Читать книгу Die Macht der Rituale - Gerd Althoff - Страница 8

I.2 Begriffliche Annäherungen

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Weit mehr als Historiker haben Soziologen Begriff und Inhalt der Macht seziert und herausgearbeitet, in welchen Formen Macht von Menschen über Menschen begegnet, wie sie etabliert, stabilisiert und nicht zuletzt legitimiert wird. So hat etwa Heinrich Popitz vier Formen der Machtausübung unterschieden, die er ‚Aktionsmacht‘, ‚instrumentelle‘, ‚autoritative‘ und schließlich ‚datensetzende Macht‘ nannte.6 Realtypisch tritt Macht häufig als eine Mischform dieser Typen auf, doch ist es zweifelsohne für ein Verständnis des Phänomens förderlich, begrifflich zwischen diesen Typen zu unterscheiden. ‚Aktionsmacht‘ meint hier in erster Linie die Fähigkeit, sich mit Gewalt durchzusetzen. ‚Instrumentelle Macht‘ bezeichnet die Möglichkeit, schon durch die latente Drohung mit der Anwendung von Gewalt, durch die Fähigkeit, notfalls Gewalt zu gebrauchen, das gleiche Ziel zu erreichen. Unter ‚autoritativer Macht‘ ist jenes Prestige zu verstehen, das Gehorsam und Gefolgschaft aus den unterschiedlichsten Gründen erreicht, sei es durch eine übernatürlich-sakrale Legitimierung, sei es durch die Attraktivität der Belohnungen, die dem Gehorsam auf dem Fuße folgen. Die Wesenszüge der ‚datensetzenden Macht‘ können hier vernachlässigt werden, da diese in den Zeiten des Mittelalters noch nicht relevant war.

In dieser Zeit haben wir es bei den Interaktionen der Führungsschichten, um die es uns vorrangig geht, in erster Linie mit dem Typus der ‚autoritativen Macht‘ zu tun, die sich sakral legitimiert und als Herrschaft ‚von Gottes Gnaden‘ Befolgung ihrer Anweisungen fordert. Sie ist aber gleichzeitig charakterisiert durch eine angemessene Beteiligung der wichtigen Helfer an der Machtausübung. Als solche Helfer etablierten sich im Mittelalter sowohl der Adel als auch die Kirche, deren höchste Ränge nahezu ausschließlich von Adeligen eingenommen wurden. Die Beteiligung konkretisierte sich sowohl in reichhaltiger Belohnung und Privilegierung dieser Helfer als auch in der Einholung ihres Konsenses bei anstehenden Entscheidungen.7

Von dieser Art der Machtausübung führt jedoch kein einfacher Weg zu den Ritualen, die denn auch bisher noch nie als eine spezifische Form solcher Machtausübung gewürdigt worden sind. Dennoch ist dieser Weg durch Arbeiten der modernen Mediävistik bereits geebnet, die vielfältig akzentuiert hat, dass Macht im Mittelalter zur Anschauung gebracht werden musste.8 Dies geschah in Akten der Herrschaftsrepräsentation, in denen nicht nur Glanz und Reichtum öffentlich gezeigt wurde. Vielmehr wurden mittels zeremonieller und ritueller Handlungen auch Verpflichtungen übernommen, Beziehungen dargestellt, Rechte anerkannt und vieles andere mehr. Machtausübung vollzog sich offensichtlich ganz wesentlich in solchen Handlungen. Ihre Eigenart kam nirgendwo direkter zum Ausdruck als im häufig interaktiven Handeln der Mächtigen in der Öffentlichkeit. In dieser Öffentlichkeit begegneten sich Macht und Ritual, weil mit den Ritualen festgelegt wurde, welche Möglichkeiten der Macht eingeräumt und welche Grenzen ihr gesetzt sein sollten. Dieser Zusammenhang von Ritual und Machtausübung kann hier nur thesenartig angesprochen werden. Er wird uns gleichwohl ständig beschäftigen.

Nun ist der Begriff ‚Ritual‘ nicht weniger schwierig einzugrenzen als derjenige der Macht. Dies liegt vor allem an der Vielzahl der Phänomene aus den unterschiedlichsten Bereichen, für die er einen adäquaten Ordnungsbegriff abzugeben scheint. Die Vielzahl der Wissenschaften, die ihn benutzen, hat überdies dazu beigetragen, ein geradezu babylonisches Gewirr von Bestimmungen dieses Begriffs zu befördern.9 Jeder Aufruf zu Purismus und zu restriktiver Verwendung des Begriffs für bestimmte Sachverhalte scheitert bisher jedoch offensichtlich daran, dass er in vielen Bereichen leistungsfähig ist und deshalb in unterschiedlichen Zusammenhängen und von verschiedenen Fächern als adäquater Begriff angesehen wird. Hier soll daher nicht der Versuch unternommen werden, den vielen Definitionen von ‚Ritual‘ eine neue hinzuzufügen, die mit dem Anspruch auftritt, für alle bisher unter diesen Begriff subsumierten Erscheinungen gültig zu sein. Vielmehr benutzen wir den Begriff in dem Bewusstsein, dass er große Schnittmengen mit einer Reihe anderer Begriffe und Phänomene aufweist, so etwa mit ‚Zeremoniell‘, mit ‚Ritus‘, ‚Brauch‘, ‚Gewohnheit‘ und noch einigen anderen. Eine Sensibilität für die fließenden Übergänge zwischen den mit solchen Begriffen anvisierten Phänomenen scheint daher sinnvoller als eine rigorose Begriffsbestimmung, die die komplexen Befunde der Empirie künstlich trennt und so Erkenntnismöglichkeiten beschneidet.

Ursprünglich fand der Begriff seine Verwendung wohl in erster Linie im Bereich von Religion und Kult, was auch die Einschätzung der Wesenszüge von Ritualen entscheidend geprägt hat. Man ging von einem magischgeheimnisvollen Charakter der Rituale aus, sah sie in einem mimetischen Verhältnis zur kosmischen Schöpfung.10 Durch Rituale wurde die Welt in Gang gehalten, wie schlagend jene altägyptischen Priester verdeutlichen, die es mit geheimnisvollen und sorgsam gehüteten Beschwörungsformeln fertig brachten, dass die am Abend im Westen untergegangene Sonne am nächsten Morgen im Osten wieder erschien. Der tägliche Erfolg ihres Tuns begründete und legitimierte ihre Stellung und Macht.11 Doch ließ sich die ausschließliche Verwendung des Begriffs ‚Ritual‘ für religiös-kultische Handlungen nicht halten, auch wenn sie immer noch gefordert wird.

Einen entscheidenden Schritt zur Säkularisierung des Ritualbegriffs stellt bereits das Werk Sigmund Freuds dar, der diesen Begriff zur Bezeichnung zwanghafter Handlungen seiner Patienten benutzte.12 Hierdurch wurde die pejorative Einschätzung des ‚leeren‘ Rituals befördert, mit dem in erster Linie eine Auseinandersetzung mit tieferliegenden Konflikten abgewehrt wird. Von hier aus öffnete sich der Weg zu einem erweiterten Ritualbegriff, der alle Formen konventionellen, stereotypen und repetitiven Verhaltens einschließt. Rituale sind auf diesem Wege aber in steter Gefahr, sozusagen zu Routinen zu verkommen. Sie sind in dieser Perspektive „kommunikative Trampelpfade“, denen man sich blind anvertrauen kann, denen man aber auch eine ungute Starre zuschreibt.13

Als charakteristisch für solche Einschätzungen sei die Wertung Niklas Luhmanns genannt: „Man kann Rituale begreifen unter dem Gesichtspunkt des Coupierens aller Ansätze für reflexive Kommunikation. Die Kommunikation wird als fixierter Ablauf versteift, und ihre Rigidität selbst tritt an die Stelle der Frage, warum dies so ist. (…) Rituale sind vergleichbar den fraglosen Selbstverständlichkeiten des Alltagslebens, die ebenfalls Reflexivität ausschalten.“14 An die Stelle des Geheimnisvoll-Bedeutsamen ist so der Wesenszug des Unreflektierten getreten, der Ritualen eigen sein soll. Unter Hinweis auf diesen Wesenszug lässt sich dann leicht der Kampf gegen die ‚leeren‘ oder auch ‚starren‘ Rituale führen, die der Selbstverwirklichung des modernen Menschen entgegenstehen. Man muss schon hier deutlich darauf hinweisen, dass diese Bewertungen die Eigenarten rituellen Verhaltens im Mittelalter gar nicht treffen.

Modernes Ritualverständnis beschränkt sich aber durchaus nicht darauf, die Rituale den unreflektierten Verhaltensweisen zuzuordnen. Der Begriff ‚Ritual‘ wird vielmehr auch dort verwandt, wo man moderne Politik als multimediale Aufführung, als Theater, als Inszenierung versteht und deren Rahmenbedingungen zu erhellen versucht.15 Mit diesen Begriffen ist mehr als angedeutet, dass man die so genannten Rituale der Politik als Akte der Performance versteht, die alles andere als unreflektiert, vielmehr minutiös vorgeplant, von Regisseuren in Szene gesetzt sind, um ein bestimmtes Image oder eine bestimmte Botschaft zu transportieren. Politikverdrossenheit in der Gegenwart speist sich nicht zuletzt aus der Einschätzung, alles, was ‚die dort oben‘ machen, sei doch abgekartet und inszeniert. Die öffentliche Diskussion darüber, ob bestimmte spektakuläre Handlungen von Politikern inszeniert waren oder spontanen Charakter hatten, führt ins Zentrum solchen modernen Ritualverständnisses. Man rechnet damit, dass das, was so eindrucksvoll spontan wirkt, Ergebnis einer sorgfältigen Vorplanung ist, der Politiker somit zum Schauspieler wird, der seine Rolle nicht nur verbal, sondern auch gestisch gut gelernt hat.

Heute wertet man derartige Inszenierungen entschieden negativ und spricht in diesen Zusammenhängen abwertend von den Politik-Ritualen. Der berühmte Kniefall Willy Brandts in Warschau musste deshalb einer spontanen Eingebung entspringen und durfte nicht Ergebnis ministerieller Planung sein, worauf Brandt selbst insistierte.16 Anderenfalls hätte er seine Wirkung eingebüßt. Derartige Inszenierung wird in der Politik heute dann unterstellt, wenn man anderen einen schwerwiegenden Vorwurf machen will: So konterte Wolfgang Schäuble nach dem Machtwechsel in Bonn 1998 die Regierungserklärung Gerhard Schröders unter dem Leitgedanken: Jetzt ist Schluss mit der Inszenierung, jetzt muss es wieder um die Substanz gehen.17 Schröder selbst ist auf diesen Vorwurf nicht eingegangen, hätte aber antworten können, dass Substanz und Inszenierung keinesfalls als Gegensätze begriffen werden müssen – und dies nicht nur in der Politik.

Mit diesen Hinweisen ist anhand dreier Beispielfelder ein sehr unterschiedliches Verständnis vom Wesen der Rituale angedeutet, das sich kaum in einer alle Ansprüche und Perspektiven zufrieden stellenden Definition aufheben lässt. Man wird vielmehr akzeptieren müssen, dass unter der Bezeichnung ‚Ritual‘ durchaus unterschiedliche Phänomene versammelt werden. Gemeinsam ist ihnen in erster Linie, dass es sich um Ketten von Handlungen, Gesten und auch Worten handelt, die Mustern verpflichtet sind, sie wiederholen und so einen Wiedererkennungseffekt erzielen. Hierbei können magisch-geheimnisvolle Praktiken im Vordergrund stehen, der Vorgang kann unreflektiert ablaufen, er kann aber auch Ergebnis einer bewussten Planung sein, durch die die Teilnehmer vorweg Konsens über den beabsichtigten Ablauf herstellen. Man wird am Einzelfall prüfen müssen, welche dieser Möglichkeiten vorliegt. Dabei ist durchaus damit zu rechnen, dass nur wenige der Teilnehmer oder Zuschauer in die Planungen einbezogen waren, während andere unreflektiert mitmachten oder auch das Ritual als geheimnisvoll erlebten und erleben sollten. Es macht jedoch einen wesentlichen Unterschied aus, welchen der Typen von Ritual wir im Einzelfall vor uns haben, weil die Wirkungen, die mit ihnen jeweils erzielt werden, überaus verschieden sind. Über die spezifischen Leistungen, die Rituale in der Kommunikation der mittelalterlichen Führungsschichten erbrachten, wird an späterer Stelle der Einleitung noch zu diskutieren sein.

Die Macht der Rituale

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