Читать книгу ...des Lied ich sing' - Gerd Pfeifer - Страница 12

Der alte Mann begleitet Stapelfeld an die Haustür

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Das Gespräch mit den Dachdeckern war wie immer verlaufen. Es gibt keine probate Lösung des Problems mit dem faulenden Reet. Alle paar Jahre muss das Dach ausgebessert werden. Die übelriechenden Schilfbündel werden herausgenommen und durch frische ersetzt. Für eine umfassende Erneuerung ist der Schaden zu gering und der Fäulnisgeruch nicht lästig genug. Jedes Mal behält die Sparsamkeit des alten Mannes die Oberhand. Stapelfeld wird wie immer die Arbeiten überwachen und aus alter Verbundenheit nichts dafür berechnen. Nachbarschaft und das Bewusstsein, einstmals Protegé gewesen zu sein, implizieren auch Verpflichtungen.

Der alte Mann pflegt eine antiquierte Grandezza, von der er weiß, dass sie nicht mehr zeitgemäß ist:

"Eine Empfehlung an die Frau Gemahlin", sagt er zum Abschied.

Stapelfeld nickt ihm wortlos zu und verlässt schnellen Schrittes das an der Vorderseite und zu den beiden Nachbarn hin mit weißen Kalksandsteinen ummauerte Grundstück.

Der emporgekommene Gastwirt, wie er von den Honoratioren der Stadt oft genannt wird, sucht nicht die Nähe der Anwohner. Er weiß, dass er nicht dazu gehört, und er macht nach seiner Meinung das Beste daraus, indem er den Verächtlichen spielt. Nur in ganz stillen Stunden fällt ihm dazu die Fabel von dem Fuchs und den Trauben ein. Dennoch: hinter einer Maske aus altväterlichem Charme ist er unfreundlich, arrogant und ohne Scham auf seinen Vorteil bedacht. Etwas anderes hat der eingebildete Haufen stadtbekannter Ehrabschneider nach seiner Meinung nicht verdient.

Aus steuerlichen Gründen hat er vor Jahrzehnten ein paar Sozialbauten gemeinsam mit dem alten Kaffeeröster errichtet. Wahrscheinlich hatte Stapelfeld seinen Schwiegervater zu dem Gemeinschaftsprojekt überredet. Eine Männerfreundschaft oder wenigstens eine Art Vertrauensverhältnis ist aus der Zusammenarbeit nicht entstanden. Nachdem ihnen die Steuervorteile zugeflossen waren, trennten sie sich wieder. Anlässlich der Auflösung der Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die sie zur Vereinnahmung der Steuerersparnisse gründen mussten, wechselten sie zum letzten Mal ein paar persönliche Worte. Damals schon zwei starrsinnige alte Männer, die einander misstrauten. Insgeheim fühlen sich beide auch heute noch vom jeweils anderen übervorteilt, wenn sie auch trotz vieler schlafloser Stunden nicht wissen, wie es der jeweils andere hätte bewerkstelligen können. Der alte Mann mag die Leute mit dem ererbten Geld nicht. Selten und nur im tiefsten Unterbewusstsein räumt er vage ein unbestimmtes Gefühl von Neid ein. Dann lächelt er selbstquälerisch vor sich hin, um sich im nächsten Augenblick für dergleichen Sentimentalitäten zu verachten.

Er klingelt nach der neuen Haushälterin, die oben in den Schlafzimmern mit ihrem Staubsauger hantiert:

"Ich hätte gern ein süßes Omelette zu Mittag. Und einen Salat. Anschließend fahre ich ins Büro."

Er hat sich nie daran gewöhnen können, die Haushälterinnen bei ihrem Vornamen zu rufen, obgleich es schon bei seinen Eltern Hausmädchen und andere Bedienstete gab. Ihm fehle das natürliche Gefühl für Standesunterschiede, hatte Utas Mutter konstatiert und verständnislos ein Kopfschütteln angedeutet. Aus ihrem Mund klang das ganz natürlich. Aber in seiner Vorstellung lebte sie mit ihren Wertvorstellungen in einer Welt von gestern; und gleichzeitig beneidete er sie um ihre Vergangenheit, an deren Maßstäben sie unverkrampft festhielt.

Als Uta noch lebte, hatte sie den Hausangestellten verboten, ihm sein geliebtes süßes Fett jemals zu servieren; so nannte sie die mit Konfitüre oder mit Zimt und Zucker gefüllten dünnen Omelettes, nach deren Qualität er die Fähigkeiten der Küchenchefs seiner Restaurants beurteilte.

Zu Hause fügte er sich spöttisch lächelnd Utas Willen – vor allem um die Angestellten nicht in Verlegenheit zu bringen. Aber wenn er mittags im Büro aß, hielt er sich ohne Skrupel schadlos. Da ließ er sich zum Zucker oft noch zusätzlich süßen Sirup servieren. Infarktgefährdet war er nach seiner Meinung trotzdem nicht. Er besaß von jeher die Fähigkeit, wie auf Kommando allen Alltagsstress von sich abfallen zu lassen.

Die Frauen, denen er nahegestanden hatte, waren von seinem Talent fasziniert, wenn er ihnen von einem Augenblick zum anderen seine volle Aufmerksamkeit schenkte und sich von nichts dabei stören ließ. Sie hielten es meistens für wahre Liebe.

Als besondere berufliche Leistung betrachtete er die Abwerbung der Chef-Organisatorin des Services für sein Astoria-Team aus der Berliner Bierschwemme. Waltraud König war die ultimative Kontrollinstanz. Er hielt sie für die wichtigste Person seines neuen Mitarbeiterstabs. Zum Glück wusste sie das nicht. Wer halbwegs vertraut mit ihr war, nannte sie 'Walter'; die meisten anderen 'Herr König' wegen ihrer Stimme, die eher einem kräftigen Bariton glich als dem üblichen Stimmchen einer Endzwanzigerin.

Georg bewunderte ihr Organisationstalent. Und improvisieren konnte sie auch. In Berlin hatte er mehr von ihr als aus seinen Büchern gelernt. Auch die notwendige Härte gegenüber allen Betrugsversuchen hatte sie ihm vorgelebt. Sie gehörte keiner Clique an und schien unbestechlich.

Sie hatte in der Bierschwemme bereits gekündigt und war von Georg mit Handschlag ins Team geholt worden, als er sie an einem ihrer freien Tage zum Essen einlud. Er war nicht sicher, ob es ein reines Arbeitsessen werden würde. Er wollte nichts ausschließen. Aber sie brachte ihm eine persönliche Niederlage bei. Als sie in dem kleinen Restaurant erschien, das er sorgfältig ausgewählt hatte, war sie nicht allein. Eine zierliche Freundin, die erkennbar ihre körperliche Nähe suchte, begleitete sie. Georg war überrascht, vielleicht ein wenig konsterniert. Aber er lachte, als er den grazilen Paradiesvogel mit galantem Handkuss begrüßte, und als die Schöne für einen Augenblick den Tisch verließ, entschuldigte er sich lächelnd:

"Das habe ich nicht gewusst."

Walter nickte: "Es gibt nicht viele, die mit meinem Privatleben vertraut sind. Aber ich dachte mir, dass Sie eingeweiht sein sollten."

Beide schauten bewundernd dem schmächtigen Mädchen nach.

"Und - - ", fragte sie, als das Objekt ihrer gemeinsamen Begierde den interessierten Blicken entschwunden war, " - - gehöre ich noch zum Team?"

"Ich bin Gastwirt", antwortete Georg, "kein Sittenrichter. Und Ihr Privatleben geht mich nun wirklich nichts an, wenn - - ", nun wurde er doch anzüglich, "wenn ich nicht daran beteiligt bin."

Sie lachte hellauf und zog mit ihrer dunklen Stimme die Blicke des Nachbartisches auf sich.

Waltraud und Georg wurden keine Freunde. Er blieb der Chef, sie die Angestellte. Aber ein tiefes Vertrauen verband die beiden. Nie machte Georg Witzchen über ihre Vorliebe, und wenn er von Fremden gefragt wurde, riss er seine Augen groß auf, machte ein scheinbar verständnisloses Gesicht und verbat sich stumm oder mit ärgerlichen Worten jede Neugier. Solange sie zum Team gehörte, blieb sie für ihn 'Frau König'; erst später, als sie nur noch in seiner Erinnerung lebte, nannte er sie für sich selbst 'Walter' und vor den anderen 'Herr König'.

Sein Pachtvertrag begann mit der Übernahme des Restaurantinventars. Der Hotelbetrieb gehörte nicht dazu. Er wurde von einem Hotelfachmann geführt und kannte keine finanziellen Schwierigkeiten. Georg würde sich mit dem fremden Hotelmanagement arrangieren müssen.

Die Übernahmeverhandlungen verliefen plangemäß. Erst gegen Ende der Zählungen wurde es ein wenig chaotisch. Das war nichts Besonderes. Die Zahlen stimmten. Die Brauerei hatte den Besitzübergang gründlich vorbereitet. Erst nach ein paar Wochen entdeckte Georg in einem bislang verschlossenen Lagerraum, von dem der Hotelpächter behauptete, er gehöre zum Restaurantbetrieb, eine beträchtliche Anzahl ungebrauchter Gartenmöbel. Im Übergabeprotokoll waren sie nicht aufgeführt, und in keiner sonstigen Inventarliste erschienen sie.

Georg verwendete sie für die Einrichtung eines Gartenrestaurants. Es war nicht der übliche Biergarten im Kiesbett, sondern die Fortsetzung des Hotelrestaurants im Freien. Die Tische standen in einzeln abgeteilten Nischen hinter Heckenpflanzen in Trögen, waren damastgedeckt, und die Gäste wurden jeweils von einem befrackten Oberkellner separat bedient. Das Ambiente des Gartenrestaurants trug viel zum guten Ruf des Hauses bei. Geld allerdings wurde vorwiegend in der Bar verdient. Während des ersten Pachtjahres führte Georg selbst Regie hinter dem Bartresen. Dann bildete er ein Barteam, das die Geschäfte auf eigene Rechnung führte, und nach einiger Zeit verpachtete er die Bar. Seine Pachteinnahmen aus dem Nachtbetrieb waren hoch genug, die laufenden Forderungen der Brauerei für das gesamte Hotelrestaurant zu befriedigen.

Natürlich blieb sein finanzieller Erfolg nicht verborgen. Er weckte die Begehrlichkeit der Brauereioberen, die so lange – die beiden ersten Pächter waren ein Verlustgeschäft für sie gewesen – auf sichere Pachteinnahmen hatten warten müssen. Nun machte sich die Sorgfalt bezahlt, die Georg auf die Formulierung des Vertragstextes verwandt hatte. Die bayerischen Bierbrauer, deren Produkt in dem anspruchsvollen Restaurant nicht eben in Strömen floss, partizipierten nur wenig am Erfolg ihres Pächters.

Falls er in ein paar Jahren den Vertrag würde verlängern wollen, müsste er sich etwas einfallen lassen, sonst würde er sich unerfüllbaren Forderungen der Brauerei gegenübersehen. Aber so viel er auch darüber nachdachte und mit seinen Beratern – aus dem Team, aus der Jurisprudenz und aus der Wirtschaftsprüfung – diskutierte, ein gangbarer Ausweg aus dem durch seinen Erfolg selbst geschaffenen Dilemma war vorläufig nicht in Sicht. Aber das Ende des Pachtvertrags für das Seehotel-Restaurant Astoria mit Bar lag ja noch in weiter Ferne.

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