Читать книгу Zwischen Aufbruch und Randale - Geralf Pochop - Страница 12

DER FALL DER MAUER

Оглавление

Kurz vor unserer „Übersiedlung“ nach Westberlin trampten Daniela und ich im Herbst 1989 nach Venedig. Wir wollten noch einmal in den Süden, ins Warme. Uns war bewusst, dass, erst einmal in der Mauerstadt angekommen, Reisen für uns nicht mehr möglich sein würden. Die Transitstrecken durch die DDR durfte ich als Fluchthelfer nicht mehr befahren, Daniela als Republikflüchtige sowieso nicht. Also machten wir uns ein letztes Mal von Braunschweig aus auf den Weg.

Dass der Brennerpass auf unserer Reiseroute lag, wussten wir vorher nicht. In 1370 Metern Höhe verbrachten wir unsere erste Nacht im Freien. Es herrschten Minusgrade und wir froren, aber im Dunkeln konnten wir nicht weitertrampen. Am nächsten Tag nahm uns dann ein Alt-Hippie mit. Die ganze Zeit über fuhr er nie schneller als 50 km/h. Und er fluchte über jeden einzelnen, der ihn überholte. Und es überholten alle!

Als wir in Venedig ankamen, lernten wir einen Punk kennen. Wir fragten ihn nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Er lud uns zu sich ein. Es gibt also doch Zusammenhalt im Westen. Vor einem Bankgebäude deutete er an, dass wir unser Ziel erreicht hätten. Verwundert sahen Daniela und ich uns an. Wir verstanden nur Bahnhof. Er zeigte auf einen Lüftungsschacht, aus dem warme Luft kam. Dann holte er aus einem Versteck einen keimigen Schlafsack hervor und legte sich damit an das Schachtgitter. Nun verstanden wir. Er war obdachlos und bot uns an, in seiner Nähe zu schlafen. So was kannten wir Ex-Ossis nicht. In der DDR lebten alle Punks und andere Aussteiger entweder in still besetzten Wohnungen bzw. Häusern oder noch bei ihren Eltern. Manche hatten auch legale Wohnungen, die sie über die verschiedensten Tricks ergattert hatten, denn auf normalem Weg war es ausgeschlossen, an eine Wohnung zu kommen. Zehn Jahre und mehr dauerten die Wartezeiten. Wer bei seinen Eltern rauswollte, wurde von anderen Punks aufgenommen, bis er selbst eine Bleibe fand. Obdachlosigkeit gab es in der subkulturellen Szene damals nicht. Wir waren geschockt, und wenig begeistert suchten wir uns eine eigene Schlafstätte unter freiem Himmel.

Venedig war für uns sehr exotisch. Die Bauten, die Kanäle mit den Gondeln und der überfüllte Markusplatz. Abgelegen vom Touristenrummel fanden wir die verfallenen Gassen, die in dem ungewöhnlichen Grusel-Thriller Wenn die Gondeln Trauer tragen und Klaus Kinskis Nosferatu in Venedig als Filmkulisse dienten.

An einem Zeitungsladen sahen wir plötzlich Leipzig und Halle (Saale) auf dem Titelblatt. Was da stand, war für uns nicht verständlich, aber die Bilder sprachen für sich. Riesige demonstrierende Menschenmassen mit Plakaten in den Händen, auf denen Reformen und Demokratie gefordert wurden. Wir konnten es kaum glauben. In einer Kneipe lief ein Fernseher. Auch dort dieselben Bilder. In der DDR brodelte es. Und besonders in Leipzig und Halle (Saale). Auch wenn wir nichts verstanden, erkannten wir die Orte sofort, an denen sich diese Ereignisse abspielten.


Geralf auf dem Markusplatz in Venedig


Am Schauplatz des Films „Wenn die Gondeln Trauer tragen“


Oktober 1989 — Trampen nach Venedig

Als wir wieder zurück in Westberlin waren, verfolgten wir jede Meldung über die Montagsdemonstrationen, über die Reformbewegung, über die Massenausreisen. „Wenn es jetzt so in der DDR zugeht, werden die bald Waffen einsetzen. Die Reformbewegung wird blutig niedergeschlagen. Wie in Peking“, dachte ich damals. Nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 3. und 4.6.1989 verurteilte fast die ganze Welt die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung. Nur wenige Länder, darunter die DDR und die Sozialistische Republik Rumänien mit ihrem Diktator Nicolae Ceauşescu, gratulierten China. Das Politbüro der SED entwarf eine Resolution, in der die DDR ihre Unterstützung für die Niederschlagung der „konterrevolutionären Unruhen“ bekannt gab.

Die Nachricht an die DDR-Bevölkerung war klar. Wenn es hier zu einer ähnlichen Demokratie-Massenbewegung kommt, wird diese mit Gewalt niedergeschlagen.

Seit der Flucht Danielas waren wir auch im Westen auf der Hut vor der Staatssicherheit. Und auch auf der Hut vor den BRD-Beamten. Daniela war minderjährige Republikflüchtige, ich ihr Fluchthelfer. Auf einem Amt hatte man mir erklärt, dass geflüchtete Jugendliche unter 18 Jahren wieder in die DDR abgeschoben werden. Also haben wir einfach das Geburtsdatum von Daniela geändert, sodass sie offiziell volljährig war. Doch wir waren trotzdem vorsichtig und meldeten sie nirgendwo an.

Wir hatten solch eine Angst, dass die Staatssicherheit herausbekommt, wo wir uns aufhielten, dass wir falsche Spuren legten. Ein Telegramm aus Amsterdam: „Wir wohnen jetzt hier. Uns geht es gut. Liebe Grüße…“. Eine Postkarte aus Venedig: „Leben jetzt in Italien…“. Solche Mitteilungen schickten wir aus dem Ausland an unsere Verwandten. Wohlwissend: Die Staatssicherheit liest mit. Der DDR-Geheimdienst sollte nicht herausfinden, wo wir uns wirklich aufhielten. Wir hatten paranoide Angst davor, dass Daniela entführt und zurück in den Osten gebracht werden könnte. Dass diese Gefahr real war, erkannte ich später, als ich die Graphic Novel Todesstreifen: Aktionen gegen die Mauer in West-Berlin 1989 der beiden Hallenser Dirk Mecklenbeck und Raik Adam las. Selbige, auch in der Hallenser Subkultur großgeworden, wurden von der Stasi verfolgt und waren schließlich nach Westberlin ausgereist. In der Graphic Novel schildern sie ihre Aktionen mit Transparenten und Molotowcocktail-Anschlägen gegen die verhasste Mauer. Ein Fakt bescherte mir besondere Gänsehaut: Sie wurden tatsächlich von einem eingeschleusten IM der Staatssicherheit in Westberlin beobachtet und ausspioniert.

Wer weiß, wie alles ausgegangen wäre, wenn es nicht die unvorhersehbaren Ereignisse am 9.11.1989 gegeben hätte. An diesem Tag besuchte uns Danielas Oma, die als Rentnerin in den Westen reisen durfte. Sie sah ihre Enkelin zum ersten Mal seit der dramatischen Flucht über Ungarn im August 1989 wieder. Wir brachten die Oma zur Grenze. In Ostberlin warteten Danielas Eltern. Diese durften nicht über die Mauer, um ihre Tochter zu sehen zu. Sie nahmen die Rentnerin in Empfang und fuhren wieder zurück nach Halle (Saale). Dort wurden sie von Freunden mit den Worten empfangen: „Die Mauer ist offen!“ – „Quatsch, wir kommen ja gerade von da. Da ist alles wie immer.“

Etwa zur gleichen Zeit erreichte uns aus dem Fernsehen dieselbe Nachricht. Auch wir nahmen das erst nicht für voll. Die Mauer offen? Was für ein Unsinn! Die Mauer wird nicht nur noch 100 Jahre bestehen, sondern ist für die Ewigkeit. Das war unsere feste Meinung. Doch die Nachrichtenflut nahm nicht ab. Ungläubig machten wir uns auf den Weg zur Mauer. Wir wohnten nicht weit entfernt. Und tatsächlich, das Betonungetüm hatte ein Loch bekommen. Massen von Ostberlinern strömten hindurch. Auf der Mauer standen unzählige Menschen. Grenzbeamte versuchten, für Ordnung zu sorgen. Immer wieder holten sie einige Personen vom sogenannten Antifaschistischen Schutzwall. Doch der so entstandene Freiraum wurde sofort von neuen Menschen aus Ost und West gefüllt. „Das muss ein Trick sein“, ging es mir durch den Kopf. Die lassen alle, die rüber wollen, raus und machen dann die Mauer wieder dicht. Eine Reise ohne Rückfahrschein! Genau wie bei mir. So wird man alle unliebsamen DDR-Bürger auf einen Schlag los. Und dann errichten die eine noch viel schlimmere Diktatur. Noch viel repressiver. Ohne irgendeinen kleinen Freiraum. Ohne irgendeine Chance auf Mitspracherecht für Bürger. Ohne eine Opposition. Ohne eine Subkultur.


Dirk, Daniela und Geralf auf einem DDRGrenzwachturm 1990


10. Nov. 1989 — die ersten Hallenser Freunde haben die Mauer durchdrungen


Geralf und Dirk im Mauerturm 1990


10. November 1989 — wir feiern mit Hallenser Freunden den Mauerfall


Geralf im Oktober 1989 bei einer Demonstration gegen die Mauer in Westberlin


Die Mauer bekommt Löcher


Wut auf die Mauer


9. November 1989


Geralf als Mauerspecht


Daniela als Mauerspecht

Doch die Mauer blieb auf. Am nächsten Tag trafen die ersten Freunde aus Halle (Saale) bei uns ein. Die Freude war groß. Wir feierten an der Mauer. Mit spritzenden Sektpullen. Zusammen mit Tausenden anderen. Glauben konnte ich es immer noch nicht. Doch die Löcher, die mit Hämmern aus der Mauer geschlagen wurden, sprachen eine eigene Sprache. Die Grenze war offen. Es wird eine neue, bessere, reformierte DDR geben. Eine DDR mit offenen Grenzen. Eine DDR, in der das Volk Mitspracherecht hat. Eine demokratische DDR. Dass es bald eine Wiedervereinigung Deutschlands geben würde, das lag weit jeglicher Vorstellungskraft. Für Menschen in meinem Alter gab es auf deutschem Boden schon immer zwei Länder. Die BRD und die DDR. Alles andere kannten wir nur vom Hörensagen.

In den folgenden Monaten waren wir fast täglich in Ostberlin. Wir besuchten unsere Freunde und feierten in der Friedrichshainer- und Prenzlauer-Berg-Subkulturszene viele Partys. Es gab immer noch die Ost- und die West-Mark. Für eine West-Mark bekam man auf dem Schwarzmarkt acht bis zehn DDR-Mark. Für zehn DDR-Mark konnte man in den Gaststätten der DDR zwei Mittagessen inklusive Getränke bestellen. Somit liefen wir fast jeden Tag über die Oberbaumbrücke zum Essen in die DDR-HO-Gaststätten. Die unfreundlichen Kellner und die bescheuerten „Sie-werden-platziert“-Schilder auf allen Tischen nahmen wir nun lächelnd gerne in Kauf. Auch unsere täglichen Einkäufe erledigten wir nun wieder in den DDR-Kaufhallen, während sich die Ostdeutschen im Aldi, Penny oder bei Bolle drängten und sich mit Westberlinern darüber stritten, ob die unsinnige „Rundgangnur-mit-Korb“-DDR-Regel auch hier gelte. In Westberlin gab es nun Schlangen wie früher im Osten üblich. Einige Einkaufsketten und Läden stellten Securitys ein, um die Zahl der Einkäufer, die gleichzeitig in die Läden wollten, zu begrenzen. In den Kaufhallen in Ostberlin mit ihren Ostprodukten dagegen gab es nun keine Schlangen mehr an den Kassen.

Die Mauer verschwand zusehends. Überall hämmerten Souvenirjäger und pfiffige Händler Stücke aus der Mauer. Auch wir hämmerten weiter. Nicht nur um so unsere Verachtung für dieses unmenschliche Bauwerk auszudrücken. Es gab noch einen anderen Grund. Der eigentliche Mieter unserer Wohnung, ein 1984 aus der DDR ausgereister Ex-Punk, reiste in dieser Zeit um die Welt. Er war gerade in Australien und wollte so viele Mauerstücke, wie wir nur schicken konnten. Diese verkaufte er dort teuer und konnte seine weitere Reise finanzieren. So kam es, dass Teile der Mauer doch noch zu etwas Gutem verwendet werden konnten und wir die schweren Pakete mit asbestverseuchten, bunten Steinen quer durch die Welt bis nach Australien schickten.

Zwischen Aufbruch und Randale

Подняться наверх