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BUTTERFAHRT NACH DÄNEMARK

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Im August 1989 gelang meiner Freundin Daniela, damals gerade mal 17 Jahre jung, mithilfe von Freunden aus der ungarischen Subkultur die abenteuerliche Flucht nach Österreich. Nun versuchten wir, gemeinsam in Braunschweig in dieser neuen fremden Welt klarzukommen. Doch wir verstanden das hiesige Denken nicht und genauso ging es den Braunschweigern mit uns wohl auch.

In den bunten Westzeitungen, die es hier überall gab, strahlte uns eine Annonce an: „Butterfahrt nach Dänemark nur 19,99 DM.“ Dazu wurden allerlei Gratis-Geschenke angepriesen. Gepökeltes Eisbein, Wurstbüchsen, eingeschweißte Wurst- und Fleischwaren, eine Handnähmaschine und vieles mehr. Na wenn das nicht eine Chance war, superbillig nach Dänemark zu kommen! Dort wohnte die Olsenbande. Egon Olsen, Benny und Kjield. Dieses grandiose Gaunertrio, das damals die Lachmuskeln aller Kinogänger strapazierte. Die Olsenbande lief überall in der DDR rauf und runter. Doch Dänemark lag damals wie alle Länder des kapitalistischen Auslands in unerreichbarem, verbotenem Gebiet. Wir schauten erst einmal auf einer Westlandkarte nach, wo dieses Dänemark überhaupt liegt. In der Annonce stand ja Transport per Bus und Boot. Es musste also irgendwo am Meer liegen. Unser Vorschlag, zusammen diesen Dänemark-Ausflug zu machen, stieß bei unseren Braunschweiger Bekannten nur auf verständnisloses Kopfschütteln. Wir fragten noch eine Freundin, die auch gerade aus der DDR ausgereist war, die sofort zusagte. Sie fieberte genauso aufgeregt wie wir der Reise nach Dänemark entgegen. An der Bushaltestelle saßen nur sehr alte Omas und Opas. Nicht nur sie, auch die Butterfahrtreiseleiter musterten uns ausgiebig. Drei Jugendliche mit knallbunten Haaren zählten wohl nicht zu ihrem üblichen Kundenkreis. Egal. Wir stiegen ein und saßen nun im vollen Bus Richtung Norden. Volle Pulle dröhnten die angesagtesten Songs der Volksmusik- und Schlagerszene die ganze Fahrt lang in unsere Ohren. Im Bus war eine heitere Stimmung. Die alten Leute sangen und klatschten lautstark mit. Auf der Fähre wehte ein starker Wind. Wir sahen das erste Mal im Leben die raue Nordsee und betraten erstmalig ein fremdes westliches Land und lauschten der fremden Sprache, die sich recht lustig anhörte. Da wir die Olsenbande bestimmt nicht treffen würden, reichte uns das schon. Aber in der Annonce stand ja, es gäbe auch noch allerlei schöne preiswerte Dinge zu kaufen. Der Bus fuhr also von der Fähre, sammelte uns wieder ein und stoppte dann irgendwo im Niemandsland. Dort stand ein Haus. Die Türen wurden aufgeschlossen und alle liefen hinein. Wir drei wurden unauffällig zur Seite gewunken. Dann sagte uns der Reise- oder besser der Verkaufsleiter, dass er uns so einschätzt, dass wir sicherlich kein Interesse an den Waren haben würden, die dort verkauft werden. Aber wir sollen uns ruhig verhalten und nicht stören. Im Gegenzug bekämen wir eine Flasche Rotwein, die wir während der Verkaufsveranstaltung trinken dürfen. Wenn sie alle ist, sollten wir uns melden, dann bekämen wir eine neue. Wir sollten einfach nur nicht stören. Da wir ja nicht mal wussten, was uns hier überhaupt erwartet, willigten wir ein und freuten uns auf den Gratis-West-Rotwein. Wir nahmen an unserem Tisch Platz und gaben beim Hinsetzen noch zum Besten, dass wir frisch aus der Ostzone kämen. Das war wohl ein Fehler, wie sich später herausstellen sollte. Die Türen wurden verschlossen und schon ging es los. Erst bekamen alle die versprochenen Geschenke. Dann wurde eine Lammfell- und Lama-Decke nach der anderen präsentiert. Scheuermittel und schweineteure Kochtöpfe. Da aber die Rentner keine Lust verspürten, die völlig überteuerten Waren zu kaufen, wurde immer mal wieder auf uns verwiesen. „Die armen Brüder und Schwestern in der Ostzone würden sich freuen, so etwas Schönes kaufen zu können.“ Alle Köpfe drehten sich nach uns um. Mitleidige Blicke wurden uns zugeworfen. „Und ihr verschmäht dieses schöne Warenangebot“, fuhr der Verkäufer fort. Immer wieder wurde auf die Kosten für die schöne Butterfahrt, die Freigetränke und die Geschenke hingewiesen. „Das bezahlt sich doch nicht von alleine!“ Unsere erste Rotweinflasche war inzwischen leer. Leicht angeschwipst forderten wir eine neue. Der Veranstalter brachte diese eilig. Wir öffneten sie und schauten weiter der surrealen West-Verkaufsshow zu. Das war für uns wie Westfernsehen, nur eben live. Da immer noch niemand etwas kaufen wollte, wurde nun der „Schwede“ herangeholt. Dieser war ein blonder, hochgewachsener muskulöser Typ, der extrem gewalttätig aussah und den man in einen Anzug gepfercht hatte. „Geizig! Geizig!“, brüllte er die alten Leute an. Dazu stülpte er das Innere seiner Hosentaschen nach außen und ging auf jede Oma und jeden Opa persönlich zu. „Geizig! Geizig!“, schrie er jeden Einzelnen an und schaute dabei so finster drein, dass wir uns wirklich wie in einem B-Movie-Thriller fühlten. Der Bösewicht war live vor Ort. Nun bekamen die Ersten Angst und kauften einige von den überteuerten Scheuermitteln. Ich befürchtete, dass er gleich dem ersten Rentner eine reinhaut. Hinter ihm wurden wieder die extrem teuren Lamm- und Lama-Decken präsentiert. Doch keiner wollte sie kaufen. „Geizig! Geizig!“, schrie tobend der „Schwede“. So nach und nach kaufte fast jeder außer uns eine Flasche Scheuermittel, um seine Ruhe zu haben. Eine Oma, die schon seit einiger Zeit Röchelgeräusche von sich gab, meldete sich. Sie fragte, ob sie etwas sagen dürfe. „Nein! Erst wird gekauft!“ Eine weitere Oma meldete sich und sagte schüchtern, dass die alte Frau Blutdruckprobleme hätte. Sie müsste an die frische Luft. „Nein, erst wird gekauft!“ „Geizig! Geizig!“, schrie der Schwede dazwischen. Als die alte Dame nach Luft hechelte und kurz vorm Kollabieren war, durfte sie endlich von ihrer Freundin herausgebracht werden. Auch der „Schwede“ und der Verkäufer standen kurz vorm Herzinfarkt. Knallrot im Gesicht, stinksauer darüber, dass niemand etwas Teureres kaufte als die überteuerten Scheuermittel, gaben sie schließlich auf und beendeten die Veranstaltung. Für uns war das ganz großes Kino. Wir hatten Gänsehaut und waren inzwischen schon mächtig beschwipst. Die Türen wurden aufgeschlossen und die Rentnerreisegruppe lief eingeschüchtert zum Bus. Wir torkelten hinterher. Beladen mit noch einer Flasche Wein und den Gratis-Geschenken. Gepökeltes Eisbein, Wurstbüchsen, eingeschweißte Wurst- und Fleischwaren, eine Handnähmaschine und noch viel mehr. Mit Bus und Fähre ging es zurück nach Braunschweig.


Daniela und Geralf im Sommer 1989 in Ungarn im Keleti pályaudvar — der Gedanke an Flucht keimt auf.


Butterfahrt nach Dänemark — Geralf und Daniela

Wieder angekommen in unserer WG, in die wir gerade eingezogen waren, packten wir alles Essbare in den Gemeinschaftskühlschrank, der vor lauter gepökelten Eisbeinen und Wurst und Fleischwaren aller Art fast aus den Nähten platzte. Als unsere Mitbewohner nach Hause kamen, wollten wir gleich mit ihnen zusammen unsere Speisen essen. Doch sie waren vor uns am Kühlschrank. Es folgte ein Entsetzensschrei. Was denn das für fürchterliche Sachen in ihrem Kühlschrank wären. Das müsste sofort alles raus. Sofort! Wir waren verwirrt. Das schöne Westessen. Warum sollte es raus? Wir mussten wieder dazulernen. In der BRD gab es Menschen, die als Vegetarier lebten. So etwas kannten wir aus der DDR nicht. Wie sollte man sich denn bitteschön von Weißkraut und Rotkraut, welches das einzige Gemüse war, das es in der DDR immer gab, ernähren? Auch Obst gab es ja so gut wie nicht zu kaufen. Wir verstanden die Welt nicht mehr. Nicht dass wir uns nicht vorstellen konnten, dass es im Westen möglich war, sich vegetarisch zu ernähren, bei diesem riesigen Warenangebot. Uns verwunderte, dass nicht toleriert wurde, dass wir unser Fleisch im Gemeinschaftskühlschrank lagerten. Nach langer Diskussion gaben wir auf. Wir nahmen die gepökelten Eisbeine und alle Wurst- und Fleischwaren aus dem Kühlschrank und versuchten, sie zu essen. Das meiste davon war fürchterlich und die gepökelten Eisbeine schmeckten wie gesalzenes Leder. Essen konnte man das auf die Schnelle nicht. Lagern konnte man das Fleisch ohne Kühlschrank aber auch nicht. So wurden wir zum ersten Mal Teil der westlichen Wegwerfgesellschaft und schmissen alles in den Mülleimer.


Nach der Flucht: „Große Freiheit“ 1989


Sturm auf der Fähre nach Dänemark


Die Fähre nach England bei Calais

Zwischen Aufbruch und Randale

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