Читать книгу ...des Lied ich sing' - Gerd Pfeifer - Страница 4

Da ist der tief verschneite Feldweg

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Im Vordergrund ein dichtes Gebüsch, dessen Zweige sich unter der Schneelast biegen. Dahinter die Landstraße mit dem vereisten Kopfsteinpflaster. Zwei Lastzüge mit Militärkennzeichen haben gerade Reifenspuren in die Schneedecke gezogen. Vor den offenen Türen ihrer Fahrerhäuser liegen verglühte Zigarettenreste. Es schneit. Ein böiger Wind treibt scharfe Eiskristalle vor sich her. Sie schmerzen im Gesicht. Die Landschaft versteckt sich hinter einem wabernden Schleier frostigen Nebels. Auf den Motorhauben wird der Schnee zu Wasser, sammelt sich in Tropfen, die über das heiße Blech rollen, auf den verschneiten Boden perlen und wieder gefrieren.

Zwei Schritte entfernt liegt die entsicherte Waffe. Sie ist unbenutzt. Der alte Mann, in seinem Traum noch jung und ungeduldig, stößt sie mit dem Fuß in den vom Schnee verwehten Graben. Neben den Toten. Auf dessen schwarzer Uniform kommen die stiebenden Kristalle zur Ruhe. Die silbernen Knöpfe sind vereist. Nur das Gesicht ist noch warm. Auf ihm taut der körnige Schnee. Die Wassertropfen sehen aus wie Schweiß. Der offene Mund entblößt reparierte Zähne. Kleine schwarze Fehlstellen in gelblichweißem Schmelz. Ein Auge hat sich wieder geöffnet. Es starrt den Zivilisten an, scheint ihn zu beobachten, verfolgt ihn. Auch jetzt, da er den Gehstock nimmt und die Dienstmütze mit dem Totenkopf neben die verkrampfte Hand des Toten rückt.

Dann ändert sich die Perspektive. Der Blick hebt sich vom Boden, versucht das Schneegestöber zu durchdringen. Aber es gibt nur Nähe. Nichts Fernes. Keinen Horizont, keinen Himmel, keine Weite. Die Welt besteht aus Vordergrund und treibendem Schnee. Die Bäume sind Schemen. Kein Laut. Nur diffuses Licht und weiße Flocken.

Wirklichkeitsfern schiebt sich die nächste Szene in den Traum: Schwarze Nackenhaare direkt vor seinen Augen. Er glaubt, den Duft des allgegenwärtigen Birkenwassers der Schutzstaffel in seiner Nase zu spüren. Für eine skurrile Sekunde wundert er sich, wie wenig Blonde die arische Elite der Nation in ihren Reihen zählt. Dann hält er konzentriert die Luft an. Auch im Traum. Alle Kraft legt er in diesen Augenblick des brechenden Halswirbels. Doch er horcht vergeblich. Der Traum ist lautlos. Einen entsetzten Moment hält er inne, atmet heftig aus und nimmt staunend wahr, wie schwer der tote Körper plötzlich ist. Er lässt ihn angeekelt fallen. In dieser gläsernen Sekunde wird ihm bewusst, dass der Mann, der da zur Erde fällt, von einem Augenblick zum anderen eine Sache geworden ist, ein Gegenstand, ein Ding, eine Leiche, ein Problem. Lästig. Hässlich. Tot. Doch im gleichen Atemzug ist er, der junge Mann in seinem Traum, überwältigt von einem unbändigen Triumph, von seinem Sieg, dem Jubel:

Ich lebe.

Es ist die pure Euphorie. Ein Glücksgefühl, das keinen Skrupel kennt und keine Scham. Keine Schuld. Keinen Zweifel:

Ich lebe.

Und wieder ändert sich das Bild: Zornig fährt er auf vereister Straße seinen Lastzug, eingekeilt in ein Heer armseliger menschlicher Kreaturen, die mit Koffern, Säcken, Beuteln, Kisten und Kartons auf Handwagen, Karren, Fahrrädern, Pferden, Leiterwagen, mit Kindern an der Hand, Kleinvieh in Käfigen, Tieren am Strick, Säuglingen im Arm stumpfsinnig, halb erfroren, angstgetrieben, todesmutig in langer Reihe nach Westen trotten, einer ungewissen, trostlosen Zukunft entgegen. Er hupt ungeduldig, drängt die langsameren Wagen wütend zur Seite, schimpft, flucht, sieht sich nicht um, schaut in keinen Rückspiegel, will nicht sehen, dass er einen Pferdewagen mit den Menschen und ihren ärmlichen Habseligkeiten in den Straßengraben gedrückt hat, blickt nur nach vorn, um ein Ende, einen Anfang des schier unendlichen Zugs zu erreichen.

Dann hört er die Flugzeuge. Sie kommen, tief geflogen, direkt auf ihn zu. Im Traum sieht er die hämischen Gesichter der Piloten, die jeden Einschlag ihrer Granaten, jeden neuen Toten mit einem Grinsen feiern.

Augenblicklich fährt er schneller. Rücksichtsloser noch als vorher. Wer vor ihm nicht zur Seite springt, wird überfahren, aus dem Weg katapultiert, zerschmettert, zerschlagen, zerstört, getötet. Der Lastzug schlingert, er fängt ihn ab, hupt, die Räder drehen durch. Die Flugzeuge kommen zurück, schießen auch diesmal daneben. Nur ein Seitenspiegel wird getroffen. Seine Finger krampfen sich um das Lenkrad. Tief drücken sich die Fingernägel in seine Handflächen. Blut quillt. Er brüllt und flucht unflätig, will den dumpfen Aufprall der zur Seite geschleuderten Körper nicht wahrnehmen, die Schreie der Überfahrenen nicht hören.

Er fährt um sein Leben.

Endlich erreicht er das kleine Waldstück, fährt hinein. Immer tiefer. Fragt sich, ob er jemals wieder hinausfinden wird, ob er wenden kann, bleibt schließlich vor einem umgestürzten Baum stehen, schaltet den Motor ab.

Und dann wird ihm die Stille bewusst, in der nur sein Schluchzen zu hören ist. Sonst gibt es keinen Laut. Nur Stille. Waldesstille. Totenstille.

Davon erwacht er.

Der Traum hat ihn freigegeben. Wieder einmal.

Für eine Weile bleibt der alte Mann reglos liegen. Er spürt den Schweiß auf seinem Rücken, setzt sich auf, schüttelt unwillig den Kopf und streicht fahrig mit den Handflächen über das weiße Bettzeug, wendet sie, betrachtet sie und erkennt die Abdrücke der Fingernägel zwischen den Furchen seiner Greisenhände. Kein Blut diesmal. Tief holt er Luft. Es klingt wie Seufzen.

Dann beruhigt er sich. Der Traum ist vorbei. Die Vergangenheit bewältigt. Er grinst aufsässig. Ihm fällt ein, dass er seinen Blutdruck messen sollte. Vielleicht sind Träume für sein krankes Herz gefährlicher als die alltägliche, gewohnte Routine.

Noch immer mit dem Trotz auf seinen Lippen lässt er sich zurück in die Kissen fallen, verschränkt die Hände hinter seinem Kopf und starrt an die Zimmerdecke, ohne sie zu sehen. So liegt er ein paar Minuten. Dann schaut er zur Uhr. Einen Moment zögert er, wie um zu überlegen, ob es die richtige Entscheidung ist. Schließlich nimmt er das Buch vom Nachttisch, blättert, bis er die Seite findet, über der ihm gestern Abend die Augen zugefallen sind, und beginnt zu lesen.

Ein neuer Tag hat seinen Anfang genommen.

...des Lied ich sing'

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