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Vorwort zur Neuausgabe
ОглавлениеDas knappe Jahrzehnt, das seit dem Schreiben dieses Buches vergangen ist, kann als Zeitraum intensiver Ritualforschung in den Kulturwissenschaften charakterisiert werden. Dies manifestiert sich aktuell etwa in der vom Heidelberger SFB „Ritualdynamik“ herausgegebenen fünfbändigen Publikation (A. Michaels (Hg.), Ritual Dynamics and the Science of Ritual, Wiesbaden 2010), die Beiträge einer interdisziplinären und internationalen Tagung zu dieser Thematik aus dem Jahre 2009 versammelt. Der Austausch, den die Ritualforschung über die Grenzen von Disziplinen, Epochen und Kulturen hinweg betrieben hat, verstärkte die Einsicht, wie unterschiedlich die Formen, Funktionen und Leistungen sind, die den Erscheinungen, die man Rituale nennt, jeweils zugeschrieben werden. Diese hängen ganz entscheidend von sozialen, religiösen oder politischen Rahmenbedingungen in den Gesellschaften ab, in denen diese rituelle Kommunikation praktiziert wird. Dies gibt allen Anlass, zur zweiten Auflage dieses Buches nachdrücklicher auf Rahmenbedingungen der Gesellschaft hinzuweisen, die die hier untersuchten Rituale praktizierte. Diese Rahmenbedingungen bewirkten spezifische Funktionen und Leistungen der mittelalterlichen Rituale, die bei jedem Epochen- und Kulturvergleich in Rechnung zu stellen sind. Der Geltungsanspruch der in diesem Buch gegebenen Einschätzungen ist daher zunächst einmal auf die mittelalterliche Gesellschaft und auf ihre Führungsschichten beschränkt.
Die früh- und hochmittelalterliche Gesellschaft, die im Zentrum des Interesses dieser Forschungen steht, unterscheidet sich von modernen Gesellschaften vor allem durch den vorstaatlichen Charakter ihrer Ordnungsstiftung: Diese ist gekennzeichnet durch das weitgehende Fehlen expliziter Regeln und abstrakt-genereller Normen in schriftlicher Form und durch die Befolgung von ‚Gewohnheiten‘, die erst im Bedarfsfall in mündlich-persönlicher Beratung ‚gefunden‘ werden. Begründet wird diese Ordnung vorrangig durch rituelles Verhalten, mit dem symbolisch verdichtet gezeigt wird, welche Rechte und Pflichten man anerkennt. Ohne Teilnahme gab es keine Verpflichtung.
Solche öffentlichen Rituale etablierten oder verlängerten eine bestimmte Ordnung, weil das gezeigte Verhalten für die Zukunft band. Damit praktizierte diese mittelalterliche Gesellschaft Formen der Ordnungsstiftung, die eine große Ambiguität kennzeichnete. Die rituellen ‚Aufführungen‘ konstituierten generelle Verhältnisse und Verpflichtungen, regelten keinerlei detaillierten Rechte und Pflichten. Gegenüber dieser deutlichen Schwäche der Ordnungsstiftung durch Rituale war man lange Zeit relativ indifferent, seit dem 12. Jahrhundert bemerkt man jedoch zunehmend, wie diese ordnungsstiftenden Rituale durch zusätzliche schriftliche Vereinbarungen substituiert und damit in ihrer Wirkung effektiver gemacht wurden. Dieser ‚Lernprozess‘ minderte jedoch nicht die Intensität der rituellen Kommunikation.
Von anderen, vormodernen Gesellschaften, die Ethnologen als nicht stratifizierte oder ‚primitive‘ bezeichnen, unterschiedet sich die mittelalterliche bezüglich ihrer rituellen Praxis vor allem in zweierlei Hinsicht: Zum einen widmet sich die rituelle Kommunikation in hohem Maße der Fixierung und Anerkennung von Rang und Stand der Akteure. Viele Rituale und viel Semantik der Rituale sind dem Anliegen verpflichtet, die differenzierte Rangordnung verbindlich festzulegen oder aus der Rangordnung resultierende Rechte wie Pflichten zu benennen. Zum anderen gehen in die Aussagen mittelalterlicher Rituale Vorstellungen ein, die aus zwei sehr unterschiedlichen Wertehorizonten stammen: aus dem der Adels- und Kriegergesellschaft und aus dem des Christentums. Die rituelle Kommunikation in den Führungsschichten und mit dem Sakralkönigtum dieser Zeit scheint dabei stark von Ausdrucksformen geprägt zu sein, die christlichen Vorstellungshorizonten entstammen. Beide Rahmenbedingungen beeinflussen jedenfalls die Eigenart und Komplexität mittelalterlicher Ritualsemantik deutlich und müssen bei vergleichenden Betrachtungen in Rechnung gestellt werden.
Dieses Buch, das ist dem Autor bei der erneuten Lektüre wieder vor Augen geführt worden, ist zunächst einmal geschrieben, um die engeren Fachkolleginnen und Kollegen von der Tragfähigkeit der die mittelalterliche Gesellschaft betreffenden Vorstellungen und Thesen zu überzeugen: Diese zielten auf den Nachweis einer vorstaatlichen Gesellschaft, die ihre Ordnung auf Rituale gründet. Gleichrangiges Ziel war der Nachweis, aus welchen Bausteinen sich diese Rituale zusammensetzten, und hier lag der Schwerpunkt auf der Verarbeitung christlichen Gedankenguts und christlicher Ausdrucksformen in den Herrschaftsritualen. Diese Konzentration kann und will das Buch nicht verleugnen. Verwendbar ist es aber auch für den Vergleich mit anderen Ritualkulturen, obgleich es selbst diesen Vergleich nicht explizit durchführt.
Münster, im November 2011 | Gerd Althoff |