Читать книгу ...des Lied ich sing' - Gerd Pfeifer - Страница 10

Der alte Mann steigt aus der Wanne

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Er stöhnt leise. Wenn er längere Zeit in einer Stellung verharrt, fällt es ihm schwer, sich daraus zu erheben. Zwar kann er noch immer jede Stelle seines Körpers erreichen, aber plötzliche Bewegungen muss er vermeiden. Meistens schmerzen sie. Vielleicht erwartet er den Schmerz auch nur. Jedenfalls hat er es sich zur Gewohnheit gemacht, jede ungewöhnliche Bewegung zunächst im Geist zu vollziehen, ehe er sie tatsächlich ausführt. Das lässt ihn oft schwerfällig erscheinen, aber es bewahrt ihn vor dem plötzlichen Schmerz, mit dem ihn sein unwilliger Körper für abruptes Agieren bestraft.

Langsam richtet er sich auf. Dann betrachtet er seine faltige Haut in dem großen Spiegel, der fast die gesamte Wand hinter den Handwaschbecken einnimmt. Wenn er schlecht gelaunt ist, fragt er sich selbstquälerisch, welche perverse Neigung ihn immer wieder veranlasst, seinen resignierten Blick auf das verfallene Fleisch seiner behaarten Physis zu lenken. Hängende Falten, wo noch vor kurzem schwellende Muskeln prangten. Der weiße Teint des rothaarigen Indoorsportlers, blauschimmernde Adern unter der Epidermis, dünne Waden, knotige kalte Finger, schütteres Haupthaar - - schamhaft und ein wenig angeekelt verbirgt er seinen Greisenkörper in einem weiten Badelaken und denkt mit seinem eingeübten ironischen Lächeln an eine Zukunft, in der vielleicht alte Männer Schönheitsidole sein werden.

Im Ankleidezimmer – mehr ein Durchgang mit Einbauschränken zu beiden Seiten – hängt sein Anzug für den heutigen Tag. Schon vor Jahrzehnten hat er begonnen, grauen Flanell in allen üblichen Schattierungen zu tragen. Während einiger Jahre tendierte er zu immer helleren Tönen, bis ihn die Peters auf ein paar alte Männer in lächerlich junger Begleitung aufmerksam machte, die zu ihren hellgrauen Anzügen Krawatten aus grellblauer gestrickter Seide und einen absurd hellgrauen Hut trugen. Da kehrte er reumütig zu gedeckteren Farben zurück.

Den Hang, sich mit jungen Mädchen in der Öffentlichkeit zu zeigen, hat er zum Glück nie besessen. Aber wenn er in naher oder fernerer Zukunft auf einen Rollstuhl angewiesen sein sollte, wird er sich von einer Kurvenschönheit in Schwesterntracht kutschieren lassen. Das steht fest. Wenigstens vorläufig. Aber so recht ist er nicht davon überzeugt, dass er diesen Plan in der Tat realisieren wird.

Heute Vormittag erwartet er die Leute, mit denen er die Dachrenovation besprechen will. Er wird sie ins Arbeitszimmer bitten. Das ist klein, eigentlich zu klein und unbequem für die mindestens vier Männer, die kommen werden. Sie werden ihre Kaffeetassen in den Händen halten oder auf den Fußboden stellen müssen, wenn er seinen Schreibtisch nicht doch noch aufräumt. Vielleicht beeilen sie sich dann mit ihren Vorschlägen. Viel Neues wird es ohnehin nicht zu besprechen geben. Jedenfalls wird er nicht mit ihnen in den Garten gehen, um den Schaden, soweit er sichtbar ist, zum wiederholten Mal zu begutachten. Er kann also die bequemen Schuhe aus geflochtenem Leder anziehen, von denen die Peters behauptet, dass sie unpassend für ihn seien.

Seit dem kleinen Unfall damals im Preußischen Verein für Kraftsport e.V. schmerzt sein rechter Fuß beinahe ständig, wenn er nicht diese unförmigen Gesundheitsstiefel trägt. Er hat die Hantel nicht richtig umgesetzt, ist aus dem Gleichgewicht geraten - - und dann waren alle Bewegungsabläufe durcheinandergeraten, das Gewicht fiel auf seinen Fuß, ein Knochen brach, wurde mit einem Draht gerichtet und wuchs nicht ordentlich zusammen.

Doktor Max war, als der Unfall geschah, keine große Hilfe. Er durfte noch nicht praktizieren. Später erst, nachdem er zum Arzt promoviert worden war und aufgrund seiner karrierefördernden Neigung zum Nationalsozialismus eine bekannte Größe an der Militärärztlichen Akademie geworden war, ließ er sich aus alter Freundschaft herbei, ihn für kriegsdienstverwendungsuntauglich zu erklären. So kam es, dass Deutschland den Zweiten Weltkrieg ohne ihn verlor.

Den Sportunfall erlitt Georg gleich nachdem er aus Altona nach Berlin zurückgekehrt war. Er hatte sich länger als vorgesehen bei seinen Eltern aufgehalten. Seine Mutter war doch noch an ihn herangetreten, um ihn bei der Organisation der innerbetrieblichen Abläufe im Café um seinen Rat zu bitten. Er richtete vernünftige Kontrollmechanismen ein. In der Berliner Bierschwemme hatte er einige Erfahrungen gesammelt, und das übrige Wissen hatte er aus seinen Fachbüchern geschöpft.

Sein Vater war skeptisch. Er vertraute mehr auf die Ausstrahlung seiner Person als auf Organisationspläne. Wahrscheinlich war es alles zusammen, Wilhelms misstrauisches Auge, die Gewissenhaftigkeit seiner Mutter bei der Papierarbeit und Georgs nicht zu leugnendes Organisationstalent, das die Anfangsverluste des Cafés klein hielt. Jedenfalls fuhr Georg zufrieden nach Berlin zurück. Auf Überraschungen war er nicht gefasst.

Die erste erlebte er, als er voller Erwartung die Tür zu Maries Wohnung öffnete. Überall standen gepackte Koffer, Kisten und Kartons. Möbel waren abgebaut, auseinandergenommen, und die Einzelteile in der Wohnung verstreut. Schränke standen leer, Gardinen waren von den Fenstern genommen und der elektrische Strom gesperrt. Georg kam abends in Berlin an. Beim Pächter der Bierschwemme hatte er sich schriftlich für den nächsten Morgen angemeldet. Antwort auf seinen Brief hatte er nicht erhalten. Marie wusste nicht, dass er heute zurückkehrte. Er hatte ihr nur eine Ansichtskarte von St. Pauli geschickt und seine Rückreise ohne festen Termin angekündigt.

Die Ankunft in Berlin war offenbar zu einem einzigen Desaster geraten.

Grimmig schleuderte er eine der dreiteiligen Matratzen, die damals in Mode kamen, auf den Fußboden, klemmte die Einzelstücke zwischen Wand und einen schweren Sessel, warf ein Federbett ohne Bezug dazu und war enttäuscht. Seit Wochen hatte er keine Frau mehr angerührt. Er hatte sich ausgemalt, dass er mit Marie alles nachholen würde, was er versäumt hatte. Und nun dies. Eine verlassene Wohnung.

Am nächsten Morgen rannte er aus dem Haus, ohne seinen Koffer ausgepackt oder die Wohnung aufgeräumt zu haben. Nur einen Zettel, den er aus dem kleinen Heft riss, in das Marie sorgfältig ihre Einkünfte eintrug, heftete er an die innere Wohnungstür:

Was ist los? Wo bist du? G.

Im Büro des Pächters erwartete ihn die nächste Überraschung. Zunächst musste er fast eine Stunde warten. Dann wurde er von einem hochnäsigen Sekretär abgefertigt:

"Wir wussten nicht, wann Sie kommen. Wir wussten nicht einmal, ob Sie überhaupt zurückkommen. Ihr Posten ist inzwischen anderweitig besetzt."

Damit war er entlassen. Der Sekretär übergab ihm seine Arbeitspapiere.

Während der gesamten Wirtschaftskrise, in der alle Anderen um ihren Arbeitsplatz fürchteten, hatte er seine Stellung behalten. Tausende waren entlassen worden, Millionen mussten stempeln gehen. Aber er, Georg Schäfer, hatte sein Geld verdient. Und nun, auf einmal, als alles besser zu werden schien, wurde er auf die Straße gesetzt. Einfach so. Wie einer dieser Tagelöhner im heruntergekommenen Kellnerfrack, die immer wieder versucht hatten, ihn hinter dem Tresen zu betrügen.

Wutentbrannt rannte er durch die Straßen der Stadt. Er verachtete Verzweiflungstrinker noch mehr als Gewohnheitssäufer. Sonst hätte er sich heute sinnlos betrunken. Verächtlich lachte er auf und wartete darauf, dass einer der Passanten ihn dumm anschwatzte. Er hätte ihn verprügelt.

Plötzlich stand er vor Ellens Buchladen. Natürlich wusste er, dass sie nicht die Inhaberin war. Sie war angestellt. Wie er. Aber für ihn bestand die Buchhandlung nur aus Ellen. Sie war wichtig. Alles andere, ihre Kollegen, die Kassiererin, selbst die Bücher bedeuteten nichts.

Er nahm das alles nur wahr, weil Ellen zwischen ihnen zwölf Stunden ihres täglichen Lebens verbrachte.

Aber heute war sie nicht da. Jedenfalls sah er sie nicht. Er war immer noch wütend und nicht in der Stimmung, tatenlos auf sie zu warten. Mit blitzenden Augen stürmte er in den Laden und trommelte ungeduldig mit seinen Fingern auf das silbern glänzende Blech der Registrierkasse. Schließlich wandte sich die Alte mit der hochgeschlossenen Bluse, die das Geld der Buchkäufer huldvoll entgegennahm, seinem streitsüchtigen Gesicht zu. Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute sie ihn nicht weniger aggressiv an. Eilige Bücherfreunde schien sie nicht zu mögen.

Eigentlich hätte sie ihn kennen müssen. Aber das fiel ihm erst später ein.

"Wo ist sie?", fragte er ohne Einleitung.

Sie schien zu überlegen. Dann signalisierten ihre Gesichtszüge Wiedererkennen.

"Fräulein Kleeberg?", fragte sie zurück und wieder zuckten ihre Augenbrauen nach oben. Allerdings merkte sie rechtzeitig, dass er sich von ihrer Darstellung einer unwilligen Oberlehrerin nicht beeindrucken ließ und setzte zu einer Erklärung an, noch bevor er ausfallend werden konnte:

"Fräulein Kleeberg arbeitet nicht mehr bei uns." Und als sie erkannte, dass ihm die Antwort nicht genügte, fügte sie säuerlich hinzu: "Sie war nicht mehr tragbar."

Er hatte den Eindruck, dass sie mit ihrer Vorstellung zufrieden war. Auch mit Ellens offensichtlichem Rauswurf.

"Warum?", fuhr er sie an. "Was hat sie getan? Wo ist sie?"

Aber die alte Kassiererin blieb bei der einstudierten Version:

"Fräulein Kleeberg arbeitet nicht mehr bei uns."

Mehr erfuhr er nicht.

Noch einmal blickte er in dem Laden umher. Die Verkäufer schienen sich unter seinem Blick zu winden. Aber das bildete er sich vielleicht nur ein. Aufgebracht stapfte er aus dem Laden.

Als sein innerer Aufruhr langsam zur Ruhe kam, befand er sich ein paar Schritte von Kleebergs Apotheke entfernt. Er hatte den Weg nicht bewusst gewählt. Aber wahrscheinlich wäre er auch nach einigem Überlegen hierhergekommen. Er betrat den Laden, dessen Eingangstür sein Kommen mit dem hellen Klang eines Glockenspiels ankündigte. Der alte Herr erkannte ihn sofort, obgleich er bei der Vorstellung in seiner Wohnung einen eher gleichgültigen Eindruck gemacht hatte. Heute nickte er freundlich, und seine Stimme klang eher belustigt, als er fragte:

"Kommen Sie als Patient?"

Georg bemühte sich, seinen leichten Ton zu treffen, und antwortete mit einem Lächeln und mühsam beruhigter Stimme:

"In einer Apotheke habe ich bisher nur Hustenpastillen gekauft; aber derzeit bin ich nicht erkältet."

Der alte Herr nickte, erwiderte nichts, blickte Georg nur offen und fragend an. Wahrscheinlich ahnte er den Grund des überraschenden Besuchs, war aber nicht gewillt, eine Antwort zu geben, bevor die Frage überhaupt gestellt worden war.

"Wo ist Ellen?", erkundigte sich Georg und erkannte zu spät, wie schroff und ungehörig seine Frage Ellens Vater erscheinen musste.

Der alte Apotheker in seinem weißem Kittel stutzte denn auch einen Moment; aber dann überzog ein verständnisvolles Lächeln sein Gesicht – der verzeihende Ausdruck eines alten Mannes über die Ungeduld der Jugend. Das dauerte ein paar Sekunden, bis er schließlich eher belehrend als unfreundlich meinte:

"Hatte Ellen nicht darauf bestanden, die - - Freundschaft – ", er zögerte ein wenig, ehe er das Wort aussprach, " – mit Ihnen zu beenden?"

Er sah auf die große Standuhr mit den schweren messingbeschlagenen Gewichten, die gleichmäßig die Sekunden zählte, nickte Georg zu und meinte:

"Entschuldigen Sie. Es ist Mittagspause. Ich muss die Tür schließen."

Dabei kam er hinter dem Ladentisch aus dunklem Holz hervor, nahm einen Schlüsselbund aus seiner Westentasche, wählte fast ohne hinzusehen den richtigen Schlüssel und verschloss die Eingangstür mit dem geätzten Glaseinsatz und dem hineingeschliffenen Emblem der Apotheke.

Dann bat er Georg wortlos in die kleine Offizin hinter den Schränken mit den vielen schmalen Schubfächern, forderte ihn mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen, setzte sich selbst hinter einen unscheinbaren, mit Papieren übersäten Schreibtisch und blickte seinen unerwarteten Besucher auffordernd an.

"In der Buchhandlung wurde mir gesagt, dass Ellen dort nicht mehr arbeite", begann Georg und es klang wie eine Rechtfertigung. "Aber die Atmosphäre war frostig, als mir auf mehrfaches Fragen endlich geantwortet wurde. 'Frostig' ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck; 'beklommen' oder 'beschämt' trifft das Klima in dem Laden wahrscheinlich besser. Jedenfalls schlug die Stimmung unmittelbar um, als ich Ellen zu sprechen verlangte, und niemand war bereit, mir mehr zu sagen als dass sie nicht mehr dort beschäftigt sei. Ich hatte das Gefühl, dass die meisten Mitarbeiter in dem Laden am liebsten geleugnet hätten, Ellen überhaupt gekannt zu haben."

Der alte Herr hinter seinem Schreibtisch strich wie aus Verlegenheit über sein dichtes graues Haar, ließ seine Augenlider müde fallen, um schließlich verwundert festzustellen:

"Sie besitzen ein feines Gespür für die Menschen. Das habe ich gar nicht bemerkt, als wir uns kennenlernten."

Es klang wie ein Vorwurf an sich selbst.

Aber falls Georg wirklich feinfühlig war – er selbst hätte das niemals von sich behauptet –, er war auch hartnäckig. Auf die Bemerkung des alten Herrn ging er nicht ein, sondern wartete stumm auf eine Antwort. Er wollte wissen, wo Ellen sich befand.

"Ich sehe schon - - Sie sind unnachgiebig in Ihrem Wissensdrang."

Wieder überzog ein väterlich verzeihendes Lächeln sein Gesicht. Er seufzte, und Georg glaubte schon, das sei alles, was er als Antwort erhielte. Aber dann entschloss er sich doch noch zu einer Erklärung:

"Ich bin Jude."

Noch einmal lächelte er. Resigniert und belustigt zugleich.

"Ellen war sehr verwundert, dass Ihnen unser Name nicht sofort verraten haben sollte, welchem Glauben meine Väter anhingen."

Er machte eine Pause. Es fiel ihm sichtlich schwer, mit einem im Grunde Fremden über seine Außenseiterstellung zu sprechen. Aber Georg war fest entschlossen, nicht eher zu gehen, bis er wusste, wo Ellen sich aufhielt. Und der alte Herr schien es zu wissen.

"Das moderne Deutschland, dessen Aufstieg vor einem Jahr oder vielleicht schon eher begann, mag uns nicht. Wir seien bestenfalls unliebsame Gäste, wird uns bedeutet; auch wenn wir hier schon seit Generationen leben, und erst recht, wenn unsere Anpassung so weit gediehen ist, dass Ehen zwischen Christen und Juden kaum noch ungewöhnlicher sind als solche zwischen Katholiken und Protestanten."

Sein Blick, der aus dem bunten Fenster hinaus in den Hinterhof gegangen war, kehrte zu Georg zurück:

"Sie müssen wissen, dass meine Frau selbstverständlich Christin geblieben ist, und Ellen wurde mehr oder weniger ohne Religion erzogen. Ich selbst bin etwa das, was man im Katholizismus als nicht praktizierend bezeichnen würde. Mein Glaube ist mir im Schützengraben vor Verdun irgendwie abhanden gekommen."

Seine Stimme war traurig.

"Aber ich bin nicht konvertiert. Es wäre eine Art Verrat an meinen Vätern und Vorvätern gewesen, und auch Heuchelei gegenüber dem einen Gott, an den Christen und Juden gleichermaßen glauben - -glauben sollten. Wissen Sie, Religion hat viel mit Gewohnheiten, Traditionen und einer Vergangenheit zu tun, die nicht mehr verändert werden kann."

Das alles war nichts Neues und Georg hatte nicht gewollt, dass der alte Herr ihm seinen Glauben oder andere Dinge anvertraute, die nur ihn etwas angingen. Dennoch wandte er beschämt seine Augen ab, als ihn der resignierte Blick des weißhaarigen Provisors traf. Woher nahm er das Recht, den alten Mann derart zu bedrängen?

Aber nun hatte Ellens Vater sich entschlossen, über seine Lebensangst und die Ausweglosigkeit seiner Existenz zu sprechen. Vielleicht zum ersten Mal überhaupt.

Georg war gerührt. Gleichzeitig schien ihm die Situation beschämend: ein alter Mann, der traurig und ohne expliziten Vorwurf vom Zusammenbruch seiner Familie und seines Lebens berichtete, in der Offizin, die gleichsam sein Lebenswerk darstellte, - - und er, Georg, der nicht betroffen war, als unbeteiligter, peinlich berührter Zuschauer - - aber vielleicht war er gar nicht unbeteiligt - - als deutscher Volksgenosse, wie er neuerdings genannt wurde - - Opfer und Täter seien sie gewesen, der alte Provisor und er, so würde es später heißen - - ohne Hass, ohne Aggression, aber Feinde auf Befehl. Weil die Politik es wollte.

Georg erkannte das Absurde der Situation und wusste im gleichen Augenblick, dass ihm diese Stunde in der engen Offizin für immer im Gedächtnis bleiben würde. Obgleich sie sinnlos war. Nutzlos. Nichts würde sie ändern.

Schließlich meinte der alte Herr: "Ich habe Ellen und meine Frau veranlasst, Berlin zu verlassen. Sie werden in Zukunft bei ihren christlichen Verwandten leben. Meine Frau hat sich geweigert, einvernehmlich in eine Scheidung einzuwilligen, die ihr von den Behörden nahegelegt wurde. Es wäre die einzige Sicherheit gewesen, die ich ihr noch hätte geben können. Aber wenigstens die räumliche Trennung habe ich durchgesetzt."

"Und Sie?", fragte Georg.

"Ich werde hier bleiben, meine Apotheke weiter betreiben, die nächsten Schmierereien abwaschen, meine Kunden bedienen, von denen es immer weniger geben wird, bis ich schließlich allein hier sitzen werde und auf meine endgültige Vertreibung warte - - "

"Aber - - "

Der alte Herr hob lächelnd und abwehrend eine Hand:

"Ich weiß, was Sie sagen wollen. Aber ich bin zu schwach, mich zu wehren. Vielleicht nehmen wir alle, die wir uns Juden nennen, zu gern unsere Opferrolle an. Vielleicht ist es unser Schicksal." Er schaute Georg zweifelnd an. "Und ich besitze keine Verwandten in einem fernen, fremden Land, dessen Sprache ich nicht beherrsche und dessen Gewohnheiten ich nicht kenne. Und ich fühle mich viel zu alt, um in der Fremde von vorn zu beginnen."

Sie schwiegen beide.

Der Alte erschöpft und resigniert. Der Junge zornig und deprimiert. Georg war wütend, aber seine Wut hatte kein Ziel. Und selbst wenn er gewusst hätte, gegen wen seine Aggressionen sich richten könnten – wem hätten sie genützt? Er fühlte sich überflüssig. Ohnmächtig. Fast wie der alte Mann ihm gegenüber.

"Noch ein Wort zu Ellen", sagte ihr Vater, "die ebenso wenig versteht wie Sie. Die ebenso zornig ist."

Wieder kroch dieses widernatürliche, verzeihende Lächeln in seine Mundwinkel.

"Aber Ihr Zorn wird sich legen, Sie werden die Realitäten als gegeben hinnehmen. Und wenn Sie gelegentlich Ihre Ohnmacht bedauern, wird das viel sein und einen guten Menschen aus Ihnen machen. Sie werden stolz sein auf ihr sporadisches schlechtes Gewissen. Und Sie werden sich vergeben."

Er lehnte sich zurück und schien zufrieden mit sich und der Welt. Ein alter weiser Mann, der das Leben nicht wichtiger nahm als sich selbst. Er schaute scheinbar glücklich in den tristen Hinterhof. Offenbar hielt er das Gespräch für beendet.

Aber Georg blieb hartnäckig. Er beugte sich vor, legte seine Hände auf beide Knie, sah den alten Herrn auffordernd an und schwieg. Er hatte eine Frage gestellt und wartete auf Antwort. Nach einer Weile lächelte der alte Mann wieder und sagte:

"Ich habe Ellen versprochen, Ihnen nicht zu verraten, wo sie sich befindet. Und ich stimme ihr zu: es ist besser für Sie, die Bekanntschaft nicht fortzusetzen. Vergessen Sie uns alle."

Mehr war von ihm nicht zu erfahren.

Sie verabschiedeten sich ohne Herzlichkeit voneinander. Der kurze Augenblick einer ungewissen Gemeinsamkeit war vorbei.

Es hat dem alten Herrn gut getan, dass ich ihm zugehört habe, dachte er nach ein paar Stunden. Und am nächsten Tag fühlte er vage, wie sich sein unbestimmter Zorn gegen den senilen Schwätzer zu richten begann, der es verstanden hatte, ihm wenigstens für einen Augenblick ein Schuldgefühl einzureden, ein Gewissen, das er nicht gebrauchen konnte. Weder jetzt noch später. Es behinderte ihn.

Er überwand es.

Erkundigungen über Ellen und ihren Aufenthaltsort zog er nicht ein. Viel Neues beschäftigte ihn während der nächsten Tage und Monate. Seine Berliner Zeit neigte sich ihrem Ende zu. Ein völlig neuer Lebensabschnitt begann.

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