Читать книгу Zwischen Aufbruch und Randale - Geralf Pochop - Страница 7

VORWORT

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Als am 9. November 1989 die Mauer fällt, prallen zwei Systeme aufeinander, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Zwei verschiedene Welten. Tag und Nacht. Licht und Schatten. Der Osten geprägt durch 40 Jahre DDR-Diktatur und Vormundschaft des sozialistischen totalitären Staates und leere Kaufhallenregale. Der Westen geformt durch Demokratie, Meinungsfreiheit, aber auch durch die kapitalistischen Großkonzerne, den allgegenwärtigen Überfluss in den Warenregalen, Konsumdenken und dem Streben nach immer mehr Geld. Das schaffte innerhalb kürzester Zeit Spannungen.

Die DDR-Subkultur, insbesondere die Punk-, Grufti- und Hausbesetzerszene war in den letzten Jahren des untergehenden Arbeiter- und Bauernstaates schon rasant angewachsen. Nach der Wende explodierte sie zahlenmäßig. Es roch nach Freiheit und Anarchie. Überall wurden Häuser besetzt. Während die normalen Gaststätten ums tägliche Überleben kämpften, öffneten an jeder Ecke neue subkulturelle Szenekneipen, die sich vor Kundschaft kaum retten konnten. Die meisten wurden „schwarz“ betrieben. Für Anmeldungen, Genehmigungen, Steuern oder Gewerbescheine interessierte sich in dieser Zeit niemand. Es gibt Berichte, dass in manchen „Schwarz“-Szeneclubs Geld in solchen Mengen floss, dass es in Müllsäcken eingesammelt wurde. Punkkonzerte gab es nun an Orten, von denen wir früher nur träumten. Punkfestivals wurden organisiert. Leerstehende Fabrikhallen wurden in Konzertstätten und AJZ umfunktioniert. In Kellern und alten Bunkern fanden illegale Techno-Konzerte statt. Es war eine Zeit der Hoffnung, des Aufbruchs und der Kreativität. Jede noch so verrückte Idee konnte in die Realität umgesetzt werden. Alles war möglich. Diese Aufbruchsstimmung beschränkte sich nicht nur auf die Musik- und Jugendkulturszenen, sondern auch auf Familien- und Freizeitzentren, alternativpädagogische Bildungsprojekte und Initiativen für Umwelt und Naturschutz.

Die alte Macht hatte nichts mehr zu sagen. Die Regeln der neuen Gesellschaft waren allen fremd. Die „Volks“-Polizei, die 40 Jahre lang die Interessen der DDR-Diktatur durchgeknüppelt hatte, wurde von niemandem mehr ernst genommen. Sie tauchte kaum noch auf. Es entstand ein rechtsfreier Raum.

Diesen nutzte auch die ebenso rasant anwachsende Naziskin- und Neonaziszene. Brutale Überfälle auf Andersdenkende und Andersaussehende waren an der Tagesordnung. Auch Homosexuelle, Migrant*innen und Menschen mit Behinderungen wurden attackiert. Es entstanden überall im Land No-Go-Areas. Durch diese als Mensch, der nicht ins Raster der Nazis passte, zu laufen war lebensgefährlich. Baseballschlägerjahre! Auch wurden immer wieder besetzte Häuser angegriffen. Oft unter den Augen der anwesenden Polizei. Diese sah sich nur noch als Beobachter. Schutz brauchte in dieser Zeit niemand von den Uniformierten zu erhoffen. Es gab Tote. Ob man wollte oder nicht, es musste der Selbstschutz organisiert werden. Aus „Keine Gewalt“ wurde „Antifa heißt Angriff“. Es wurde aufgerüstet. Nun wurde es in immer mehr Stadtvierteln auch für Nazis gefährlich. Die Gewaltspirale drehte sich. Es war wie im Bürgerkrieg.

Als am 3.10.1990 die Wiedervereinigung Deutschlands gefeiert wurde, war der Großteil der Ex-DDR-Subkultur nicht gerade begeistert. Es gab Gegendemonstrationen. Die Hoffnung auf eine bessere DDR war zerstört. Aus heutiger Perspektive betrachtet war die Wiedervereinigung vermutlich der einzige Weg, der möglich war. Damals hatten die meisten auf ein Land gehofft, das die guten Seiten des sozialistischen Staates und die des Kapitalismus miteinander vereint. Eine gerechte soziale DDR, in der die Menschenrechte respektiert werden. In der die Bevölkerung Mitspracherecht hat. Eine Demokratie ohne Stasi-Terror. Wir wurden ja alle in eine Welt hineingeboren, in der es immer nur zwei deutsche Staaten gab. Dass daraus jemals ein gemeinsames Land werden würde, lag jenseits unserer Vorstellungskraft.

Der Westen drang in Form von Bananen, schnellen Autos, schicken Klamotten, tollen Möbeln und mit Geld winkenden Kapitalisten ins Land. Nazikader witterten ihre Chance, zogen in den Osten, rekrutierten und schulten die immer größer werdende Naziszene. Dazu kamen Unmengen windiger Verkäufer. Den Ossis konnten sie alles aufquatschen. Auch alle möglichen Kriminellen witterten ihre große Chance. Vom Bankräuber über Trickbetrüger bis hin zum Immobilienspekulanten: Jeder wollte im Osten das schnelle Geld machen. Die maroden Volkseigenen Betriebe wurden geschlossen und abgewickelt. Aus Industriezentren wurden Arbeitslosenzentren. In Folge kam es zu einer erneuten riesigen Völkerwanderung von Ost nach West. Allein aus Halle (Saale) zogen in der Folgezeit fast 90.000 Personen, also etwa ein Drittel der Einwohner*innen, auf der Suche nach Arbeit oder einem besseren Leben in den Westen.

Ganz anders sah es in der subkulturellen Szene aus. Für Punks und Hausbesetzer*innen waren die Zeiten nach der Wende, wenn man von den Problemen mit den Nazis absieht, geradezu paradiesisch. Das zog auch immer mehr Westpunks in den Osten. Die Ex-DDR-Szene wurde nun mit allerlei unschönen und bis dahin unbekannten Marotten konfrontiert. Sich vor einen Einkaufsmarkt zu setzen und mit „Haste ma ’ne Mark“ fremde Menschen anzubetteln, die als Spießbürger verachtet wurden, war eine davon. So was gab es in der DDR-Punkszene nicht. Dazu waren wir viel zu stolz, Punks zu sein. Doch gerade diese Art Bettelpunks verbreiteten sich immer mehr in allen größeren Städten. Ein weiteres Problem, das in den Osten rüberschwappte, waren Drogen aller Couleur. Nicht nur in der Punkszene, aber leider eben auch dort. Immer mehr unangenehme Menschen nahmen inzwischen das Punkoutfit an. Auch was das Randale-Potential betraf, gab es nun keine Grenzen mehr. Manche Punkfestivals hinterließen komplett verwüstete Dörfer oder Stadtviertel und verzweifelte Veranstalter. Alles schwappte ins Extreme. Ratlosigkeit herrschte.

Grenzenlose Randale-Stimmung und sinnlose Zerstörungswut im rechtsfreien Raum? Erklärungsversuche: Der tägliche Stress mit Spießern. Die tägliche Bedrohung durch Nazis. Der immerwährende Kampf mit ihnen. Oft allein auf weiter Flur. Als einziger im Dorf, in der Kleinstadt oder im von Faschisten beherrschten Stadtviertel. Tägliche Gewalt. Brutale Übergriffe. Unter den Augen der tatenlosen Polizei. Unter den Augen der glotzenden Normalbürger. Und plötzlich sind die Punks in der Überzahl. Zu Tausenden. Das ergab einen nicht aufzuhaltenden Eigenlauf. „Jetzt bekommen die alles zurück. Hier und heute haben wir die Macht. Uns kann keiner was. Wir lassen uns nicht unterkriegen. Und das zeigen wir allen. Wir erschaffen unsere eigenen Chaostage.“ Leider ohne Rücksicht auf Verluste. Ohne Rücksicht auf natürliche Grenzen. Ohne Rücksicht auf die aus den eigenen Reihen kommenden Veranstalter.

Ein großer Teil der alten DDR-Punks legte in dieser Zeit sein Punkoutfit ab. Sie wollten sich nicht mehr mit dieser Art Punks identifizieren. Ich spreche natürlich nicht von der gesamten Punkszene, sondern nur von einem Teil. Dieser dominierte aber leider eine gewisse Zeit lang das Straßenbild. Für uns „Alte“ hatte das nichts mit Punkrock zu tun. „Wenn Sid Vicious den Punk nicht erfunden hätte, wären die genauso dreckig“, war unser geflügeltes Wort dafür. Umso froher war ich, wenn ich immer wieder auf Enklaven wie zum Beispiel Torgau stieß, in denen die alten Werte des Punk noch hochgehalten wurden. Denn mein Herz schlug und schlägt nach wie vor für Punk. Punk verkörpert für mich Kreativität, Freiheit, Musik, Kunst, Widerstand, DIY und Selbstbestimmung.

In meinem Buch berichte ich von längst vergangenen Zeiten, die in dieser Form sicher einzigartig waren. Ein ganzes Land zwischen Aufbruch und Randale. Zwischen Hoffnung und Resignation. Ein Land, eine Subkultur auf der Suche nach sich selbst und nach der Zukunft.

Die Auswirkungen sind bis heute zu spüren. Viele der damals entstandenen Kneipen, Clubs und AJZ sind inzwischen etabliert. Manche Veranstalter managen heute Großveranstaltungen, die weit über die subkulturelle Szene hinaus wirken. Und vieles, was damals subkulturell war, ist heute Mainstream.


Der zerstörte Palast der Republik in den 1990er Jahren in Berlin

Da sich das Rad der Geschichte immer weiterdreht, gehen manche Erlebnisse und Geschichten weit über die Nachwendezeit hinaus. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, einige Kapitel nicht zeitlich zu begrenzen.

Wie alle Zeitzeugengeschichten spiegelt dieses Buch ganz persönliche, subjektive Erlebnisse, Wahrnehmungen und Erfahrungen wieder. Die hier niedergeschriebenen Erinnerungen sind teilweise über 30 Jahre alt und wurden von mir im Zuge der Wiederaufarbeitung und mithilfe von Zeitzeug*innen und Zeitungsartikeln so realitätsnah wie möglich geschildert. Wie mich die Erfahrung lehrt, haben Menschen über lang zurückliegende Ereignisse verschiedene Erinnerungen abgespeichert.

Die Erinnerungen in diesem Buch sind die meinigen.

Dasselbe gilt für die Zeitzeug*inneninterviews. Ich habe mich entschlossen, diese in keinster Weise zu zensieren. Somit geben die Erinnerungen der befragten Zeitzeug*innen ein autarkes Bild ihrer Sicht wieder und müssen nicht unbedingt mit meinen oder oder den Erinnerungen anderer Zeitzeug*innen konform sein.


Ostpunk: Alüt mit Ratte

Zwischen Aufbruch und Randale

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