Читать книгу Die Macht der Rituale - Gerd Althoff - Страница 14
I.8 Leitfragen
ОглавлениеAus dem Gesagten ergeben sich verschiedene Fragerichtungen, die die folgenden Untersuchungen leiten werden. Dies sind zum einen die Fragen nach der Grammatik und Semantik der Ritualsprache. Es ist erklärtes Ziel, den Sinn ritueller Akte so weit wie möglich aus dem Kontext und dem Vergleich mit Parallelfällen zu erschließen. Aufgabe ist nicht zuletzt, die Kompetenz wiederzugewinnen, mit der die mittelalterlichen Zeitgenossen auf diesem Felde agierten. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass auch zu dieser Zeit schon das Kompetenzniveau durchaus unterschiedlich gewesen sein dürfte. Was uns an Kenntnissen fehlt, die mittelalterliche Zeitgenossen durch Sozialisation und Partizipation am öffentlichen Leben erlangt hatten, ist jedoch zumindest in Teilen wiederzugewinnen, indem wir uns einen Überblick über die vielen Beschreibungen von Ritualen verschaffen. So sind wir zumindest ansatzweise in der Lage, mit den Perspektiven und Kommentaren der Autoren ein gewichtiges Defizit auszugleichen: An die Stelle teilnehmender Beobachtung, die uns verwehrt ist, setzen wir den Überblick über lange Zeiträume und viele Fälle, gegründet allerdings nur auf dieser Basis von Beschreibungen, deren Perspektivität ein Problem darstellt.48
Eine zweite Fragestellung schließt sich an. Sie zielt auf die Nutzung der so gewonnenen Kenntnisse für das Verständnis des Funktionierens der mittelalterlichen Herrschaftsordnungen. Welche Leistung erbrachte diese Art der Kommunikation bei der Aufrechterhaltung von Ordnung oder auch bei der Stabilisierung von Herrschaft? Wann umgekehrt versagte sie und scheiterte? Mit dieser Frage treten die Konsequenzen einer Kommunikation ins Blickfeld, die zu permanenten ‚Aussagen‘, modern würde man sagen, zu permanentem ‚Outing‘ zwingt. Alle Teilnehmer an Ritualen gaben öffentlich ja in vielfacher Weise zu erkennen, welches Verhältnis sie zu den anderen Teilnehmern hatten; sie übernahmen mit dem Ritual Pflichten; sie akzeptierten Herrschaft und Unterordnung. Von tief greifendem Dissens blieben daher auch die Rituale nicht unberührt: Man entzog sich ihnen entweder durch Fernbleiben oder ließ sie scheitern, wenn man sich stark genug für eine solche Aktion wähnte.
Heute wird das Bild vom ‚gläsernen Bürger‘ als Schreckgespenst an die Wand gemalt – und dies sicher zu Recht. Nie ist aber bedacht worden, dass bereits durch die rituelle Kommunikation der Vormoderne und ihre Spielregeln ein Informationsfluss gewährleistet wurde, der die Mächtigen, aber durchaus nicht nur sie, mit einer Fülle von Nachrichten versorgte, die zur Ausübung von Macht unverzichtbar waren. Rituelles Tun signalisierte ihnen die Zustimmung zu ihrer Herrschaftsführung, machte diese Zustimmung verbindlich. Fehlende Zustimmung offenbarte sich daher denn auch schnell in der Verweigerung ritueller Handlungen. Es war schwierig bis unmöglich, sich in der Sphäre öffentlicher Kommunikation zu bewegen, ohne solche Informationen preiszugeben. So unterschiedlich auf den ersten Blick die Informationen sind, die der moderne Staat mit seiner Bürokratie und die mittelalterlichen Machthaber mittels der Rituale sammeln, beide Techniken vermitteln Kenntnisse, die für je spezifische Formen der Machtausübung fundamental sind. Rituale und der von ihnen ausgehende Zwang zum Mitmachen stellten so ein Instrument der Machtausübung dar, dessen Leistungsfähigkeit es zu erforschen gilt. Es konnte sich nämlich auch gegen die wenden, die es ungeschickt oder unangemessen einsetzten. Die ‚Macht der Rituale‘ äußerte sich nicht zuletzt darin, dass sie alle Teilnehmer zu einem definierten Verhalten zwang, dessen Aussagekraft im Gedächtnis haften blieb und von dessen Verbindlichkeit man sich nicht dispensieren konnte.
Eine dritte Frage scheint von grundsätzlichem Interesse. Es wurde schon angesprochen, dass auch Rituale Veränderungen unterworfen sind, dass sie mit anderen Worten eine Geschichte haben. Einige Rituale sind denn auch bereits durch die Jahrhunderte verfolgt und in ihren Wandlungen beschrieben worden, allen voran die Zeremonien der Königs-, Kaiser- und Papsterhebungen, des herrscherlichen Adventus, der Herrscherbegegnungen oder der Treffen von Kaiser und Papst.49 Auch die rituellen Handlungen im Umkreis des Herrschertodes und -begräbnisses sind zurzeit Thema intensiver Forschungen.50 Dabei hat man jedoch Veränderungen zumeist eher formal registriert und kaum gefragt, wodurch sie bedingt waren und welche Aussage mit der Veränderung beabsichtigt war. Eine solche Frage nach den Ursachen des Wandels ist zumeist nur schwer zu beantworten, da in der Überlieferung höchst selten die Gründe für Veränderungen genannt werden. Die Beobachtung, dass wir signifikante Veränderungen in der rituellen Kommunikation dann feststellen, wenn sich die Beziehungen der Kommunikationspartner gravierend verändern, berechtigt jedoch zumindest zu der Vermutung, dass beides miteinander zu tun hat. Das Problem liegt jedoch tiefer. Wir wissen bisher zu wenig darüber, wie überhaupt die Fähigkeit der mittelalterlichen Gesellschaft entstanden ist, komplexe Sachverhalte zeichenhaft zum Ausdruck zu bringen und überdies ein homogenes Verständnis für den Sinn dieser Zeichen zu entwickeln und zu tradieren. Aus dieser Perspektive soll daher in den folgenden Kapiteln nach der Geschichte der Rituale gefragt und versucht werden, den ‚Lernprozess‘ nachzuvollziehen, den diese Gesellschaft absolviert haben dürfte, als sie zunehmend mehr zu rituellen Ausdrucksformen griff und zunehmend komplexere Aussagen dieser Form der Kommunikation anvertraute.
Deshalb wird ganz bewusst nach den Fällen gesucht, in denen rituelle Formen in der Überlieferung erstmals begegnen. Die Analyse solcher Fälle konzentriert sich einmal auf die Frage, wer und aus welchen Gründen die neuen Formen konzipierte, zum Zweiten wird aber auch nach der Wirkungsgeschichte des Neuen gefragt: Wurde es später nur nachgeahmt oder bei der Wiederverwendung verändert? Lassen sich Analogiebildungen oder Transfervorgänge beobachten? Kurz: Welche Faktoren beeinflussten die Verwendung der Rituale und prägten ihre Geschichte? Mit solchen Analysen scheint es möglich, den Prozess verstehbarer zu machen, der zur weitgehenden Ritualisierung zumindest der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters geführt hat.51
Insgesamt soll also untersucht werden, was die rituellen Kommunikationsformen über die Verteilung der Gewichte im politischen Kräftespiel aussagen. Zeigen die Rituale bzw. ihre Veränderung an, dass sich Rahmenbedingungen von Machtausübung ändern oder geändert haben? Unter welchen Bedingungen haben schließlich Rituale Konjunktur, wann und warum wachsen oder schrumpfen ihre Anwendungsbereiche? Alle diese Fragen gehen davon aus, dass sich die Geschichte der Macht in der Geschichte der Rituale spiegelt, oder besser, durch sie vermittelt wird.
Ganz global ist auf folgende Ausgangssituation hinzuweisen: Gesellschaften, in denen Herrschaft in Face-to-face-Kommunikation ausgeübt wird, haben einen großen Bedarf an Ritualen, weil die persönliche Begegnung nach ritueller Ausgestaltung verlangt. Genau dies aber war im Mittelalter in langen Jahrhunderten der Fall. Es ist daher durchaus nahe liegend und Erfolg versprechend zu fragen, welche Konsequenzen die Tatsache hatte, dass die Könige größten Wert darauf legten und legen mussten, den Herrschaftsverband häufig zusammenzurufen, um mit ihm alle anstehenden Probleme zu beraten. Kann man aber eine Geschichte der Hoftage aus der Perspektive der praktizierten Rituale schreiben? Welche der zweifelsohne zu beobachtenden Veränderungen lassen sich kausal mit anderen Wandlungsprozessen in Beziehung bringen? Versucht hat so etwas noch niemand und gewiss ist bei einem solchen Unternehmen an das klassische Diktum zu erinnern: Nicht alles, was sich zeitgleich verändert, ist auch kausal miteinander verknüpft. Doch wenn die Arbeitshypothese, dass mit Ritualen Macht ausgeübt wurde, nicht gänzlich in die Irre geht, dann müssen sich auch Veränderungen bei der Machtausübung in irgendeiner Weise in den Ritualen niederschlagen. Zumindest ist es sinnvoll, diese Möglichkeit zu prüfen.
Diese Leitfragen bestimmen auch die Anlage der folgenden Kapitel. Sie bieten eine chronologische Folge, in der ein breiteres Spektrum an Ritualen anhand ausgewählter Fälle vorgestellt wird. Im Zentrum des Interesses steht einmal die Frage, ob sie eine Funktion als Instrumente der Machtausübung erfüllten oder aber auch zur Begrenzung von Macht beitrugen. Darüber hinaus aber scheint es notwendig, darauf zu achten, ob sich eine Geschichte der Rituale erkennen und beschreiben lässt. Hierzu gehören Phänomene wie Anfang und Ende, Dauer und Wandel, Funktionsausweitung wie -verlust und andere mehr, die in ihrer Summe den Umgang der mittelalterlichen Gesellschaft mit den Ritualen charakterisieren.