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I.4 Beratung und Konsens und ihre Folgen für die Königsmacht

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Nimmt man die Verpflichtung des Lehnsmannes ernst, seinem Herrn ‚Rat und Hilfe‘ zu leisten, und berücksichtigt man, dass nicht nur herrschaftlich strukturierte Gruppen und Verbände, sondern auch die verwandtschaftlichen und genossenschaftlichen ihre Willensbildung mittels Beratung und Konsensstiftung praktizierten, dann wird deutlich, dass die Analyse solcher Beratungen einen Schlüssel zum Verständnis mittelalterlicher Machtausübung bietet. Mittelalterliche Staatlichkeit und Herrschaft hat in der Beratung und dem Rat seine zentrale Institution in dem weiten Sinne, in dem Soziologen diesen Begriff gebrauchen. Man muss sich wohl ganz grundsätzlich eines klar machen: Der mittelalterliche König wie der Lehnsherr auf den verschiedenen Stufen der Lehnspyramide befahl nicht einfach oder ordnete an, sondern er stellte seinen Leuten ein Problem vor und erbat sich ihren Rat zu seiner Lösung. Wenn über die Lösung dieses Problems Konsens hergestellt war, setzte er die konsensuale Lösung durch und konnte hierbei natürlich auf die Hilfe all derer rechnen, die am Zustandekommen dieses Konsenses beteiligt gewesen waren. Von solchen Situationen erzählen die Historiographen unzählige Male, sprechen die Urkunden immer wieder, und auch die fiktionale Literatur ist voll von derartigen Szenen. Dieses Verfahren bestimmt die politische Willensbildung, so werden Entscheidungen herbeigeführt. Natürlich stellen solche Beratungen keine herrschaftsfreien Diskurse dar; man beobachtet vielmehr, dass das Verhalten der Teilnehmer festen Regeln verpflichtet ist: Es hängt vom Rang ab, wer wann spricht und sprechen darf; Widerspruch ist nur in ganz engen Grenzen möglich, da er schnell als Beleidigung aufgefasst wird. Überdies unterscheidet man sehr genau, ob die Beratung vertraulich oder öffentlich durchgeführt wird. Öffentliche Beratungen sind dabei in aller Regel durch vertrauliche Vorklärungen vorbereitet worden. Erst wenn klar war, dass sich ein Konsens über die anstehenden Fragen abzeichnete, beriet man öffentlich. Nur so war man vor Überraschungen sicher, denn eine kontroverse Diskussion in der Öffentlichkeit war mit der Ehre der Beteiligten nicht vereinbar.21

Die hierarchische Spitze des Verbandes, der so verfährt, war damit zwar nicht machtlos, sie war aber an ein bestimmtes Procedere gebunden, das der Willkür deutliche Schranken setzte. Dennoch wäre es natürlich verfehlt zu übersehen, dass dieses Verfahren dem König auch eine Menge Möglichkeiten eröffnete. Schließlich war er es, der das Problem aufwarf und die Frage stellte. Damit wurden nur Probleme Gegenstand der öffentlichen Beratung, die der König beraten wissen wollte und bei denen klar war, dass sich ein Konsens im Sinne des Herrschers ergeben würde. Von Friedrich Barbarossa wird berichtet, dass er über Jahre die ständigen Klagen der sächsischen Fürsten gegen Heinrich den Löwen ignorierte und nicht behandelte. Dies war offensichtlich kein Verstoß gegen seine Pflichten. Was auf die ‚Tagesordnung‘ der Beratung am Königshof kam, war seine Sache und ließ sich nicht erzwingen. Erst als Friedrich Gründe hatte, Heinrich dem Löwen seine Huld zu entziehen, änderte er seine Haltung und lud die Streitparteien an seinen Hof, um den Dissens durch Rat oder Urteil entscheiden zu lassen – mit dem bekannten Ende, dass Heinrich der Löwe seine Sache als aussichtslos ansah und erst gar nicht erschien.22

Überdies gab es keinen festgelegten Personenkreis, der an solchen Beratungen beteiligt war, auch kein Quorum, das erfüllt sein musste, um verbindliche Beschlüsse fassen zu können. Mediävisten kennen alle die ständig und unregelmäßig wechselnden Besetzungen der Hoftage, ohne bisher ein System erkennen zu können, nach dem die Lehnsleute des Königs ihrer prinzipiellen Pflicht zur Teilnahme an solchen Tagen Folge leisteten.23 Es kamen ohnehin nur die, die zum König ein ungebrochenes Verhältnis hatten, aber auch die längst nicht alle. Dennoch hören wir eher selten Protest darüber, dass zur Entscheidung anstehender Fragen nicht genügend oder die falschen Leute herangezogen worden seien. Dieser vielleicht überraschende Befund erklärt sich dann leichter, wenn man berücksichtigt, dass Entscheidungen wohl ohnehin nur für die als bindend angesehen wurden, die an ihrem Zustandekommen beteiligt waren.

Die Verpflichtung, alle anstehenden Fragen zu beraten, bevor man aktiv wurde, hatte aber eine weitere unmittelbare Konsequenz, die für unser Thema von besonderem Interesse ist: Diese Pflicht zwang nämlich dazu, sich sehr häufig persönlich zu treffen. Die Herrschaft der mittelalterlichen Könige konkretisierte sich in einer unablässigen Folge von Hoftagen an ständig wechselnden Orten, zu denen eine jeweils unterschiedliche, aber zumeist beträchtliche, wenn nicht unübersehbare Menge von Personen zusammenströmte. Lange hat es gedauert, bis dieses aufwendige und beschwerliche System des Reisekönigtums von einer Herrschaftspraxis abgelöst wurde, die auf Residenzen und damit auf lokale Fixierung sowie auf stabilere Beraterkreise mit festliegenden Zuständigkeiten setzte.24

Die feste Übung, sich in kurzen Abständen regelmäßig zu treffen, weil anstehende Probleme beraten werden mussten, blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Formen des Umgangs miteinander, die man bei diesen Gelegenheiten praktizierte. Man muss sich zum adäquaten Verständnis dieser Situation klar machen, dass wir von einer Gesellschaft sprechen, die auf der Ungleichheit der sozialen Ränge beruhte. Vom Rang hingen nahezu alle Möglichkeiten ab, in dieser Gesellschaft etwas zu erreichen oder zu bewirken. Rang musste daher betont, zum Ausdruck gebracht und auch verteidigt werden, da man ein allgemeines Streben voraussetzen darf, im Range aufzusteigen. Folgerichtig schuf eine Situation, in der viele Personen ‚von Rang‘ einander persönlich begegneten, vielfältige Notwendigkeiten, die Rangordnung symbolisch zum Ausdruck zu bringen, sie so anzuerkennen und zu stabilisieren. Mit anderen Worten: Es existierte ein entsprechender Bedarf an diesbezüglichen Ausdrucksmitteln. Und diese lagen mehr auf der nonverbalen als auf der verbalen Ebene.

Die Praxis der persönlichen Treffen schuf also einen beträchtlichen Bedarf an Ritualen, mit denen die Chancen des Gelingens solcher Zusammenkünfte verbessert wurden. Indem man sich Respekt und Hochachtung zeigte, sich gegenseitig ehrte, durch Freundlichkeit und Höflichkeit Vertrauen bildete oder stärkte, schuf man entscheidende Voraussetzungen dafür, Konsens auch in prekären Fragen herstellen zu können. Analysiert man die Rituale der Hoftage unter diesem Aspekt, bemerkt man leicht, dass sie genau darauf angelegt waren, diese Funktionen zu erfüllen. Der Stellenwert, den Rituale in der mittelalterlichen Kommunikation hatten, erklärt sich mit anderen Worten aus der Leistung, die sie für das Funktionieren der mittelalterlichen Ordnung erbrachten: Mit ihnen wurde der durchaus nicht einfache Kommunikationsfluss innerhalb einer ranggeordneten Gesellschaft gewährleistet. Es scheint lohnend, diesem Gedanken ein wenig weiter nachzugehen.

Die Macht der Rituale

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