Читать книгу Die Macht der Rituale - Gerd Althoff - Страница 13
I.7 Wie entstehen Rituale? oder: Die Geschichtlichkeit der Rituale
ОглавлениеNicht selten sind die einfachsten Fragen die schwersten – dennoch ist die hier gestellte kaum zu umgehen: Wie entstehen Rituale? Für viele Kulturen wäre auf diese Frage wahrscheinlich die angemessene Antwort: Es gab sie schon immer. Das ist bei einigen Beispielen wahrscheinlich sogar richtig. Das allen Kulturen bekannte Ritual des Mahles ist wahrscheinlich älter als seine ältesten Belege. Auch bei vielen anderen Ritualen versagt die Überlieferung jeden Blick in die Zeiten ihrer Genese. Andererseits haben Rituale aber auch ihre Geschichte. Sie überdauern die Zeit nicht unverändert, im Gegenteil. Und dieser Wandel wird von Menschen bewirkt, die etwas oder viel an Ritualen verändern, Rituale abwandeln, auf neue Situationen hin verändert konzipieren oder auch einfach die Durchführung eines Rituals einstellen. Dies kann man im Verlauf des Mittelalters an verschiedenen Ritualen beobachten, weil wir es in dieser Zeit mit einer semioralen Kultur zu tun haben, in der immer wieder unterschiedliche Autoren aus unterschiedlichen Anlässen Beschreibungen von Ritualen produzierten. Genauso kann man in günstig gelagerten Fällen die Entstehung eines Rituals und seine Ursachen erkennen oder auch seinen Transfer von einem in einen anderen Bereich, was nahezu einer Neuschöpfung gleichkommen kann.45
Diese Beobachtungen führen und berechtigen zu der Frage, wie man sich die Gestaltung von Ritualen vorzustellen hat, eine Frage, von deren Beantwortung das Verständnis rituellen Tuns nicht unwesentlich abhängt, das wir zu entwickeln begonnen haben. Eine unserer Grundannahmen ist dabei, dass die Teilnehmer am Ritual genau wussten, was sie dort taten, was es bedeutete und welche Konsequenzen das Tun hatte. Diese Annahme ist einer der Eckpfeiler unseres Verständnisses, die in den Untersuchungskapiteln daher besonders gründlich zu belegen ist. Um einen Eckpfeiler handelt es sich insofern, als Rituale keine verbindlichen Absprachen besiegeln, keine Verpflichtungen begründen könnten, die für die Zukunft Gültigkeit beanspruchen, wenn Akteuren wie Zuschauern nicht Sinn und Bedeutung des Geschehens klar wäre. Damit reden wir einem reflektierten Umgang der mittelalterlichen Zeitgenossen mit den Ritualen das Wort.
Berechtigt ist man zu solchen Annahmen, weil in mittelalterlichen Quellen aus den verschiedensten Ursachen von Verhandlungen die Rede ist, in denen der Ablauf von Ritualen festgelegt wurde. Hierbei wurde um Einzelheiten gerungen, weil man um den Stellenwert bestimmter Aussagen wusste und deshalb auf ihnen bestand oder sie zu vermeiden suchte. Man rechnete ganz offensichtlich auch mit der Fähigkeit eines breiteren Publikums, selbst Nuancen von Veränderungen bemerken und einordnen zu können. Nur so erklären sich Verhandlungen über die Frage, ob man ein Unterwerfungsritual barfuß durchführen müsse oder Schuhe tragen dürfe, ob Vasallen der Gegenseite den Akt mit Triumphgeschrei begleiten oder ihm schweigend beizuwohnen hätten. Aus den früheren Jahrhunderten des Mittelalters besitzen wir lediglich Berichte über solche Verhandlungen – und diese sind äußerst rar; seit dem 13. Jahrhundert sind jedoch zunehmend Urkunden und Verträge erhalten, in denen der Ablauf von Ritualen vorweg festgelegt ist. Man hat nun das, was man zuvor mündlich absprach, auch schriftlich fixiert.
Als etwa im 17. Jahrhundert der französische König Ludwig XIV. nach siegreichem Spanienfeldzug seinen Einzug in Paris hielt, war das Zeremoniell dieses Einzugs monatelang beraten worden; ganze Komitees waren damit beschäftigt gewesen, jede Einzelheit der Inszenierung auf ihren Sinn hin zu prüfen und sie untereinander abzustimmen, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Durch- und aufgeführt wurden dann nur Dinge, die autorisiert waren.46
Nun wird man nicht in jedem Fall jedes Ritual so lange geplant und beraten haben. Die Vorbereitungen und Planungen dürften vielmehr davon abhängig gewesen sein, wie ungewöhnlich die Situation war, in der rituelle Kommunikation durchgeführt wurde. Man wird sozusagen von Routinefällen ausgehen dürfen, in denen kurze Absprachen genügten, mit denen man sich auf das gewohnte Procedere verständigte. Spannender und ertragreicher für das Verständnis sind naturgemäß die Fälle, in denen die Situation neu, prekär oder brisant war und man deshalb auf die Gestaltung der rituellen Akte größte Sorgfalt verwenden mußte, weil durch sie eben Aussagen gemacht wurden, die nicht mehr zurückzunehmen waren. In solchen Fällen konnte schon das Ritual der Begrüßung Gegenstand zäher Verhandlungen werden, weil schon hierin das Verhältnis der sich Begegnenden zeichenhaft zum Ausdruck kam. Wer bei solcher Gelegenheit den Strator-Dienst leistete, hatte damit eigentlich schon alles ‚gesagt‘, so dass es nicht verwundert, wenn man von zähen Vorverhandlungen hört. Diese konnten zu so originellen Kompromissen führen wie dem, dass der byzantinische Kaiser Manuel und König Konrad III. bei der Begrüßung aufeinander zuritten und sich im Sattel sitzend küssten.47 Nur so sahen sie ihr Verhältnis, ihre Gleichrangigkeit adäquat zum Ausdruck gebracht.
An diesem Beispiel ist auch eine Eigenschaft rituellen Verhaltens abzulesen, die von grundsätzlicher Bedeutung ist. Das Verhalten der Akteure ist aufeinander abgestimmt, es ist interaktiv. Jeder weiß, was der andere tun wird und was man selbst zu tun hat. Diese interaktive Dimension aber ist wohl eine Voraussetzung, wenn man komplexe Botschaften mittels rituellen Verhaltens übermitteln will. Zur Frage nach der Geschichtlichkeit der Rituale gehört daher auch festzustellen, seit wann diese Fähigkeit zu interaktivem Handeln zu beobachten ist, wie sie zustande kam und in welchen Ausformungen sie begegnet.