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ANKUNFT IM „GOLDENEN WESTEN“

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„Geralf komm sofort!“ Ausreise-Telegramm


Indentitäts-Bescheinigung zur Ausreise in die BRD

Sektkorken knallten auf dem Bahnhof in Wolfsburg. Ein Freund, der schon 1984 ausgereist war, hielt noch viele Sektflaschen in den Händen. Meine „Fast-Frau“ Antje, die mich beinahe durch eine Scheinehe aus der DDR herausgeheiratet hatte, empfing mich jubelnd. Endlich war ich im Westen angekommen. Der Weg dorthin war steinig. Er führte mich durch viele Verhöre der Staatssicherheit über Umwege als politischer Gefangener in den DDR-Knast. Doch nun hatte ich es geschafft. Ich war gespannt auf das fremde Land, in das schon so viele meiner Freunde ausgereist waren. Bunte Lichter und Werbetafeln mit den bis dahin unzugänglichen Westprodukten empfingen mich in Braunschweig. Was wird mich hier erwarten? Normalerweise kamen alle Abgeschobenen, Freigekauften und Ausgereisten in das Erstaufnahmelager in Gießen. Das lehnte ich aber kategorisch ab. Ich hatte keinen Bock mehr, eingesperrt zu sein. Keinen Bock mehr auf DDR-Bürger. Keinen Bock mehr auf den Osten. In ein Lager wollte ich nicht gehen. So führte mich mein Weg direkt wieder in eine Außenseiterrolle. „Sie müssen in das Aufnahmelager in Gießen“, sagten sie mir auf allen Ämtern, die ich aufsuchen musste, um „richtiger“ BRD-Bürger zu werden. Ich weigerte mich. Und siehe da, es gab eine Möglichkeit. Alle erforderlichen Behördengänge ließen sich auch in Braunschweig erledigen. Es dauerte zwar etwas länger und ich musste viel diskutieren, aber so nach und nach hatte ich alle notwendigen Papiere in der Hand.

Der Westen faszinierte mich am Anfang. Aber er überforderte mich auch komplett. Alles, was ich 25 Jahre als DDR-Bürger gelernt hatte, galt hier nicht mehr. Damit meine ich nicht die sozialistische Propaganda, sondern meine Lebenserfahrung. Einkaufen wurde zum totalen Stress. Zu einer Grenzerfahrung. Beim Bäcker gab es plötzlich Unmengen verschiedener Sorten Brot und Brötchen. In der DDR gab es immer nur eine Sorte Brötchen und eine Sorte Brot. Und das DDR-weit. Beim Fleischer gab es zigtausend Sorten Wurst und Fleisch. Im Osten gab es fast keine Auswahl. Höchstens wenn man Beziehungen hatte. Fliesen gegen Wurst und Fleisch. „Können Sie meinen Fernseher reparieren? Dann muss ich nicht acht Wochen auf die Reparatur warten.“ Im Gegenzug bekam man dann etwas von der „Bückware“. Also Ware, zu der der Fleischer sich dann unter die Ladentheke bücken musste, um sie heimlich hervorzuholen. In Papier verpackt, sodass niemand sehen konnte, was im Päckchen war. Selbst der bevorzugte Käufer wusste nicht, was er kaufte. Ich war vollkommen überfordert vom riesigen Angebot an Obst, Gemüse und Käse. In der DDR gab es meistens nur eine Sorte Käse und bei Obst oder Gemüse kaufte man das, was vorrätig war, sofern es überhaupt etwas gab. Meistens ging man mit leeren Händen aus dem Laden. Hier wurde ich von der Warenvielfalt fast erschlagen.


Der erste Hamburger im „goldenen Westen“

Als ich den ersten Punk in Braunschweig sah, ging ich freudestrahlend auf ihn zu und sprach ihn an. Da er sehr reserviert reagierte, fragte ich zur Gesprächsauflockerung pro forma nach einem Schluck Bier. Das war in der gesamten DDR die ganz normale, tägliche Kontaktaufnahme der subkulturellen Jugendlichen untereinander. So kam man überall schnell ins Gespräch. Dieser Zusammenhalt war selbstverständlich und überlebensnotwendig in der Diktatur des Proletariats. „Kauf dir dein Bier doch selber!“, lautete die unerwartet unfreundliche Antwort. So etwas hatte ich weder in meiner gesamten Zeit in der DDR-Subkultur noch in der ungarischen oder tschechoslowakischen Szene zu hören bekommen. Mein Interesse daran, diesen, ersten „Westpunk“ kennenzulernen, sank im selben Moment gegen null. „Hier scheinen die Uhren anders zu ticken“, ging es mir durch den Kopf.

Ständig war ich überreizt und fand mich nicht wirklich in der neuen Welt zurecht. Von früher ausgereisten Punks wusste ich, dass so etwas als „Mauerpsychose“ diagnostiziert werden kann. Also ging ich in Braunschweig erst einmal zum Psychiater. Wie schon auf allen Ämtern der Stadt war ich auch in der Arztpraxis der Erste mit solch einem Anliegen. Der Arzt konnte mit mir nichts anfangen und schickte mich nach Hause. Da ich eine Adresse von einem Arzt in Westberlin hatte, der sich auf diese Art Psychose spezialisiert hatte, entschloss ich mich, nach Westberlin zu trampen. Leider lag Westberlin inmitten der DDR. Mich schauderte bei dem Gedanken, wieder durch dieses verhasste Land fahren zu müssen. „Was, wenn die mich auf der Transitstrecke aus dem Auto zerren?“ In Helmstedt staute sich der Verkehr an der Ostgrenze. Viele Tramper und Tramperinnen sprachen die Autofahrer an und suchten eine Mitfahrgelegenheit. Ich hatte Glück. Zwei Frauen, um die 30 Jahre alt, alternativ aussehend, nahmen mich mit. An der Grenze hatte ich ein sehr ungutes Gefühl, aber die Grenzer ließen uns passieren. Ich hatte ja inzwischen einen westdeutschen Pass, gehörte nun offiziell zwar zum Klassenfeind, aber war als Einzelperson nicht mehr interessant. Froh über die verhältnismäßig unkomplizierte Grenzüberschreitung fuhr ich nun in einem Westauto durch mein altes Heimatland. Doch meine Freude war nicht von langer Dauer. Nicht weil die feindliche Staatsmacht außerhalb des Autos lauerte. Nein, ich musste erkennen, dass ich aufgrund meines Geschlechts zur Zielscheibe wurde. Die beiden Frauen begannen ein Gespräch darüber, ob es im Osten eine Frauenbewegung gebe und klärten mich über Sexismus in der DDR auf. Ich wusste zunächst so gar nicht, was diese beiden Damen von mir wollten. Da ich keine Antworten geben konnte, ob es in der DDR eine Frauenbewegung gab oder nicht, fingen sie an, mich zu beschimpfen. „Warum haben diese beiden Frauen mich überhaupt mitgenommen?“, ging es mir durch den Kopf. Sie erinnerten mich mehr und mehr an die besoffenen Proletarier-Frauenkollektive, die sich jedes Jahr am 8. März, dem Internationalen Frauentag, gemeinschaftlich während der Arbeitszeit in den DDR-Produktionsstätten volllaufen ließen und jeden, der vorbeikam, mit vulgären Sprüchen belästigten. Oh, wie ich den 8. März in der DDR hasste. Doch hier im Auto saßen keine vollgesoffenen Proletinnen untersten Niveaus. In der DDR hätte ich die zwei Frauen aufgrund ihrer Optik eher in die alternative kirchliche Friedensbewegung eingeordnet. Am liebsten wäre ich ausgestiegen, aber das war mitten auf der Transitstrecke nicht möglich. Eingesperrt in einem Westauto auf der DDR-Autobahn. Na danke. Die beiden Damen im Auto meckerten immer noch auf mich ein. Weil ich ihnen keine Antwort auf ihre Fragen geben konnte, fühlten sie sich immer mehr in ihrer Meinung bestätigt. Alle Männer seien Sexisten. Sonst würde ich ja von den unterdrückten Frauen in der DDR etwas wissen. Da sie mich inzwischen nur noch anbrüllten, war ich froh, als endlich die Grenze zu Westberlin in Sichtweite war. Die Kontrolle durch den Grenzbeamten nahm ich gar nicht mehr wirklich wahr. Sobald wir die Grenze passiert hatten, flüchtete ich aus dem Auto. Ich verstand den Westen und die darin lebende Bevölkerung immer weniger. Der Westberliner Psychologe allerdings verstand mich. „Sie haben eine Mauerpsychose“, sagte er und schrieb mich drei Monate krank. Damit ich erst mal im Westen ankommen konnte.


1989 beim Bizarre-Festival auf der Loreley

Zwischen Aufbruch und Randale

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