Читать книгу Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes - Gerd Sodtke - Страница 10

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6 Stille Nacht, heilige Nacht

Es war Anfang Dezember geworden, und die ersten strengen Nachtfröste hatten eingesetzt. Schneefall war in den Wetterberichten noch nicht vorhergesagt, wahrscheinlich würde es auch in diesem Jahr keine weiße Weihnacht geben.

Ich hatte in dieser Woche Ambulanzdienst, was bedeutete, dass ich für alle Patienten, die ohne eine Klinikeinweisung eintrafen, zuständig war. Meine Aufgabe bestand darin, zu entscheiden, ob ein Patient stationär aufgenommen werden musste oder durch den Hausarzt weiterzubehandeln war. Dies war nicht immer eine leichte Entscheidung. Patienten mit Einweisung wurden von den Ambulanzschwestern direkt auf die Station gewiesen. Man tat gut daran, seine eigenen Patienten auf der Station zügig zu versorgen mit Blutentnahmen, Visiten und Anordnungen, um genügend Spielraum zu gewinnen für den Fall, dass sich der Ambulanzfunk in der Brusttasche des Arztkittels meldete. Es gab Tage, an denen der Ambulanzfunk nahezu unaufhörlich piepte, bisweilen kamen auch mehrere Patienten gleichzeitig, sodass man selektieren musste, welcher Patient am dringendsten einer ärztlichen Hilfe bedurfte. Im Ernstfall, wenn die Arbeit alleine nicht mehr zu bewältigen war, konnte man natürlich auch einen Kollegen zur Mitarbeit bitten.

An diesem Vormittag, als ich meine Stationsarbeit natürlich noch nicht beendet hatte, setzte der grelle, nicht zu überhörende Piepton in meinem Kittel ein. Es gibt nun verschiedene Möglichkeiten, auf dieses Alarmsignal zu reagieren. Dies ist eigentlich ein Widerspruch in sich, es gibt sie aber dennoch. Man könnte das nächste Telefon aufsuchen und erst einmal nachfragen, worum es sich handelt, um dann in Ruhe zu entscheiden. Man könnte aber auch alles stehen und liegen lassen, um sich so schnell wie möglich in die Ambulanz zu begeben.

Diese letztere Variante bevorzugte ich, wann immer dies möglich war. Also eilte ich durch das Treppenhaus in die Ambulanz im Erdgeschoss. Durch die leicht geöffnete Ambulanztür wehte mir schon ein penetranter Gestank entgegen. Ich öffnete die Türe und betrat den weitläufigen Raum, um mich der Quelle meiner Missempfindung zu nähern. Ich habe den Ambulanzschwestern nie verziehen, dass sie mich ohne jegliche Vorwarnung vor diesem fürchterlichen Gestank heruntergerufen hatten. Ich verlangsamte sofort instinktiv meine Schritte. Im Rollstuhl saß ein zusammengekauertes Häuflein Elend mit zerzausten, wild in alle Richtungen abstehenden Haaren, mit langem, ungepflegtem Rauschebart, mit zerfledderter Kleidung, hochrotem Gesicht, wässrigen geröteten Augen und nahezu unaufhörlich hustend. Die Schwestern in der Ambulanz kannten ihn wohl schon, und ich sollte ihn noch gut kennenlernen, er war ein stadtbekannter Vagabund. Sein einziges Zuhause war die Straße. Meine Nase sagte mir, dass der Körper dieses vielleicht gerade 50-jährigen Stadtstreichers seit mindestens zwei Monaten keinen Waschlappen mit Seife mehr gesehen hatte. Natürlich war er Alkoholiker, denn auch jetzt meinte ich, in dieser bunten Mischung unterschiedlichster Ausdünstungen den markanten Hauch einer deftigen Alkoholfahne wahrzunehmen. Die Ambulanzschwestern, für gewöhnlich eher hartgesotten, hatten sich in Kenntnis seiner Person und wohl früherer Erfahrungen mit ihm bereits mit Handschuhen bewaffnet. Ich tat es ihnen sofort gleich. Seine Haut glühte, denn er hatte 39,8 Grad Celsius Fieber.

„Bitte machen Sie ihm den Rücken frei, ich möchte die Lunge abhören“, sagte ich zu den Schwestern. Der anhaltende Husten und das hohe Fieber deuteten auf eine Lungenentzündung hin. Trotz Handschuhen bemühten sie sich demonstrativ, ihm nur mit spitzen Fingern, abgewandtem Gesicht und gerümpfter Nase die verschmutzte Jacke, mehrere löchrige Pullover, ein kariertes Baumwollhemd und ein wohl ehemals weißes, aktuell eher graues Unterhemd hochzuziehen. Eine betäubende Wolke aus Schweißgeruch und Urin schlug mir entgegen, sodass ich versucht war, um eine Nasenklemme zu bitten. Die Untersuchung mit dem Stethoskop ließ keinen Zweifel: Entzündung in beiden Lungenunterlappen, wahrscheinlich von den Bronchien ausgehend. „Wir müssen ihn stationär aufnehmen“, teilte ich den Schwestern sogleich mit. Wahrscheinlich in Erinnerung an frühere Erlebnisse mit dem Stadtstreicher hörte ich aus dem Hintergrund prompt die zaghafte Frage: „ Sie wissen aber, was Sie tun?“ – „Weiß ich“, gab ich zurück. Ich fuhr ihn eigenhändig im Rollstuhl auf die Station, auch um weiteren Vorbehalten zu entgehen. Offenbar hatte sich dieser Mann hier in der Vergangenheit wirklich keine Freunde gemacht.

Auf der Etage meiner Station fuhr ich mit ihm vorneweg schnurstracks unserer Oberschwester in die Arme. Die Bezeichnung Oberschwester gibt es heute nicht mehr, die moderne Bezeichnung lautet Pflegedienstleitung. Ich mochte sie, eine äußerst engagierte Frau, deren Zuhause, so schien es, das Krankenhaus war, wo sie sich aufopferte, herzlich zu den Patienten, verständnisvoll und mit offenem Ohr für ihre Schwestern. Wenn ihre Verwaltungsarbeit es zuließ oder wenn auf einer Station eine Schwester krankheitsbedingt ausgefallen war, half sie dort aus. Sie war eine Institution und mit Leib und Seele Krankenschwester. Sie hatte meinen Respekt. Seitdem habe ich keine Pflegedienstleitung mehr gesehen, die auf einer Station bei einem personellen Engpass ausgeholfen hätte.

Die Oberschwester bezog auf dem Stationsflur gerade frisch ein Patientenbett. Sie sah mich mit meinem neuen Patienten schon von Weitem kommen und unterbrach sofort ihre Arbeit. Dann schlug sie entrüstet die Hände über dem Kopf zusammen und kam uns mit den Händen wild in der Luft fuchtelnd entgegen. „Herr Doktor, den können Sie direkt wieder nach Hause schicken, den nehmen wir hier nicht auf!“ Eine für sie höchst ungewöhnliche, unbarmherzige Reaktion, dachte ich mehr als verwundert, was war denn nur in sie gefahren? In ihrer Empörung hatte sie wohl ganz vergessen, dass das einzige Zuhause dieses Mannes die Straße war, wo er in seinem desolaten Gesundheitszustand und bei den frostigen Temperaturen kaum überleben würde. Offenbar hatte sich mein neuer Schützling in unserem Krankenhaus auf allen Etagen vor meiner Zeit tatsächlich sämtliche Sympathien verscherzt. Ich erwiderte sehr bestimmt: „Schwester, ich kann ihn unmöglich fortschicken, er hat eine beidseitige Lungenentzündung.“ Der zusammengekauerte Insasse unseres Rollstuhls nickte bei meinen Worten sofort heftig und zustimmend, obwohl er diese Diagnose gar nicht selbst gestellt hatte. Höchst widerwillig musste sich die Oberschwester in ihr Schicksal fügen. Ich aber hatte als junger Assistenzarzt in diesem Moment gegen ein seinerzeit goldenes, jedoch ungeschriebenes Gesetz im Krankenhaus verstoßen, das da lautet: „Verscherze dir ja niemals das Wohlwollen der Oberschwester.“

Das anschließende Röntgenbild zeigte die Lungenentzündung noch viel ausgedehnter, als ich es vermutet hatte. Mein neuer Schützling war damit viel zu lange ohne ärztliche Versorgung durch die Straßen der Stadt gelaufen. Die Infektion war durch Bakterien, sogenannte Pneumokokken, ausgelöst worden, einen recht häufigen Pneumonie-Erreger. Da der Patient für Mitpatienten absolut unzumutbar war, bekam er auch noch ein Einzelzimmer, mit allen Annehmlichkeiten wie ein Privatpatient, ein Umstand, der die Laune der Oberschwester natürlich auf einen neuen Tiefpunkt sinken ließ. Ich versorgte ihn mit einem breit wirkenden Antibiotikum, einem schleimlösenden Medikament und mit Infusionen, die ein fiebersenkendes Medikament enthielten. Mir war vollkommen bewusst, dass die Behandlung wegen der Ausdehnung der Lungenentzündung ihre Zeit brauchen würde. Die Therapie zeigte nach wenigen Tagen erste Erfolge, denn das Fieber ging langsam, aber stetig zurück. Unser Patient fühlte sich besser, sodass seine Lebensgeister wieder erwachten.

Es gibt nun verschiedene Arten von Alkoholikern: solche, die im Rausch bösartig und aggressiv werden, andere, die eher gutmütig sind, und wieder andere, die mit ihrem Leben fast schon abgeschlossen haben und in einem Sumpf aus Gleichgültigkeit feststecken. Er war eindeutig ein Schelm, von der gutmütigen Art. Als ich das fröhliche, vielleicht etwas listige Blinken in seinen Augen sah, wusste ich Bescheid. Ich musste mir eingestehen, dass er mir noch nicht einmal unsympathisch war, so verkommen er auch war. Wie er dermaßen unter die Räder kommen konnte, hat er mir nie verraten.

Jedenfalls hatte sich sein Zustand so weit gebessert, dass ich bei der nächsten Visite ein Vollbad in unserer berühmten großen Badewanne verordnete. Die Stationsschwester notierte meinen Auftrag eifrig in seinem Anordnungsbogen. Bei der Visite am darauffolgenden Tag stank er aber immer noch. Ich schaute die mich bei der Visite begleitende Schwester fragend und vorwurfsvoll an und tippte mit dem Zeigefinger auf den Eintrag im Anordnungsbogen vom Vortag: „Wir hatten leider noch keine Zeit“, flüsterte sie kleinlaut. Es war ganz offensichtlich, dass die eingehende Waschung dieses ungepflegten Menschen nicht gerade zu den bevorzugten Tätigkeiten unserer Schwestern gehörte. Daher sagte ich betont streng: „Bitte heute noch, und zwar sofort nach der Visite!“ Die Begeisterung der Schwester hielt sich dennoch in engen Grenzen, wie ihren Gesichtszügen zu entnehmen war. Aber ich mochte es eben nicht besonders, wenn meine Anordnungen nicht umgesetzt wurden, unabhängig davon, um welche Anordnungen es sich handelte. Ich musste mich auf Mitarbeiter verlassen können, so wie sie sich auf mich verlassen konnten.

Bei der Visite am darauffolgenden Tag saß mein Patient freudestrahlend und kerzengerade in seinem Bett. Er war sogar ordentlich frisiert und rasiert worden und vollkommen umgeben von einer riesigen Duftwolke aus Fichtennadelöl und anderen Essenzen, die sich bis an die Türschwelle seines Zimmers ausgebreitet hatte. Die Schwestern mussten das Badewasser mit mindestens einer ganzen Flasche solcher Zutaten veredelt haben, denn diesmal wollten sie alles richtig machen. Ein neuer Mensch war geboren worden, so schien es, ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt. Er thronte nun beinahe so stolz und glückselig in seinem Bett, dass es den Anschein hatte, als ob seine Hoheit die Untertanen wohlwollend und gnädig zu einer Audienz empfangen wollte. Mit diesem Eindruck sollte ich auch gar nicht so falschliegen.

Nur wenige Tage später, es war inzwischen kurz vor Weihnachten, zogen mich die Schwestern fast flehentlich am Ärmel in ihr Stationszimmer und schlossen hinter mir sofort die Türe. Für ihr Anliegen hatten sie sich sogar des Beistands der Oberschwester versichert, der mein Patient schon immer ein Dorn im Auge gewesen war und die mich seit Tagen mit strafenden Blicken bei unseren Begegnungen auf dem Stationsflur würdigte. Ganz unvorbereitet traf mich aber die jetzige Zusammenkunft nicht, da sich die Schwestern schon mehrfach über meinen Patienten beschwert hatten. „Herr Doktor, wir müssen mit Ihnen reden“, verkündeten sie wichtig. Was dann folgte, war eine nicht enden wollende Litanei von neuen Beschwerden über meinen Patienten: „Der benimmt sich hier wie ein Prinz auf der Erbse, lässt sich von vorne bis hinten bedienen, klingelt pausenlos und wegen jeder Kleinigkeit, so als wäre er hier der einzige Patient, er sei ja so krank, fordert zu den Mahlzeiten immer einen Nachschlag, als wäre dies hier ein Viersternehotel, und … und …“ Ich unterbrach sie vorsichtshalber, denn ihr Vortrag hätte sich sonst sicherlich noch längere Zeit hingezogen. Ich konnte ihnen nicht gänzlich widersprechen, denn einen ähnlichen Verdacht hatte ich auch schon gehegt. Er fühlte sich ausgesprochen wohl auf unserer Station, einmal abgesehen von dem gut fortschreitenden Genesungsprozess. Offensichtlich verfügte er auch über das Talent, gewissermaßen auf Vorrat essen zu können, denn der Winter war ja noch lange nicht vorüber. Wahrscheinlich war es ihm schon seit Jahren nicht mehr so gut gegangen. Ich erklärte ihnen aber auch, dass seine Lungenentzündung noch nicht vollständig auskuriert sei und er sicher über Weihnachten im Krankenhaus bleiben müsste. Auf diese meine Botschaft reagierten sie zunächst mit entsetztem Schweigen, gefolgt von einem mehrstimmigen Chor lautstarker, stöhnender Proteste und gekrönt von einem gemeinsamen, ohnmächtigen Augenrollen in Richtung der Zimmerdecke.

Dem Patient erklärte ich allerdings bei der nächsten Gelegenheit, dass seine Rundumversorgung durch die Schwestern ab sofort beendet sei und er tagsüber sein Bett zu verlassen habe. Er zeigte dafür vollstes Verständnis, nickte dazu ganz brav und sagte: „Jawoll, Herr Doktor.“ Wohin ihn meine ärztlich verordnete Selbstständigkeit allerdings führen würde, sollte sich dann sehr bald noch erweisen.

Die Gestaltung des Dienstplans für die Weihnachtstage und den Jahreswechsel gestaltete sich immer etwas schwierig, besonders aber die Besetzung des Nachtdienstes am Heiligen Abend. Es wurde, wenn möglich, Rücksicht genommen auf Kollegen mit Familie oder anderen Verpflichtungen. Wenn niemand bereit war, den Dienst zu übernehmen, wurde eben durch eine Streichholzziehung entschieden: Der Pechvogel, der das Zündhölzchen ohne Schwefelkopf gezogen hatte, hatte den Dienst gewonnen. Da ich noch keine Kinder hatte, meldete ich mich also freiwillig für den Nachtdienst am Heiligen Abend. Irgendwann wäre ich in jedem Fall an der Reihe, wenn nicht in diesem, dann sicherlich im nächsten Jahr.

Es war Heiliger Abend. Den Weihnachtsbaum hatte ich einen Tag zuvor gekauft und bereits geschmückt, die Bescherung würde am ersten Weihnachtsfeiertag stattfinden. Also trat ich meinen Dienst an diesem 24. Dezember an, ein normaler Arbeitstag im Krankenhaus wie jeder andere auch. Zu Weihnachten waren die Stationen immer relativ leer, viele Patienten wünschten die Entlassung, um im Kreis ihrer Familien feiern zu können. Andererseits benötigten wir auch freie Betten, da die Arztpraxen über die Feiertage geschlossen waren und die Patienten ohne Einweisung direkt das Krankenhaus aufsuchten. So war es zu Beginn dieses Dienstes zunächst ziemlich ruhig auf den Stationen. In der Adventszeit waren die Stationen von den Schwestern liebevoll mit Gestecken aus frischen Tannenzweigen und Adventskränzen geschmückt worden, um den Patienten eine Freude zu bereiten. An der Wegkreuzung, dort, wo der Gang aus der Röntgenabteilung auf den sehr langen Quergang zu den beiden großen internistischen Stationen links und rechts mündete, hing ein riesiger Adventskranz mit dicken roten Wachskerzen von der Flurdecke. Hier und da hatte der Duft von Weihnachtsgebäck und frisch geschnittenem Tannengrün die üblichen Krankenhausgerüche verdrängt.

Am Abend wurde ich in die Ambulanz gerufen. Dort erwartete mich eine betagte Patientin mit schwerer Atemnot. Meine Untersuchung mit dem Stethoskop ergab eine akute Herzschwäche mit Wasseransammlung in der Lunge, einem Lungenödem. Sie war von den Ambulanzschwestern bereits mit einer Sauerstoffsonde in der Nase versorgt worden und glücklicherweise noch kreislaufstabil. Ich verabreichte ihr sofort eine Entwässerungsspritze. Die noch bestehende Kreislaufstabilität musste ich ausnutzen, denn würde der Blutdruck infolge der Herzschwäche kritisch absinken, so wären die Nieren nicht mehr ausreichend durchblutet, und das Entwässerungsmittel würde nicht mehr wirken. Dann hätten wir verloren. Dieses Stadium der Herzschwäche war durchaus ein ernster Notfall. Wir fuhren die Patientin rasch in die Röntgenabteilung, das Röntgenbild bestätigte voll und ganz die Diagnose in Form einer „weißen Lunge“ durch die massive Wassereinlagerung. Die Patientin musste sehr schnell auf die Station gebracht und wieder an die Sauerstoffflasche angeschlossen werden, und sie benötigte umgehend die nächste Spritze zur Entwässerung. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, auf welche filmreife Szene ich zusteuern sollte.

Ich schnappte mir also das Bett mit der Patientin und schob es eilig mit wehendem Arztkittel in Richtung der Station. Genau in diesem Augenblick ertönte der wunderschöne Gesang eines großen Frauenchors, der mit klaren, hellen Stimmen das schöne Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“ sang. Es war eine große Gruppe unserer indischen Nonnen, gekleidet in ihre langen schwarzen Gewänder und schwarzen Hauben, die seit vielen Jahren als Krankenschwestern an unserer Klinik ihren Dienst verrichteten. Der Gesang hallte ungemein laut an den kahlen Wänden der langen Stationsflure wider, die hohe Tonlage ließ tatsächlich an den Gesang von Engeln denken. Die Schwestern hatten zuvor alle Türen der Patientenzimmer geöffnet, damit die bettlägrigen Patienten an dem schönen Vortrag teilhaben konnten. Langsam kam der Gesang näher. An der Flurgabelung, unter dem großen Adventskranz mit den dicken roten Kerzen, bog der Nonnenchor schließlich um die Ecke.

Von der anderen Station, also aus der Gegenrichtung der Nonnen, stimmte plötzlich eine raue, leicht grölende Männerstimme, zweifelsohne ein guter Tenor, in den Gesang mit ein. Um die Ecke bog etwas torkelnd der sichtlich genesene Stadtstreicher, fröhlich über dem alkoholselig geröteten Kopf langsam im Takt des Liedes eine bereits halb geleerte, große Schnapsflasche schwenkend. Er war unverkennbar in seinem Element. Erstaunlicherweise kannte er sogar den Text dieses schönen Weihnachtsliedes. Die Herkunft der Schnapsflasche konnte ich trotz gründlicher Recherche nie aufklären. In unserer Krankenhauskantine gab es ganz sicher keinen Schnaps. Welch eine schöne Bescherung! Na warte, mein Freund, dachte ich relativ humorlos. Ich raste mit meiner Patientin im Bett mitten durch den Nonnenchor hindurch, der dadurch zwar in zwei Gruppen zerteilt wurde, seinen Vortrag aber keineswegs unterbrach, ebenso wenig wie natürlich der Stadtstreicher. Einen Heiligen Abend wie diesen hatte ich noch nie erlebt.

Die Patientin überlebte ihre akute Herzschwäche, und den König der Landstraße konnte ich noch vor Neujahr vollkommen geheilt entlassen. Damit kehrte unter den Schwestern auf meiner Station endlich wieder Ruhe ein, und der Groll der Oberschwester gegen mich verrauchte mit der Zeit.

Der Winter war noch lange nicht vorüber. Anfang Februar war es bitter kalt geworden, und die Stadt war inzwischen von einer dicken, gefrorenen Schneedecke überzogen. Ich hatte einmal wieder Nachtdienst. Immer wenn ein Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht vor der Klinik hielt, verhieß das in der Regel nichts Gutes. Eskortiert und gestützt von zwei Wachtmeistern erschien wenige Minuten später eine kümmerliche Gestalt auf dem Stationsflur, eine deftige Alkoholfahne eilte ihr wie immer weit voraus. Es war der mir inzwischen bestens bekannte Stadtstreicher. „Den haben wir hilflos auf einer Parkbank gefunden“, erklärten sie. Dieser Ruheplatz war bei dem Dauerfrost und in alkoholisiertem Zustand gar keine gute Idee von ihm, so dachte ich sofort. Alkohol erweitert die Blutgefäße und führt daher noch schneller zu einer Erfrierung. Ich schaute sie dennoch weiter fragend an. „Wir bringen ihn zum Ausnüchtern!“ – „Ich habe hier aber keine Ausnüchterungszelle“, erwiderte ich auf der Stelle. Sie ließen allerdings nicht locker: „Wir auch nicht, unsere ist schon besetzt.“

„Na schön“, stöhnte ich einwilligend. Ich nahm ihn in Empfang, hakte ihn bei mir unter und begleitete ihn auf die Station. Mit Ausnahme des erhöhten Alkoholspiegels war er diesmal kerngesund, abgesehen von einer nur leichten Unterkühlung. Er war wohl noch rechtzeitig von Passanten gefunden worden. Und er war keineswegs so volltrunken, dass er vollständig desorientiert gewesen wäre. Ich lenkte meine Schritte an der Gangkreuzung auf dem Flur nach rechts in Richtung unseres großen Badezimmers mit der freistehenden Badewanne, die er bereits kennengelernt hatte, er hingegen tendierte deutlich nach links in Richtung des ihm wohlbekannten Viersterne-Rundumversorgungszimmers. Er kannte sich inzwischen bestens aus. Wir drifteten ein wenig auseinander. Ein kurzes, aber hartnäckiges Tauziehen konnte ich zu meinen Gunsten entscheiden. „Nichts da, hier geht’s lang!“, sagte ich sehr bestimmt, worauf er mich sichtlich enttäuscht anblickte. Wir betraten also das gut beheizte Badezimmer. Dort musste ich ihm noch einige Regeln erklären: „Also hören Sie zu. Wir haben hier für solche Fälle ein Feldbett, das werden wir von dem Tragegestell auf den Boden setzen, dann können sie nicht mehr tiefer fallen. Die Schwestern bringen Ihnen warme Decken, und eine Kanne warmer Tee und einige Scheiben Brot werden sich auch noch finden lassen. Niemand darf wissen, dass sie hier übernachten. Ich habe einen sehr strengen Chefarzt, der kommt schon morgens um 7:00 Uhr ins Haus. Wenn der etwas bemerken sollte, bekomme ich großen Ärger!“ Er nickte ganz verständnisvoll, er hatte begriffen: „Is ja juut, Herr Dokter, isch tu allet, watse saajen“, lallte er in einem Gemisch aus rheinischem und berlinerischem Dialekt.

Der Chefarzt betrat natürlich nicht um 7:00 Uhr frühmorgens das Krankenhaus, aber ich nach wenigen Stunden Schlaf in dem Dienstzimmer, das sich in dem Gebäude gegenüber der Klinik befand. Ich lenkte meine Schritte sofort auf die Station und öffnete die Badezimmertüre. Mein nächtlicher Gast war verschwunden und hatte den Raum sogar relativ ordentlich hinterlassen. Die leere Teekanne, ein Becher und ein Teller, den er bis auf den letzten Brotkrümel geleert hatte, standen einsam neben der Liege auf dem Fußboden. „Na also, hat doch prima geklappt“, sagt ich zu mir selbst. Dann öffnete ich weit die beiden großen Flügelfenster, und die Alkoholschwaden in dem Raum entfleuchten in die kalte, klare Winterluft.

Ich konnte nicht behaupten, dass dieser Vagabund die Situation ausnutzte und aus unserem Krankenhaus seinen zweiten Wohnsitz machte. In den folgenden Jahren kam er vielleicht zwei- bis dreimal im Jahr für eine Nacht, vorzugsweise in den kalten Wintermonaten und auffallenderweise immer dann, wenn ich Nachtdienst hatte. Inzwischen verhielt es sich schon so, dass sich die Nachtschwestern und ich uns in einer eisigen Winternacht fragten, wann uns unser Freund wieder besuchen würde, es wäre doch eigentlich genau sein Wetter. Kurze Zeit später suchte er dann tatsächlich eine wärmende Bleibe für eine Nacht. Vielleicht verhielt es sich aber auch so, dass meine Kollegen in ihren Nachtdiensten nicht die Geduld mit ihm aufbrachten und ihn, betrunken wie er war, direkt wieder auf die Straße setzten. Ich hegte auch den Verdacht, dass er diverse andere Möglichkeiten der Unterbringung kannte, zum Beispiel das nicht sehr weit entfernte Obdachlosenasyl. Unser gastliches Krankenhaus schien er immer nur dann aufzusuchen, wenn er sich woanders gerade einmal wieder sämtliche Sympathien verscherzt hatte. Auf seine Weise war er ein kleiner Überlebenskünstler am Rande der Gesellschaft, ohne festen Wohnsitz, der sich aber dennoch nicht aufgegeben hatte.

Zu unserem Krankenhaus führte ein schmaler Zugangsweg durch ein kleines Waldstück mit dicht stehenden hohen Kiefern der angrenzenden Heidelandschaft, die Durchfahrt war jedoch nur für Rettungsfahrzeuge gestattet. Dennoch nutzte ich, wie übrigens viele andere Mitarbeiter auch, diese Zufahrt auf dem Weg zur Arbeit regelmäßig, bedeutete sie doch eine wesentliche Abkürzung, so dass ich morgens zehn Minuten länger zu Hause schlafen konnte. Eines Morgens erschienen auf dem Zugangsweg hinter einem mächtigen Kiefernstamm in dem Waldstück zunächst die rote Kelle, dann der uniformierte Arm und schließlich der dazugehörige Polizist, nebst einem Kollegen. Ich war in einen gemeinen Hinterhalt geraten und ertappt worden. „Führerschein und Zulassung bitte“, sagten sie streng. Es folgte ein ausführlicher Vortrag über die begangene Verkehrswidrigkeit, die mich trotz intensiver Beteuerungen meiner Unabkömmlichkeit im Krankenhaus zehn Deutsche Mark kostete. Es war auch nur ein schwacher Trost, dass an diesem Morgen noch zahlreiche andere Mitarbeiter der Klinik mein Schicksal teilen mussten. Ärgerlich war nur die Tatsache, dass diese beiden Ordnungshüter in einer Rekordzeit so viele Mitarbeiter zur Kasse gebeten hatten. Während des Mittagessens in der Kantine an diesem Tag gab es nur ein Thema: Wir Ärzte fragten uns natürlich fachübergreifend, wer die gewinnbringende Anregung zu dieser modernen Form einer Wegelagerei gegeben hatte. Chirurgen, Neurologen und Internisten waren sich in ungewohnter Eintracht sehr schnell einig, dass diese Idee nur von „ganz oben“ gekommen sein konnte.

Viele Monate nach meiner grob fahrlässigen Verkehrswidrigkeit hatte ich wieder einmal Nachtdienst, und in dieser Nacht gab es nun wirklich überhaupt nichts zu tun. Ich saß gemütlich mit den beiden Nachtschwestern bei einer Tasse Kaffee zusammen. Diese friedliche und harmonische Runde wurde spät abends abrupt unterbrochen durch drei nebeneinandergehende Personen, die langsamen Schrittes über den langen Stationsflur auf uns zukamen. Die mittlere Person zeigte ein auffallend unsicheres Gangbild, ähnlich einem schwankenden Schiff auf stürmischer See, sodass sie von den Begleitern kräftig gestützt werden musste. Schon von Weitem erkannte ich sie alle drei, Gesichter konnte ich mir schon immer gut einprägen: Es handelte sich um den König der Landstraße mit langem Rauschebart und der üblichen kräftigen Alkoholfahne und um die beiden Polizisten mit der roten Kelle, die mich um die horrende Summe von zehn Deutschen Mark erleichtert hatten.

Sie konnten sich wohl nicht mehr an mich erinnern, denn an jenem Morgen hatten sie einfach zu viele Verkehrssünder zur Kasse bitten müssen. Sie fragten: „Guten Abend, könnten Sie bitte bei diesem Mann eine Blutprobe abnehmen?“ Darauf wollte ich erst einmal wissen, was er denn überhaupt ausgefressen hätte. „Der hat mal wieder randaliert“, erklärten sie. Ich flunkerte ein wenig und teilte ihnen voller Bedauern mit, dass ich momentan furchtbar überlastet wäre, dass gleich mehrere dringende Aufgaben auf mich warten würden und ich die Blutprobe daher leider nicht entnehmen könnte. Bei diesen meinen Worten schien es mir fast so, als hätte ich bei einem kurzen Seitenblick ein fröhlich-triumphierendes, wenn nicht sogar ein dankbares Aufblitzen in den Augen meines Lebenskünstlers wahrgenommen, mit dem sich seine Gesichtszüge sichtbar entspannten. Jedenfalls blieb den beiden Polizisten nichts anderes übrig, als darauf achselzuckend mit dem Randalierer in ihrer Mitte und unverrichteter Dinge die Klinik wieder zu verlassen. Und ich erinnerte mich an meine dringende Aufgabe und kehrte zufrieden zu meiner Tasse Kaffee zurück, die ich nicht kalt werden lassen wollte. Wohlgelaunt dachte ich an ein geläufiges Sprichwort: „Man sieht sich doch immer zweimal im Leben“.

Bevor ich gemäß der Ausbildungsordnung zum Internisten die Klinik wechseln musste, begegneten wir uns noch ein letztes Mal, und diesmal nicht in einem kalten Winter, sondern im Hochsommer. Es gab in unserem Stadtteil eine kleine Fußgängerzone mit einigen Geschäften wie Bäckereien, Weinhandel, Blumenladen, Discounter und anderen mehr. An dem schönen Sommertag war die Fußgängerzone gut besucht, einige Passanten saßen unter den großen, rot-weiß gemusterten Sonnenschirmen vor den Bäckereien und nahmen einen kleinen Imbiss oder eine Tasse Kaffee zu sich. An meinem freien Nachmittag schlenderte ich gemächlich an den Geschäften entlang, um einige Besorgungen zu machen.

Schon von Weitem sah ich ihn an einer Straßenecke auf einem niedrigen Höckerchen sitzen, seine Füße hatte er auf einen kleinen Schemel gestützt, seine Hemdsärmel waren in der warmen Nachmittagssonne hochgekrempelt. Auf seinen angezogenen Knien ruhte ein großer Zeichenblock, auf dem er eine vor ihm stehende Frau offenbar mit Bleistift und Kennermiene porträtierte. Sein Blick richtete sich immer wieder auf ihr Gesicht und den Zeichenblock, einige Striche skizzierte er sogar, ohne die Augen von ihrem Gesicht abzuwenden. Mehrere Passanten standen um ihn herum und bewunderten sein Werk. Ich musste zweimal hinschauen, denn ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt, unser letztes Zusammentreffen lag schon viele Monate zurück: Von seinem Rauschebart hatte er sich getrennt, seine Haare waren mehr als ordentlich frisiert, er war für seine Verhältnisse relativ ordentlich gekleidet, und seine mir nur allzu gut bekannte Alkoholfahne fehlte ebenfalls. Als ich langsam zu der Gruppe der Schaulustigen trat, blickte er nur kurz zu mir auf. In seinem Blick lag Erkennen, er verzog jedoch keine Miene, offenbar war ihm unser Wiedersehen an diesem Ort und in dieser Situation nicht angenehm. Ich blickte ihm von hinten über die Schulter auf seine Zeichnung und konnte es kaum glauben: Mit scharfer Beobachtungsgabe und erheblichem künstlerischem Talent hatte er die Gesichtszüge dieser Passantin mit wenigen Bleistiftstrichen und einigen Schraffierungen so gekonnt zu Papier gebracht, als würde sie nicht vor uns stehen, sondern aus dem Zeichenblock herauswachsen. Besser hätte man dieses Porträt nicht gestalten können. Die Art und Weise, wie er die Zeichnung angefertigt hatte, sagte sehr viel über ihn aus.

Ich hatte schon immer geahnt, dass in diesem rätselhaften Menschen viel mehr steckte, als nur ein hoffnungsloser Alkoholiker. Seine Augen, sein Blick und seine Gestik bei unserer ersten Begegnung, damals kurz vor Weihnachten, hatten es mir verraten. Als die Passantin ihr Porträt zufrieden zusammenrollte, unter den Arm klemmte und ihren Weg fortsetzte, fragte ich ihn, wie viel er denn für seine Kunstwerke nehmen würde: „Och, was die Leute so geben, Herr Doktor, meistens zehn Mark.“ „Und dann?“ Er sagte nichts, blickte mich nur an und wies mit einer Kopfdrehung und einer kurzen Anhebung des Kinns in die Richtung des nahegelegenen Kiosks, der dort am Marktplatz stand. Dort gab es neben Zeitungen und Tabakwaren sicherlich auch Schnaps, und er würde das Entgelt für sein Kunstwerk gewiss nicht in eine Zeitung investieren. Er war ehrlich, ich hatte seine Geste wohl verstanden.

Ich hatte mir über die Jahre, die ich ihn kannte, nie eingebildet, ihn von seiner Alkoholabhängigkeit befreien zu können. Dazu wäre sicherlich eine sechsmonatige Entziehungskur erforderlich gewesen, mit allerdings nur fraglichem Erfolg. Stattdessen habe ich ihn aber ein wenig bedauert, weil er mit seinem Humor, seiner Schlitzohrigkeit und seinem zweifelsohne vorhandenen künstlerischen Talent sehr viel mehr aus seinem Leben hätte machen können.

Dennoch hatte ich nie den Eindruck gehabt, dass er mit seinem Lebensstil unglücklich war, vielleicht aber doch mit einer einzigen Ausnahme: einer frostigen, bitterkalten Winternacht ohne ein wärmendes Dach über dem Kopf.

Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes

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