerstadt zu erreichen. Wir mussten fliegen. Als wir in Westberlin aus dem Flugzeug stiegen, hatten wir keinen blassen Schimmer, wo wir wohnen könnten. Aber auch hier halfen sich die vielen Exil-DDR-Punks untereinander. Anmelden konnten wir uns beim AG-Mauerstein-Akteur Igor und seiner Frau Jeanette, die dort inzwischen eine Wohnung besaßen. Laut Einwohnermeldeamt wohnten dort inzwischen Unmengen von ausgereisten DDR-Bürgern. Susi B. aus Halle (Saale) bezog gerade eine winzige Wohnung in Moabit. Dort konnten wir für kurze Zeit zwischen Farbdosen und sonstigen Malerutensilien unterkommen. Doch wo wollten wir danach wohnen? Da sahen wir in den Nachrichten einen Bericht über eine gerade vollzogene Hausbesetzung in Westberlin. Die Hochhäuser des Schwesternwohnheims des Rudolf-Virchow-Universitätsklinikums in der Sylter Straße. Die Besetzer sagten in der Sendung, es wäre noch viel Platz für weitere Besetzer. Mucksmäuschenstill hörten wir ihnen zu und dann war uns sofort klar: Das ist es!


Das besetzte Haus in der Sylter Straße

Am nächsten Tag nahmen wir unser spärliches Hab und Gut, das in zwei kleine Rucksäcke passte, und suchten diese Gebäude auf. Es kribbelte im Bauch. Sieben Jahre nach meiner stillen Besetzung in Halle (Saale) stand ich nun kurz davor, Hausbesetzer in Westberlin zu werden. Und das nicht still und heimlich wie im Osten üblich, um nicht aufzufallen, sondern laut. Mit Transparenten und viel Tamtam. Alle Balkons waren zu Spruchbändern umfunktioniert worden. Auf ihnen wurde mehr bezahlbarer Wohnraum gefordert. Auch alle möglichen politischen Ziele waren dort zu lesen. Das interessierte uns damals nicht. Wir suchten einfach nur einen Platz zum Wohnen. Und das mit viel Kontakt zur Subkultur. Hier waren wir richtig. Es traf noch ein weiterer Ex-DDR-Punk aus Eisenach ein. Etliche Wohnungen im Hochhaus standen noch leer. Wir besetzten eine ganze Etage. Ich glaube, es war die fünfte. Das war nun die Etage der Ostler.


Wir bleiben drin!

Während wir nur wohnen und Spaß haben wollten, hatten die Westberliner Besetzer etwas Größeres vor Augen. Sie hatten vielerlei politische Ziele und hielten ununterbrochen Versammlungen ab. Diese nannten sie Plenum. So was kannten wir aus der DDR-Subkultur überhaupt nicht. Es wurde diskutiert und diskutiert und diskutiert. Ab und zu wurde über etwas abgestimmt und dann wieder diskutiert. Wir verstanden kaum ein Wort. Wir verstanden auch nicht, dass sich alle hier vom Staat so extrem eingeengt fühlten. Für uns war es, im Gegensatz zum Leben in der DDR, die totale Freiheit. Ein Hochhaus zu besetzen, Transparente mit Sprüchen drauf, für jeden lesbar, anzubringen. Das alles hätte in der DDR unweigerlich zu langjährigen Haftstrafen für alle Beteiligten geführt. Wir Ostler versuchten, auf den Plena immer wieder unsere, ganz andere, Sichtweise rüberzubringen. Aber keiner verstand uns. Wir waren für die Westberliner Hausbesetzer irgendwie Ost-Exoten, die keine Ahnung von der Welt hatten. Ostdeutsch und Westdeutsch waren hier zwei total verschiedene Sprachen. Nach und nach zogen wir uns von den zahlreichen Plenumstreffen zurück und genossen unsere neu gewonnene Freiheit. Massig Wohnraum in einem besetzten Hochhaus in Westberlin. Was wollten wir mehr?!


Nach der Räumung


Doch das neue Wohnraumglück währte nicht lange. Mitten in der Nacht wurden wir von unseren Mitbewohnern unsanft geweckt. „Die Bullen kommen! Sie räumen! Wir müssen uns wehren! Wir müssen das Haus bis zuletzt verteidigen!“ Wir schauten schlaftrunken aus dem Fenster. Unzählige Polizisten in voller Montur mit Helm, Gummiknüppel und Schutzkleidung hatten das Haus umstellt. Wasserwerfer und sogar ein Räumpanzer standen bereit. Ein Stechen durchzuckte meinen Magen. Das sieht nicht gut aus. Einen Kampf konnten wir angesichts dieser Übermacht nicht gewinnen. Die Besetzer legten die Fahrstühle still. Das Treppenhaus wurde von unten bis zur sechsten Etage verbarrikadiert. Die Polizei versuchte daraufhin, in das total verrammelte Haus mithilfe von Gewalt einzudringen. Die Besetzer fingen an, Gegenstände aus den oberen Etagen auf die Polizeibeamten zu werfen. Ich bekam mehr und mehr Angst. Inzwischen flogen auch Einrichtungsgegenstände, Schränke und Kühlschränke aus den Fenstern. Die Polizei versuchte, die verbarrikadierte Tür mit dem Räumpanzer einzudrücken. Wir Ostler waren vollkommen überfordert mit dieser krassen Form der Gewalt. Das war wie im Krieg! Mit den Gewalterfahrungen der DDR-Volkspolizei gegen Andersdenkende im Hinterkopf hatte ich nur noch einen einzigen Gedanken: „Wenn die Polizei hier reinkommt, schlagen die uns tot!“ Es gelang ihnen, ins Haus einzudringen. Stundenlang versuchten sie, von Etage zu Etage bis zu uns Besetzern vorzudringen. Die Barrikaden und Wurfgeschosse konnten das Ganze nur verzögern, nicht aber aufhalten.

Es war inzwischen schon Mittag und unten vor dem Haus hatten sich etwa 1.000 Befürworter der Besetzung zu einer Unterstützerdemonstration versammelt. Nun hatte die Polizei an zwei Fronten zu kämpfen. Immer mehr Polizei-Verstärkung traf ein. Auch die Demonstranten wurden immer mehr und immer aggressiver. Wir hatten uns inzwischen in das oberste Stockwerk zurückgezogen. Wir hörten die Polizei, die mit schwerem Räumgerät Treppenstufe für Treppenstufe erkämpfte und immer näher kam. Wir hatten fürchterliche Angst. Ich fühlte mich wie in einer Hinrichtungszelle. Auch in dieser Situation gab es ein weiteres Plenum. Es wurde beschlossen, dass alle auf das Dach steigen. Dort sollten wir eine Menschenkette um den Rand des Daches bilden. Alle sollten sich anfassen und der Polizei drohen, dass wir gemeinsam in den Tod springen, wenn die Räumung nicht sofort beendet würde. Das war zu viel. Wir drei Ostdeutschen legten Veto ein. Egal, was die anderen machten, wir würden nicht mit auf das Dach klettern und unser Leben aufs Spiel setzen. Wir waren froh, im Westen gelandet zu sein. Dafür hatten wir lange gekämpft. Wir kannten das Leben in einer Diktatur. Wir waren froh über die Möglichkeiten, die uns der Westen bot. Da springen wir doch nicht vom Hochhaus, um als Märtyrer zu sterben. Ob es nun in unseren Augen gerecht oder ungerecht war, dass das Haus geräumt wurde, spielte in diesem Moment keine Rolle. Die Westberliner Besetzer versuchten, uns zu überzeugen, dass wir doch zusammenhalten müssten. Und das ginge nur, wenn wir alle auf das Dach klettern würden. Wir drei Ostler weigerten uns beharrlich. Man hielt uns nun zwar für komplett verrückt, feige und unsolidarisch, aber da mussten wir durch. Wir wollten sehen, was uns das neue Leben in der unbekannten Gesellschaft noch bringt und nicht auf das Dach klettern und gemeinschaftlich runterspringen. Selbst wenn das nur als Drohung geplant war. Sobald einer die Nerven verliert, stolpert, fällt oder springt, fallen alle hinterher.

Wir beschlossen, uns in dem Raum, in dem wir saßen, einzuschließen. Bis die Polizei uns räumt. Wir bekamen noch Anweisungen, wie wir uns besonders schwer machen können, wenn sie uns raustragen, und wie man die Fingerabdrücke bei der erkennungsdienstlichen Behandlung verwischt. Die Polizei kam immer näher. Wir sangen gemeinschaftlich Ton-Steine-Scherben-Lieder: „Das ist unser Haus …“ Doch der Kampf war schon lange entschieden. Polternd schlugen sie mit schwerem Räumgerät an die letzte verbliebene Tür, „… uns kriegt ihr hier nicht raus …“. Mit einem lauten Knall zerbrach die Tür in 1.000 Stücke. In voller Panzerung drang die Polizei in unser letztes Rückzugsgebiet ein. Wir hatten uns alle gegenseitig eingehakt. Die wütenden Beamten gingen nicht gerade zimperlich mit uns um. Einer nach dem anderen wurde aus dem Raum getragen. Ängstlich saß ich im Polizeiwagen und erwartete nun U-Haft und einen Gerichtsprozess. Doch nach nur einer Stunde war ich wieder frei. Nicht mal die Finderabdrücke hatte man mir abgenommen. Es gab auch Besetzer, die länger verhört wurden, aber nach ein paar Stunden waren alle wieder frei. Die Ermittlungsverfahren wegen schweren Landfriedensbruchs wurden alle nach kurzer Zeit wieder eingestellt. Der Westen tickte wirklich anders!


Daniela und Geralf mit Hausbesetzertranspi


Grenzüberschreitung — Der wilde Osten stürmt den Westen (Fotomontage)

Zwischen Aufbruch und Randale

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