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PASST BLOß AUF! SAALEPOWER!

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1990 besuchte ich das erste Mal seit der Ausreise aus der DDR meine Heimatstadt Halle (Saale). Es hatte sich viel verändert. Die Subkulturszene war explosionsartig angewachsen. Punks, Gruftis, Depeche-Mode-Fans, Hippies und Heavy-Metaller waren keine Seltenheit mehr. Und es gab nun auch in der Saalestadt Häuser, die richtig besetzt waren.

Es eröffnete eine Szenekneipe nach der anderen. Legal oder illegal, das war in dieser Zeit wirklich scheißegal. NÖÖ (Haus der Demokratie/Reformhaus), Zwöö, Fusch, KaffeeSchuppen, Bolldorf, Brock, Röderberg, Jägergasse, Surprise, um nur einige zu nennen. Und auch das alternative Objekt 5 wurde immer weiter ausgebaut. Es wurden mehr und mehr Häuser besetzt. Am Reileck, in der Windthorststraße, in der Thüringer Straße, in der Reilstraße, am Jägerplatz, in der Emil-Abderhalden-Straße, Beesener Straße, Körnerstraße, zwei in der Kellnerstraße und und und…

Irgendwann fingen die Hallenser an, extra für Partys Häuser zu besetzen. Eine Villa am Neuwerk war ideal. In dieser fand die erste „Villakonfiszierungsparty“ statt. Etwa 400 Punks und Alternative erschienen allein durch Mundpropaganda. Flyer oder Plakate gab es nicht. Soweit ich mich erinnern kann, spielten unter anderem Müllstation, N.F.P. und KVD. N.F.P. hatten hier den kürzesten Auftritt ihrer Bandgeschichte. Einer der Musiker fiel etwas angetrunken in die Anlage, direkt neben den Techniker. Hit des Abends wurde die Hallenser-Dialekt-Endlos-Party-Punk-Version „Keene Klääche haben mir“ (zu Hochdeutsch: „Keine Arbeit haben wir“) von der eben neu gegründeten Band Klabusterbären.

Mit meinen alten Freunden traf ich mich damals meist im AfA (auch Antifa – später in GiG umbenannt) in der Reilstraße, das besetzte Haus der alten DDR-Punkszene. Im AfA war immer was los. Jeden Tag Partys, Punkdiskos oder Konzerte. Als die Toten Hosen 1990 in der Hallenser Easy Schorre spielten, kamen sie nach ihrem Auftritt mit ins besetzte Haus. Dort spielten sie noch einmal ihr ganzes Set und feierten mit uns die ganze Nacht. Ohne Gage! Die Stimmung war noch besser als zuvor beim eigentlichen Konzert. Auch Die Goldenen Zitronen kamen nach einem Auftritt in der Easy Schorre mit ins AfA und musizierten im besetzten Haus noch einmal.

In der Easy Schorre spielten Musiker*innen und Bands wie Einstürzende Neubauten, Abwärts, Feeling B, Rio Reiser, Sandow, Anne Clark, Sonic Youth, Bad Religion, Toy Dolls, Knorkator, The Inchtabokatables, Phillip Boa und viele mehr. Sogar Nirvana spielten, und eines der ersten Konzerte von Rammstein fand dort statt. Besonders lustig waren vor allem die Feeling-B-Konzerte, da Auftritte dieser Band schon immer sehr speziell waren. Chaotisches Anarcho-Theater in einer Endlosparty!




Die Toten Hosen 1990 in der Hallenser Easy Schorre. Nach dem Auftritt kamen Campino und Co. mit zu einer Party ins besetzte AfA (GiG) und spielten dort spontan ihr Konzert nochmal gratis.


Phillip Boa 1990 in der Hallenser Easy Schorre. Zwischen den Monitoren sieht man den Kopf von „Südstadt-Schmidt“, dem Gang-Leader der Red Bombers.


Party/Konzert im AfA (GiG) 1990



Party in einem besetzten Haus in Halle (Saale) 1991

1988 war ich in Berlin bei einem Auftritt der Band Magdalene Keibel Combo, in der auch Paul und Flake von Feeling B musizierten. Nach dem Konzert ging ich mit anderen Gästen zu einer Party. Am nächsten Morgen begab ich mich dann zur Trampstelle. Mich begleitete derjenige, der mich am Vortag zur Party eingeladen hatte. Ich fragte ihn, wo er hinwolle. Er antwortete: „Nach Dresden. Da spielt heute Die Firma.“ Ich erwiderte: „Ach, du willst heute wieder zu einem Punkkonzert?“ Seine Antwort verdutzte mich: „Ja, ich spiele doch bei Die Firma.“ Es stellte sich heraus, dass er auch am Vortag bei der Magdalene Keibel Combo mit auf der Bühne gestanden hatte. Es war Paul von Feeling B. Von nun an lud Paul mich immer in den Backstage ein, wenn sie in Halle (Saale) spielten. Da traf ich dann auch Flake, den ich schon von diversen Untergrund-Partys im Prenzlauer Berg und Friedrichshain kannte.

Als Feeling B noch vor der Grenzöffnung in Westberlin spielten, war ich natürlich da. Das Ganze glich einem Treffen der DDR-Punk-Exilgemeinde. Richtige Westberliner waren nicht oder kaum vor Ort. Ich glaube, es war Paul, der damals sinngemäß zu mir sagte: „Es ist genau wie im Osten – ich kenne ja jedes Gesicht hier.“

Die Bühnenshows von Feeling B waren immer sehr ausgefallen. Eine Besonderheit war die Slamer-Maschine. Auf diese wurde ein Freiwilliger gelegt, der einen Helm aufgesetzt bekam. Nun wurden ihm mithilfe eines Trichters Sekt und Tequila eingeflößt. Danach schlug man entweder mit einem Hammer auf den Helm oder man hob den Kopf des „Opfers“ immer wieder hoch und ließ ihn mit voller Wucht auf das unter ihm liegende Holzbrett fallen. Der Feeling-B-Sänger Aljoscha sang einen Slamer-Song und der ganze Saal pogte dazu. Der Freiwillige bekam meistens nichts mehr vom weiteren Konzertverlauf mit.

Auch ich wollte einmal wissen, wie sich der Slamer-Rausch anfühlt und kletterte auf die Bühne. Als der Hammer dann immer wieder auf den Helm krachte, sah ich Sterne. Der Sekt schoss durch meine Nase. Es brannte fürchterlich. Als ich aufstehen wollte, stürzte ich. Nur mit viel Mühe erhob ich mich und torkelte zurück ins Publikum. „Mix mir einen Drink, mix mir einen Drink, mix mir einen Drink, der mich woanders hinbringt“, hörte ich Feeling B noch singen, war aber schon in einer ganz anderen Dimension angekommen.

Bei ihrer Maske-des-roten-Todes-Tour hatten sie in Halle (Saale) eine neue Slamer-Maschine auf der Bühne. Ein drehbares Holzkreuz oder Holzgerüst. An dieses wurde ein Freiwilliger angebunden. Wie gehabt wurden ihm dann Sekt und Tequila eingetrichtert. Dann wurde die Slamer-Maschine mit vollem Schwung gedreht. Doch irgendetwas lief schief. Blut spritzte aus Nase und Mund. Der Freiwillige schrie. Die Band stoppte die Rotation der Maschine. Der blutüberströmte Jugendliche bewegte sich nicht mehr. Es wurden Sanitäter herbeigerufen, die den leblos wirkenden Körper von der Bühne trugen. Dann ging das Konzert weiter. Mir war unwohl und vielen anderen ging es genauso. Sollte der Veranstalter oder die Band nach dem Geschehenen nicht besser das Konzert beenden? Die spielen einfach weiter, als wäre nichts passiert. Rufe nach Abbruch des Konzerts wurden laut. Da erschien plötzlich der Slamer-Freiwillige fröhlich grinsend auf der Bühne. Das Ganze war inszeniert. Mit Kunstblut. Ob wohl damals schon die Idee, eine Band wie Rammstein zu gründen, in den Köpfen einiger Feeling-BMusiker rumgeisterte?

1994 hatten Feeling B auf dem legendären Steinbrücken-Open-Air bei Nordhausen ihren letzten Auftritt, und Paul und Flakes neue Band Rammstein trat zum ersten Mal auf. Kurze Zeit später spielten Rammstein dann in der Hallenser Easy Schorre als Vorband von Sandow. Durch ihre Musik und ihre Feuer-Bühnenshow beeindruckten sie so stark, dass viele nach der Umbaupause gar nicht mehr zur Hauptband reingingen. Ich auch nicht.

1990 besetzten auch die Nazis ein Haus. Weit weg von der Innenstadt. Hinter Halle-Neustadt, in der Kammstraße. Das Haus fungierte als rechte Schaltzentrale und zog Neonazis aus ganz Deutschland an. Die Nazis versuchten, in Halle (Saale) und anderen ostdeutschen Städten immer wieder alternativ besetzte Häuser anzugreifen. Doch die Hallenser Hausbesetzerszene war darauf vorbereitet. Viele der Hallenser Punks und Hausbesetzer waren direkt nach der Wende von einem der Szene wohlgesonnenen Kampfsportler ausgebildet worden. So konnten die Angriffe auf die Häuser meist gut abgewehrt werden. In der Innenstadt hatten eh die Punks und Hausbesetzer das Sagen. In den Betonghettos Halle-Neustadt und Halle-Silberhöhe war es dagegen gefährlich, als Punk oder alternativ aussehender Jugendlicher rumzulaufen. Als den Bewohnern des AfA die immerwährenden Angriffe der Nazis zu viel wurden, holten sie zum Gegenschlag aus.

„Bei einem weiteren Angriff wehrten wir die Nazis nicht nur ab“, berichtet ein Zeitzeuge. „Alle rannten nach draußen und wir verprügelten jeden, den wir kriegen konnten. Ein paar der Angreifer wurden ins Haus gezerrt. Dort zeigten wir unser Sammelsurium an Dingen, mit denen wir zukünftige Angriffe abwehren würden. ‚Wenn ihr das nächste Mal angreift, setzen wir das ein. Richtet das den anderen aus.‘ Dann wurden sie wieder aus dem Haus geworfen. Soweit ich mich erinnere, gab es danach keinen weiteren Angriff auf das AfA.“

Dafür wurden immer wieder die besetzten Häuser in der Kellnerstraße angegriffen. Diese befanden sich direkt neben dem Polizeigebäude, dem ehemaligen VPKA. Die Beamten ließen sich bei solchen Attacken so gut wie nie blicken. Somit musste die Verteidigung selbst in die Hand der Besetzer genommen werden. Es gab brutale Straßenschlachten vor dem Haus. Einmal steuerte ein Nazi mit Vollgas auf eine vor dem Haus stehende Menschengruppe zu. Ein anderes Auto, das gerade in die Kellnerstraße einbog, erkannte die Gefahr, gab Vollgas und rammte das Nazigefährt. Mit ohrenbetäubendem Motorheulen versuchten sich die beiden Autos gegenseitig wegzuschieben. Das Auto mit dem Nazi unterlag und er flüchtete. Wäre seine Aktion geglückt, hätte es auf jeden Fall Tote gegeben.

Es ging oft um Leben und Tod. Sobald sich Nazis und Punks, Hausbesetzer oder Autonome auf der Straße trafen, knallte es. Fast jeder war bewaffnet. Mit Knüppeln, Gas- und Schreckschusspistolen und Messern. Dazu kamen noch Sachen aus dem Fundus der sowjetischen Armee. Die abziehenden Soldaten verscheuerten damals ihre Waffen zu Spottpreisen, so hieß es. Zog jemand eine Pistole, dann wusste man nie, ob es sich um eine Schreckschusspistole oder eine scharfe Waffe aus russischen Beständen handelte.

Einige Zeit später rammten Nazis auf der Hochstraße nach Halle-Neustadt das Auto einer Freundin und versuchten, sie von der Straße zu drängen. Immer wieder rammten sie ihr Auto. Zum Glück hielt sie dem stand. Ein Sturz aus etlichen Metern Höhe wäre sonst die unausweichliche Folge gewesen.

Eines Tages, als ich mit drei Freunden im Auto in die Kellnerstraße einbog, kamen gerade etwa 40 brüllende und mit Knüppeln bewaffnete Neonazis angerannt. Wir rissen die Türen des Autos auf und sprangen raus, direkt ins besetzte Haus. Hinter uns wurde die Stahltür verbarrikadiert. Mein Auto hatte ich schon abgeschrieben. Als wir dann aus dem Fenster sahen, war es auch schon verschwunden. Ich hatte den Schlüssel stecken lassen, um schnellstmöglich ins Haus zu gelangen.


Bericht der MZ 1990 über das besetzte Haus AfA (später GiG). Auf dem oberen Bild im Artikel sieht man KVD und nicht Sonnenbrille wie fälschlicherweise im Artikel steht.



Die Angreifer standen grölend vor dem Haus und versuchten, die Tür aufzustemmen. Alles, was wir greifen konnten, schmissen wir aus den Fenstern auf die Rechtsradikalen. Erst jetzt fiel uns auf, dass zwei meiner Begleiter fehlten. Sie waren auf der Rückbank meines Autos und hatten es nicht geschafft, schnell genug aus dem Zweitürer zu entkommen. Als die Angreifer verjagt waren, machten wir uns auf die Suche nach ihnen. Nach etwa einer Stunde fanden wir sie. Das Auto hatte einige Schäden abbekommen, unsere Freunde aber waren heil. Sie waren nach vorne gesprungen und mit Vollgas durch die Nazihorde gefahren, während diese mit Knüppeln auf das Auto einschlugen, und konnten so entkommen. Wie wir später erfuhren, waren die Nazis extra aus dem Westen angereist, um die Kammstraße zu besuchen.

Als dann das Haus in der Kellnerstraße wieder einmal angegriffen wurde, beschloss die Hallenser Szene Stärke zu demonstrieren. Etwa 100 Punks, Hausbesetzer und Autonome marschierten, ganz in Schwarz gekleidet und komplett vermummt, mit Knüppeln bewaffnet durch die Stadt. Es wurden Nazitreffpunkte angesteuert. Eine Polizeistreife beobachtete aus weiter Ferne das schwarze Treiben. In einer Kneipe am Rannischen Platz traf die Gruppe auf Rechtsradikale. Einer von ihnen zog eine scharfe Waffe. Es kam zu einer Patt-Situation. Niemand wollte zurückweichen. Es kam zu keinem direkten Schlagabtausch. Doch die Besetzer konnten so trotzdem Stärke und Präsenz zeigen und dass sie sich keine weiteren Überfälle mehr gefallen lassen würden.

In dieser Zeit wurden auch immer wieder private Wohnungen gestürmt. Einige Punks siedelten nach solchen Überfällen schnellstens ins sichere Paulus-Viertel um. Infolge von Wohnungsüberfallen im Neubaughetto Silberhöhe änderte sich die dortige Situation komplett. Es gab dort nun eine sehr schlagkräftige Jugendgang, in der alle rote Bomberjacken trugen. Trafen die Red Bombers auf Nazis, ging das sehr schlecht für diese aus. Die Silberhöhe wurde immer sicherer. Wer genau diese Red Bombers waren, blieb uns allen lange Zeit ein Rätsel. Später stellte sich heraus, dass ein junger Punk namens Südstadt-Schmidt diese Gang aufgebaut hatte. Nazis hatten mehrmals seine Wohnung gestürmt, sodass er beschloss zurückzuschlagen.

In Halle (Saale) hielt damals die gesamte Subkultur gegen die Nazis zusammen. Egal ob Punk, Hippie, Grufti, Hausbesetzer oder sonstige subkulturelle Jugendliche. Die Rechten griffen überall im Land Andersaussehende an. In Halle (Saale) schlug man gemeinsam zurück. Gab es Hilferufe aus kleineren Gemeinden, kamen die Hallenser zu Hilfe. Waren Naziaufmärsche in anderen Städten, fuhren die Hallenser mit mehreren gemieteten Bussen zur Gegendemo. Auf Plakaten hieß es damals oft: Es kommen Autonome aus Berlin, Hamburg und Halle.

Als 1990 die Fun-Punkbands Abstürzende Brieftauben und Die Mimmi’s mit ihrem Festival der Volxmusik durch die DDR tourten, kam es in allen Städten zu massiven, brutalen Naziangriffen auf Gäste und Konzerte. In Dresden attackierten laut Zeitungsberichten etwa 500 Nazis das Konzert. So etwas wollte die Szene in Halle nicht zulassen, denn auch in der Saale-Stadt hatten sich die Naziskins angekündigt. Die alten Punks und Hausbesetzer, die sich eigentlich herzlich wenig für diese Veranstaltung interessierten, beschlossen, die anreisenden Jung-Punks und das Konzert zu beschützen. Etwa 100 schwarz vermummte, mit Knüppeln bewaffnete Punks und Antifas patrouillierten um die Easy Schorre, in der das Konzert stattfinden sollte. Alle Besucher konnten so sicher zum Konzert gelangen und die Nazis trauten sich nicht in die Nähe.


Für den 9.11.1991, den 53. Jahrestag der Reichspogromnacht und zweiten Jahrestag des Mauerfalls, kündigten die Nazis in unserer Saale-Stadt erstmals eine Großdemonstration an. Von allen Seiten wurde der Widerstand organisiert. Statt der angekündigten mehreren Tausend Neonazis kamen nur etwa 400 bis 500. Diese standen etwa 2.000 bis 2.500 Gegendemonstranten gegenüber. Die Nazidemo konnte nur sehr eingeschränkt und unter großem Polizeischutz stattfinden. Überall zeigten Hallenser, verbal wie auch militant, dass Halle nicht bereit ist, eine zweite „Hauptstadt der Bewegung“ zu werden. Magdeburger oder Dresdner Zustände wollte hier keiner zulassen.

Etwa drei Monate später, am 26.1.1992, brannte das Nazihaus in der Kammstraße ab. In der Zeitung stand, dass es im Vorfeld Hinweise gegeben hätte, da überall im Umfeld der Kammstraße As im Kreis gesprüht worden waren. Und das stand bekanntlich für Abfackeln. Ah ja! Es kursierten auch Gerüchte, die Nazis hätten sich verstritten und das Haus selbst angezündet. In der Hallenser Boulevard-Zeitung Express stand, dass im abgebrannten Gebäude „Nazis raus!“ zu lesen war. Was wirklich passiert war, ist bis heute nicht geklärt. Wenn ich mich recht erinnere, sollten die Nazis daraufhin das leerstehende Gebäude einer Halle-Neustädter Postfiliale als Treffpunkt überlassen bekommen, das allerdings noch vor Bezug abbrannte.

Übergriffe auf Szenetreffpunkte gab es trotz der verhältnismäßig sicheren Lage auch in Halle (Saale) immer wieder. Zum Beispiel wurde die Szenekneipe Fusch generalstabsmäßig überfallen. Laut Augenzeugen schalteten die vermummten Rechtsradikalen zuerst die Beleuchtung aus und knüppelten in der Dunkelheit brutal mit Baseballschlägern und Äxten auf alle Gäste und das Mobiliar ein. Es gab mehrere Schwerverletzte. Unter anderem erlitt eine Frau einen schweren Schädelbasisbruch.

Das alternative Objekt 5 wurde in der Nacht zum 27.9.1992 von Neonazis mit Äxten, Baseballschlägern und Schreckschusspistolen gestürmt. Autos wurden zertrümmert. Auch hier gab es Verletzte. In Halle (Saale) konnten inzwischen viele der Betroffenen mit der Losung der friedlichen Montagsdemonstrationen „Keine Gewalt!“ kaum noch etwas anfangen.

Als am 3.10.1992 im alternativen Klubkino 188 ein Film über Rechtsradikale gezeigt wurde, wozu etwa 30 Nazis als Gäste eingeladen waren, griffen etwa genauso viele Vermummte selbiges Kino an. Es gab eine Straßenschlacht zwischen den Nazis im Kino und den Angreifern. Besonders nach diesem Vorfall gab es in der Szene Diskussionen, inwieweit Gewalt legitim wäre. Darf man sich angesichts der brutalen Angriffe von rechts nur verteidigen? Oder im Sinne von „Wehret den Anfängen!“ auch angreifen? Der Song einer Hallenser Punkband beschreibt diese Situation treffend:

KVD: „Anti Inti“

Für die wahre Freiheit ohne Kompromisse

brauchen wir den Kampf und keine klugen Sprüche. Oberschlaue Quatscherei kann uns nicht retten

und wenn ihr’s nicht begreifen wollt, behaltet eure Ketten.

Ihr redet vom Kampf und wenn’s mal kracht,

abhau’n ist das Erste, was ihr dann macht.

Wenn alles vorbei ist, man glaubt es nicht,

sind sie alle wieder da und halten noch Gericht.

Dann wird verurteilt an einem Ausmaß von Klugheit, unvorstellbar die Blicke der Bosheit.

Dann bist du für sie ein primitiver Verbrecher

und überlegt handelnder Messerstecher.


Weil du für sie den Kopf hinhältst

weil ja so’n Inti lieber Reden hält.

Engstirniges Labern hat bis jetzt noch nichts geändert, kein Klugscheißer hat jemals Systeme verändert.

Und merkt euch eins:

Wollen wir gewinnen, gibt’s keine Wahl,

Männer und Frauen seid radikal!

Seid radikal! Lebt radikal! Radikal!

Am 21.10.1992 wurde Silvio Meier in Berlin von Neonazis ermordet. Die Diskussionen über die Legitimation von Gewalt als Verteidigungsstrategie wurden nach diesem Mord bedeutend weniger. In vielen Teilen Deutschlands und besonders auch in Halle (Saale) gab es viele Reaktionen, Wandsprühereien und auch Racheaktionen. Silvio war hier bekannt und beliebt, da der gebürtige Quedlinburger in den 80er Jahren oft zu Besuch war. (Siehe auch das Kapitel „Krieg in den Städten“ und im Buch Untergrund war Strategie. Punk in der DDR: Zwischen Rebellion und Repression das Kapitel „Die-Käng-Guru-Sekte. In Erinnerung an Silvio Meier“.) Aber auch hier ging das Leben weiter.

Halle (Saale) war in der Nachwendezeit eine subkulturelle Hochburg. Es gab zahlreiche Konzerte. Die alten Kneipen, in die sich kaum noch jemand verirrte, waren froh, wenn wir dort Veranstaltungen organisierten. Unsere Szene war für einen hohen Konsum an Getränken bekannt. Außerdem zogen Punkkonzerte damals zahlreiches Publikum an. So gab es am 17.9.1991 selbst in der Kröllwitzer Traditionsgaststätte Bergschänke ein Antifa-Fest, das erst für die Gaststätte Zum Reileck geplant war, bei dem u. a. Die Zusamm-Rottung und No Respect spielten.


Punkband Samenhändler


In einem besetzten Haus in Halle (Saale) 1991

Hallenser Bands wie KVD, Müllstation, Fuck’n’Die, Samenhändler, N.F.P., Klabusterbären, Uprising, Skacoholics, Rattheads, Ladehemmung, Oi! Bier, Terror, Shit in the Corner, Kurzschluss, Gossenbonzen, Jan Rebell & die Popmöser waren sehr aktiv. Es gab den Schallplattenladen Schlemihl Records, den Bootsladen Trittfest, den Grufti-Shop Temple of Cult. Die Hallenser Gothic-Band Stoa stürmte sogar die mexikanischen Indie-Charts, und die Sängerin der Hallenser Indie-Band Bobo in White Wooden Houses sang zusammen mit Rammstein den Song „Engel“ ein. GWAR verwüsteten den Schlachthof und nicht nur ich verließ geschockt und mit Blut, Eiter und sonstigen ekligen Körperflüssigkeiten durchtränkt das Konzert. Überall eröffneten neue Szenekneipen. Immer war etwas los. Selbst solche Größen wie Die Ramones oder Prodigy spielten in unserer Saale-Stadt. Sogar Helge Schneider schrieb hier Geschichte. Genervt von den unentwegten „Katze(n)-Klo“-Rufen seiner zahlreichen neuen Proll-Fans, die ihm der enorme Erfolg des gleichnamigen Songs beschert hatte, brach er mit dem legendären Satz „Ich bin doch nicht eure Hure“ ein Open Air auf der Hallenser Peißnitz-Insel ab. Es war eine Zeit des Umbruchs. Eine Zeit voller Träume, Hoffnungen und grenzenloser neuer Möglichkeiten.

N.F.P.: „Saalepower“

Halles Straßen – unser Platz, abends beginnt die nächtliche Hatz. Endlich vereint, endlich die Macht, von allem Scheiß losgesagt. Passt bloß auf! Saalepower! Brüllen, pöbeln, Bürgerschreck, die Leute rennen vor uns weg. Unser Ziel: Spaß und so und die kleine Horrorshow. Viele hielten uns für verloren, im Beton gelebt – im Gift geboren. Die Straße hat uns stark gemacht. Passt bloß auf, weil es sonst kracht! Passt bloß auf! Saalepower!


Poster vom 1. Antifa-Fest in Halle (Saale). Die Veranstaltung fand letztendlich in der Traditions-Freiluftgaststätte Bergschänke statt.

Zwischen Aufbruch und Randale

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