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I.3 Machtausübung im Mittelalter im Verständnis moderner Forschung

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In der historischen Mediävistik wurden und werden der Begriff ‚Macht‘ und seine Derivate geradezu inflationär verwendet, ohne dass diesem Gebrauch entsprechende Reflexionen über Wesen und Rahmenbedingungen der Machtausübung in den fraglichen Jahrhunderten zur Seite stünden.18 Wenn wir also im Folgenden über die ‚Macht der Rituale‘ nachdenken wollen, ist es sinnvoll und notwendig, sich darüber klar zu werden, welche Vorgeschichte der Begriff ‚Macht‘ und seine Anwendung auf das Mittelalter hat. Erst in jüngerer Zeit hat man sich in der Forschung nämlich stärker den Konsequenzen zugewandt, die daraus resultieren, dass zum einen im Mittelalter zu intensiverer Machtausübung die Mittel fehlten; dass zum zweiten aber – wichtiger noch – die Mitträger der Königsherrschaft, Adel und Kirche, von ihrem Selbstverständnis her alles andere waren als willfährige Helfer und Instrumente zur Steigerung der Königsmacht; dass drittens auch die normativen Setzungen, die Theorien idealer mittelalterlicher Königsherrschaft vom Herrscher zwar Durchsetzungsfähigkeit durchaus verlangten, aber keineswegs vorrangig die Intensivierung von Macht zu seinen Aufgaben zählten, wenn sie diese überhaupt erwarteten.19 Die so aus verschiedenen Gründen deutliche Begrenzung der Macht mittelalterlicher Könige hat namentlich die deutsche Forschung jedoch lange Zeit übersehen, weil sie auf das Mittelalter nicht zuletzt die Sehnsucht ihrer eigenen Zeit projizierte: den starken Nationalstaat mit einer mächtigen Zentralgewalt.

Es hängt fundamental mit dem Geschichtsbild der Deutschen vom Mittelalter zusammen, dass Macht ein Zentralbegriff zur Beschreibung und mehr noch zur Bewertung mittelalterlicher Verhältnisse wurde, ohne dass man die historischen Wandlungen thematisierte, denen dieser Begriff ausgesetzt war. Das nationale Geschichtsbild des 19. und verstärkt des frühen 20. Jahrhunderts präsentierte den Deutschen ihre mittelalterliche Vergangenheit nämlich als eine Zeit, in der das Reich mächtig, ja geradezu die ‚Vor- und Ordnungsmacht‘ in Europa war.20 Man machte damit den Deutschen gerade in Zeiten nationaler Misere ein Identifikationsangebot, zeigte ihnen Zustände, auf die man aus nationaler Perspektive ungebrochen stolz sein, die man aber auch als ‚Erbe und Auftrag‘ verstehen und aus denen man Forderungen ableiten und Appelle formulieren konnte. Charakteristisch für diese Geschichtssicht ist überdies, dass man die Geschichte des Mittelalters in weiten Teilen als die Geschichte eines Verfalls schrieb: nämlich des Verfalls der Königs- und Kaisermacht. Hierdurch bekam das Geschichtsbild eine tragische Dimension, die seine identifikatorische Wirkung jedoch eher steigerte: Was man am Anfang besessen hatte, Macht und Weltgeltung, durfte, ja musste man wieder erringen. Die ‚Machtfülle‘ aber, die man den Anfängen namentlich in der Ottonenzeit attestierte, hatte sich nach diesem Geschichtsbild im Laufe der Jahrhunderte unter bestimmten Umständen verflüchtigt, bis man im Spätmittelalter die vollständige Machtlosigkeit der Zentralgewalt zu beklagen hatte.

Als ‚Totengräber‘ der Kaisermacht diagnostizierten national gesinnte Historiker die Kirche und insbesondere das Papsttum, das in Canossa das Kaisertum in die „Schlucht des Investiturstreits“ gestürzt hatte. Sie machten aber auch Eigennutz und Partikularismus des eigenen Adels als Grund dafür aus, dass die Zentralgewalt im Kampf um den ‚Machterhalt‘ auf die Verliererseite geriet. Fest verankert in diesem Geschichtsbild sind mehrere ‚Wenden‘ des Mittelalters, neben der von Canossa auch die der Doppelwahl von 1198, durch die die Machtgrundlagen des Königtums unterminiert und zerstört worden seien. Es ist heute klar, dass der nationale Einigungsprozess im 19. Jahrhundert und die Sehnsucht nach einer starken Zentralgewalt in dieser Zeit als Ursachen dafür anzusehen sind, dass man der Nation das Mittelalter als die Folie präsentierte, vor der die Gegenwart gesehen werden und an der sie ihre Ansprüche ausrichten müsste. So ließen sich die ‚Anfänge der deutschen Geschichte‘ als die goldene Vergangenheit instrumentalisieren, deren Zustände wiederherzustellen als selbstverständliches Anliegen der Nation gelten durfte.

Warum muss man dies am Beginn eines Buches über die ‚Macht der Rituale‘ erwähnen? In erster Linie deshalb, weil es in diesem Buch nicht zuletzt um die Formen und Eigenarten mittelalterlicher Machtausübung geht. Diese stellen sich anders dar, als sie in den skizzierten Geschichtsbildern implizit vorausgesetzt wurden. Die Macht, die die Zentralgewalt nach solchen Vorstellungen in den Zeiten des Mittelalters ausgeübt haben soll, würde sich nämlich so gut wie nicht von der Machtausübung des Staates in der Moderne unterscheiden. Diese Gleichsetzung beinhaltet aber ein deutliches Missverständnis und wird wesentlichen Gegebenheiten mittelalterlicher Machtausübung nicht gerecht. Diese realisiert sich nämlich in weitem Maße in Abhängigkeit vom Konsens der Helfer, der durch Beratung erzeugt wurde. Konsensherstellung war somit eine für die Machtausübung, aber auch für die Durchführung von Ritualen wesentliche Voraussetzung.

Die Macht der Rituale

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