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I.6 Besondere Domänen und spezifische Leistungen ritueller Kommunikation im Mittelalter – Ausgangspunkte

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Die folgenden Untersuchungen nehmen eine Reihe von Anregungen auf, die Ritualforschungen verschiedener Disziplinen vor allem in den letzten Jahrzehnten gegeben haben.36 Die wesentlichen dieser Ausgangspunkte seien vorweg angesprochen, auch wenn sie durchaus nicht nur sichere Erkenntnisse bieten, sondern auch Einschätzungen und Annahmen darstellen, die in der konkreten Arbeit zu verifizieren oder auch zu falsifizieren sind.

Es gibt eine Reihe hilfreicher Vorarbeiten verschiedener Fächer zu der Frage, wann und zu welchen Gelegenheiten menschliche Gesellschaften besonders gern und häufig ihre Zuflucht zu rituellen Verhaltensmustern nahmen: Berühmt sind etwa die rites des passages, die Übergangs- oder Schwellenrituale, die sich in vielen menschlichen Kulturen beobachten lassen.37 Einer neuen Situation und der durch sie gegebenen Unsicherheit oder Gefährdung begegnen Menschen offensichtlich gerne mit rituellen Verhaltensmustern, um den individuellen Übergang in ein überindividuelles Ordnungsmuster einzufügen. Auch im Mittelalter war dies nicht anders. Rituale beobachtet man bei Geburt, Hochzeit und Tod; beim Amtsantritt, bei der Knüpfung neuer Beziehungen oder auch beim Übergang vom Frieden zum Krieg und umgekehrt. Man wird also davon ausgehen können, dass in Situationen besonderer Unsicherheit, wodurch auch immer sie bedingt gewesen sein mag, rituelle Verhaltensmuster besonders häufig auftraten.

Außer in Situationen der Unsicherheit und des Übergangs leisteten Rituale aber auch gute Dienste, wenn ein bestehender Zustand lediglich bestätigt werden sollte. Wenn sich etwa der Herrschaftsverband zum wiederholten Mal im Jahr zum Hoftag traf und somit kaum von einer Schwellensituation die Rede sein kann, bildete er mittels zeremonieller Verfahren die bestehende Rangordnung immer wieder symbolisch ab. Man setzte sich an der Tafel so, wie es dem Range entsprach – oder wurde so platziert. Man formierte sich zu den Prozessionen in die Kirche gleichfalls nach den Vorgaben dieser Rangordnung. Und auch Begrüßung wie Abschied, verbunden mit dem Gabentausch, vollzogen sich nach rituellen Vorschriften. So vergewisserte man sich gegenseitig darüber, dass die bestehende Ordnung von allen anerkannt und durch das Tun bestätigt wurde. Auch zyklisch wiederkehrende Feste und Feiern, wie sie die unterschiedlichsten Gruppen des Mittelalters veranstalteten, vergewisserten die Gruppe vor allem, dass der Zusammenhalt noch intakt, die Beziehungen in Ordnung waren, sie beinhalteten zugleich das Versprechen, dass dies auch für die Zukunft gelten sollte. Mit den Begriffen Vergewisserung und Bestätigung kann man wesentliche Funktionen umschreiben, die mittelalterliche Rituale bei der Stabilisierung von Ordnungen erfüllten. Hierdurch baute sich das Vertrauen auf, das für eine Gesellschaft ohne staatliches Gewaltmonopol gewiss noch nötiger war als es heute noch immer ist. So erzeugtes Vertrauen aber wirkte auch in die Zukunft und damit ist ein für die Funktionen von Ritualen im Mittelalter ganz wesentlicher Aspekt angesprochen.

Es scheint allgemein eine wesentliche Botschaft ritueller Handlungen gewesen zu sein, dass das gezeigte Verhalten auch in der Zukunft Gültigkeit haben sollte. Wer seine Hände gefaltet in die Hände eines Herrn legte und sich so dem rituellen Akt der Lehnsnahme unterzog, versprach mit diesem Akt, dass er in der Zukunft seine Pflichten gegenüber diesem Lehnsherrn erfüllen wollte. Wer mit anderen aß und trank und in fröhlicher Geselligkeit feierte, stärkte mit diesem Tun die Bindung an die anderen Teilnehmer der Feier für die nächste Zeit, was das Versprechen beinhaltete, den Pflichten dieses Verhältnisses gerecht zu werden. Wer den anderen beim Abschied mit ausgesuchten Geschenken ehrte, prägte diesem die Qualität und den Zustand des Verhältnisses, das man miteinander hatte, ebenso ein, wie er sich verpflichtete, auch in der Zukunft dieses Verhältnis beizubehalten. So könnte man fortfahren, da Verhalten demonstrativ-rituellen Charakters in der Tat in aller Regel eine auf die Zukunft weisende Dimension besaß. Sein Wert ergibt sich deshalb nicht zuletzt aus der beschriebenen Eigenart: Rituale schafften nicht nur Verfahrenssicherheiten für die Gegenwart, sondern begründeten auch die Erwartung kalkulierbaren Verhaltens in der Zukunft. Wir können hier thesenartig anfügen, dass hierin nicht zuletzt die Macht liegen dürfte, die sie entfalten. Versprechen für die Zukunft konnten mittels rituellen Verhaltens aber nur dann abgegeben werden, wenn ein grundsätzlicher Konsens über die Verbindlichkeit solcher Aussagen bestand.

Es mussten überdies kollektive Vorstellungen existieren, welche Regeln für rituelles Verhalten galten, welches Verhalten zu welcher Gelegenheit angemessen und richtig war. Die Existenz solcher Spielregeln sowie ihr Geltungsanspruch müssen aber erschlossen werden, was kein ganz einfaches Unterfangen darstellt.38 Doch ist darauf hinzuweisen, dass im Mittelalter etablierte Gewohnheiten einen hohen Geltungsanspruch besaßen. Nicht zufällig ist im Mittelalter immer wieder der Satz zitiert worden, Christus habe von sich gesagt, er sei die Wahrheit, und nicht, er sei die Gewohnheit.39 Damit ist indirekt ein Eindruck vom Geltungsanspruch formuliert, der hinter Gewohnheiten und sicher auch solchen rituellen Verhaltens stand. Auch wenn zweifelsohne die Spielregeln rituellen Verhaltens nirgendwo schriftlich fixiert waren, besteht einiger Anlass, den Anspruch auf Verbindlichkeit, den sie erhoben, als hoch einzuschätzen. Ob dieser Anspruch allerdings immer erfüllt wurde, ist damit nicht gesagt und auch nicht wahrscheinlich. Der Anspruch, mit rituellem Verhalten für die Zukunft bindende Aussagen zu machen, ist jedenfalls einer der Eckpfeiler des Ritualverständnisses, um das es im Folgenden geht.

Aus diesen Einschätzungen folgt aber eine zweite Bedingung, die keineswegs selbstverständlich ist. Wenn Rituale die Leistungen erbringen sollen, von denen die Rede war, müssen ihre ‚Aussagen‘ eindeutig und für alle Beteiligten verständlich sein. Nur dann erfüllen sie ja die Anforderung, Verpflichtungen für die Zukunft fixieren zu können. Nun sind Zeichen, Gesten und Handlungen ritueller Natur prinzipiell genauso deutungsfähig wie Äußerungen sprachlicher Art. Sie sind andererseits aber auch der Deutung bedürftig. Ein ritueller Akt erklärt sich nicht von selbst. Nicht zufällig hat sich denn auch eine Diskussion um die Ein- beziehungsweise Mehrdeutigkeit ritueller Aussagen entwickelt.40 Diese Frage ist gewiss nicht alternativ zu beantworten. Man muss vielmehr in Rechnung stellen, dass Gesten, Gebärden und Handlungen durch den Kontext Sinn bekommen, in dem sie gebraucht werden. Ein Kuss ist als für sich genommenes Zeichen gewiss mehrdeutig. Wird er jedoch im Kontext eines Friedensschlusses auf die Wange gegeben, ist er ein Zeichen der Versöhnung. Küsst man dagegen Hand, Knie oder gar den Fuß, beinhaltet diese Handlung ein deutliches Element der Unterordnung. Es gibt also gute Gründe, dafür zu plädieren, dass die Zeichen in den Ritualen eindeutig sind und sein müssen. Zu ihrer Deutung gehört jedoch Kompetenz, die uns oft nicht gegeben ist, da wir der mittelalterlichen Kommunikationskultur doch als ferne Beobachter gegenüberstehen.

Die Einschätzung von der Mehrdeutigkeit, der Ambiguität ritueller Handlungen verdankt sich denn auch mehr einer Verallgemeinerung der Wesenszüge religiös-kultischer Rituale als der Analyse säkularer. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass das Verständnis ritueller Äußerungen in bestimmten Fällen auch schon den Zeitgenossen große Schwierigkeiten machen konnte. Wir werden die kontroversen Diskussionen darüber verfolgen, was ein Strator-Dienst eigentlich bedeutete, was mit der Tätigkeit, das Pferd eines anderen ein Stück am Zügel zu führen und ihm beim Aufsitzen oder Absteigen zu helfen, eigentlich symbolisch zum Ausdruck gebracht wurde.

Auf eine grundsätzliche weitere Schwierigkeit der Interpretation ritueller Handlungen hat schon Friedrich Barbarossa selbst genau in diesem Zusammenhang hingewiesen. Man kann rituelle Handlungen durchführen, weil man dazu verpflichtet ist, man kann sie aber auch als Geste der Höflichkeit praktizieren. Die Bedeutung solcher Handlungen ist in beiden Fällen diametral unterschiedlich.41

Eine weitere Schwierigkeit bei der Interpretation der Aussagen von Ritualen ist ebenfalls vorweg hervorzuheben: Rituale stellen Ketten von Handlungen dar, mit denen durchaus mehrere und auch divergierende Aussagen gemacht werden können. Nicht selten wird am Anfang des Rituals etwas anders zum Ausdruck gebracht als in seinem weiteren Verlauf. Steht etwa am Anfang des Unterwerfungsrituals die Verzweiflung und reuevolle Zerknirschung des ‚Verlierers‘, so kann dieser im weiteren Verlauf zu einem Hochgeehrten aufsteigen. Im Ritual kommen mit anderen Worten Entwicklungen zur Darstellung. Dadurch werden solche Veranstaltungen aber nicht mehrdeutig – oder nur für den, der sich in dieser Technik der Darstellung nicht auskennt.

Da in der mittelalterlichen Gesellschaft überdies größter Wert darauf gelegt werden musste, Rang und Ehre des Gegenübers zu wahren, entwickelte diese Gesellschaft durchaus elaborierte Techniken der bewussten Mehrdeutigkeiten, die das Gesicht der Beteiligten so gut wie möglich wahrten – und dies auch oder gerade in rituellen Handlungen. Ein verbreitetes Beispiel hierfür sind die so genannten ‚Ehrendienste‘, bei deren Bewertung man je nach Perspektive den Akzent auf Ehrung oder auf Dienst legen konnte. Auf diese Weise konnte man in bestimmten Fällen ehrenvoll Unterordnung zum Ausdruck bringen, wenn etwa ein auswärtiger König dem Kaiser am Pfingstfest öffentlich sein Schwert voraustrug.42

Nicht übersehen werden darf schließlich eine weitere Rahmenbedingung für die Interpretation von Ritualen: Im Mittelalter war die geistige Elite geradezu permanent beschäftigt mit der symbolischen, allegorischen und typologischen Ausdeutung allen Geschehens.43 Dies betrifft ganz gewiss auch das weite Feld ritueller Handlungen und ihres ‚Sinns‘. Deshalb ist immer in Rechnung zu stellen, dass neben gängigem Verständnis ritueller Handlungen auch Vorgänge der symbolischen Aufladung, der Anreicherung mit Bedeutung stattfanden, die nur noch einem engeren Zirkel bekannt oder verständlich waren.

Angeführt als ein Beispiel für solche Möglichkeiten sei die Reichskrone mit ihrem Schrift- und Bildprogramm, die in vielen Herrschaftsritualen das Symbol für das Königtum par excellence darstellte. Mit ihrem Gold- und Edelsteinschmuck stand sie für die einzigartige Dignität des Amtes, im weitesten Sinne gewiss auch für die Macht, die mit ihm verbunden war. In den Bildern und Sentenzen, die auf ihr angebracht waren, versteckte sich jedoch eine ganze ‚Theologie der Reichskrone‘, die der literarisch und exegetisch nicht gebildete Laie nicht verstand.44 Selbst für den Gebildeten konnten die Hinweise auf Salomo oder David aber noch mehrdeutig sein: Kam mit ihnen panegyrisch zum Ausdruck, die Träger dieser Krone seien ein neuer Salomo oder David, oder wurden die Träger der Krone selbst mahnend darauf hingewiesen, sich dem Vorbild dieser alttestamentlichen Könige entsprechend zu verhalten? Es bestand gewiss die Möglichkeit, sowohl die eine wie die andere Deutung vorzutragen. Diese Hinweise mögen ausreichen um anzudeuten, dass der Weg zu einem adäquaten Verständnis der Rituale des Mittelalters ein langer ist, verbunden mit vielen dornigen Interpretationsproblemen. Lösungsversuche können wohl nur am empirischen Material demonstriert werden.

Aus dem bisher Ausgeführten ergeben sich aber einige Grundannahmen, die die Arbeit am Material leiten werden. Man kann mit der Möglichkeit bewusster und reflektierter Planung, Gestaltung und Durchführung der politischen Rituale im Mittelalter rechnen, weil diese Gesellschaft sich in hohem Maße auf die Verbindlichkeit der Aussagen verließ und Rituale als die zentralen Verfahren zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Ordnung praktizierte. In jedem Fall verdient diese Möglichkeit größte Aufmerksamkeit und es wird in den Untersuchungskapiteln immer wieder zu diskutieren sein, inwieweit sich diese Möglichkeit zur Gewissheit verdichten lässt.

Nicht sklavische Wiederholung fertiger Muster bestimmte dabei allem Anschein nach den Gebrauch von Ritualen, sondern die bewusste Gestaltung, die Abwandlungen und Veränderungen erlaubte, um neuen Sinn zu erzeugen. Dies bietet die Chance zu fragen, wann solche Veränderungen zu beobachten sind und welche Ursachen und Kräfte sie bewirkten. Die Möglichkeit, anhand beschreibender Texte die Geschichte von Ritualen durch lange Jahrhunderte des Mittelalters zu verfolgen, eröffnet vielfältige Chancen, Ursachen für Entstehung, Veränderung oder Verschwinden von Ritualen zu thematisieren, was insbesondere im Blick auf den Zusammenhang von Machtausübung und Ritual genutzt werden soll.

Die Macht der Rituale

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