Читать книгу Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes - Gerd Sodtke - Страница 9

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5 Ein großer Irrtum

Ein Wochenenddienst bedeutete damals, dass man am Freitagmorgen seinen Dienst antrat und am folgenden Montag wenn möglich um 16:30 Uhr den Dienst beenden konnte. Es handelte sich also um einen Anwesenheitsdienst von 80 Stunden, in denen man am Wochenende ununterbrochen alleine und eigenverantwortlich die stationären Patienten, die Neuaufnahmen und die Notfälle zu versorgen hatte. Diese Dienste waren nun nicht so fürchterlich, wie es sich anhört, aber doch sehr kräftezehrend. Wenn man Glück hatte, verbrachte man ein relativ ruhiges verlängertes Wochenende in der Klinik und hatte ausreichend Schlaf zwischendurch. Es gab jedoch auch Wochenenden, an denen es mehr oder weniger bei Schlafversuchen blieb, die durch das Funkgerät oder Telefon ein abruptes Ende fanden. Ein solches Wochenende mit Schlafversuchen sollte mir bevorstehen.

Das Bereitschaftszimmer befand sich in einem Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Klinik. Wer hier eine Wohlfühloase für tüchtige diensttuende Ärzte erwartet hatte, wurde bitter enttäuscht. Ein Stuhl, ein kleiner Tisch, ein sauber bezogenes Bett mit durchgelegener Schaumstoffmatratze, ein Kleiderschrank mit einigen Wolldecken, saubere, aber hässliche Vorhänge mit verblassenden Farben, die depressiv vor dem einzigen Fenster hingen, ein nichtssagendes, immerhin gerade hängendes Bild an der Wand über dem Bett, der Raum insgesamt an Schmucklosigkeit nicht zu überbieten. Dort auf der Fensterbank in einer Ecke ruhte ein altes verbeultes Radio mit höchstens drei zu empfangenden Sendern und abgeknickter Antenne. Dusche und Toilette befanden sich draußen auf dem Flur. Waren diese Mammutdienste an Wochenenden nicht schon Strafe genug, so wurden sie durch die Trostlosigkeit dieses Bereitschaftszimmers noch übertroffen. Aber ich wollte nicht klagen, schließlich ging es meinen Arztkollegen um keinen Deut besser. Und irgendwann, nach zahllosen Nachtdiensten, ignorierte man einfach dieses langweilige Zimmer. Es war nicht so, dass ich mich wegen der Dienstzeiten oder der Begleitumstände etwa in Gestalt dieses Bereitschaftszimmers gegen die Dienste wehrte. Sie gehörten eben zum Beruf eines jeden Krankenhausarztes, und nach zahlreichen solcher Dienste gewöhnte man sich daran. Nach vier oder fünf Wochen stand der nächste Wochenenddienst an, und man konnte sich rechtzeitig darauf einstellen.

Diese Dienste wurden natürlich erleichtert durch nette Kontakte und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Kollegen anderer Fachabteilungen, die das gleiche Los gezogen hatten, zum Beispiel Mitarbeitern der Chirurgie oder Neurologie, und selbstverständlich den Schwestern auf den internistischen Stationen. Hier eine Aufmunterung, dort ein freundliches Wort, wir saßen schließlich alle im gleichen Boot.

Selten kam es leider vor, dass man einen Arztkollegen hatte, der sich die Bezeichnung „Kollege“ noch nicht so recht verdient hatte. Solche Mitarbeiter zeigten Tendenzen, ihre Arbeit dahingehend zu optimieren, dass sie eigene Aufgaben an ihre Kollegen delegierten. Sie verfolgten eher eigene Interessen, als sich dem Teamgeist unterzuordnen. Bisweilen versuchten sie auch, sich unter einem Vorwand vor einem Nachtdienst zu drücken.

Solch ein Mitarbeiter trat an einem Freitag meines Wochenenddienstes um 14:00 Uhr auf mich zu und sagte: „Hör mal, ich muss heute zwei Stündchen eher weg. Unten in der Ambulanz sitzt ein junger Bursche mit Luftnot, ich glaube, der hat nichts. Könntest du den bitte übernehmen?“ Ich willigte ein, zumal ich mir den Rücken freigehalten und die Routinearbeiten auf meiner Station bereits erledigt hatte.

Ich machte mich also auf den Weg in die Ambulanz im Erdgeschoss. Dort saß auf einer Trage ein großer, kräftiger junger Mann, etwa 23 Jahre alt, mit strohblonden Haaren und wohlgenährt. Mein erster Eindruck, bevor ich ihm zur Begrüßung die Hand reichte und mich vorstellte, sagte mir bereits, dass das Urteil meines Kollegen, „Ich glaube, der hat nichts“, keinesfalls zutraf. Er hatte nämlich sichtbare Luftnot, seine Atmung war relativ beschleunigt, und seine Lippen und Fingernägel waren leicht bläulich verfärbt als Hinweis auf einen deutlichen Sauerstoffmangel. Er berichtete, dass er die Luftnot schon seit einigen Tagen hätte und dass sie von Tag zu Tag schlimmer geworden wäre. Er hätte dabei anhaltenden Hustenreiz ohne Auswurf, jedoch ohne Fieber, und könnte nachts wegen der Atemnot kaum mehr ruhig durchschlafen. Alle meine Fragen nach früheren Lungenkrankheiten, oder nach Kontakt mit Giftstoffen, oder nach Allergien, verneinte er. Nach meinen ersten Eindrücken und nach den Angaben des Patienten bezweifelte ich ernsthaft, dass sich mein Kollege ihn überhaupt angesehen hatte. Eine Minute hatte gereicht, um sein Urteil zu widerlegen.

Ich zog mein Stethoskop aus der Kitteltasche und hörte seinen Brustkorb von allen Seiten ab. „Bitte mit offenem Mund tief ein- und ausatmen!“ Ich hörte hier und da ein leises Knistern, das mich nicht weiterbrachte, keinesfalls aber dieses Rasseln wie bei einer Lungenentzündung oder ein Pfeifen wie bei einem Asthmaanfall, keine brodelnden Klänge wie bei einer Wasseransammlung in der Lunge. Ich hörte auch, dass alle Lungenanteile belüftet waren, und dennoch bot er diese untrüglichen Zeichen des Sauerstoffmangels! Vielleicht handelte es sich um eine Lungenembolie, so dachte ich, bei der eine Lungenarterie durch ein Blutgerinnsel verstopft ist, die würde man mit dem Stethoskop nicht hören können. Allerdings gehörte dazu in der Regel eine Beinvenenthrombose, und die hatte er nicht, wie mir ein Blick auf seine Beine zeigte. Merkwürdig, sehr ungewöhnlich! Ich hatte keinen Hinweis auf die Ursache seiner Luftnot gefunden. „Wir müssen eine Röntgenaufnahme von der Lunge anfertigen, vielleicht wissen wir dann mehr“, erklärte ich ihm.

Unser Chefarzt war Internist und Radiologe und hielt jeden Morgen die Röntgenbesprechung ab. Daher konnte ich Röntgenbilder der Lunge bereits recht gut beurteilen. Die Lungenaufnahme wurde durchgeführt, und ich wartete ungeduldig vor der Entwicklungsmaschine in der Röntgenabteilung. Ich musste sofort die Ursache dieser seltsamen Luftnot in Erfahrung bringen. Endlich kam die Röntgenaufnahme heraus, ich zog sie langsam aus der Entwicklungsmaschine und hängte sie an den beleuchteten Schaukasten für Röntgenbilder.

Die Röntgenassistentin stand neben mir, sie wollte eigentlich nur die richtige Belichtung der Aufnahme überprüfen, und hielt sich sofort erschrocken die Hand vor den Mund. Ein kurzer Blick genügte, ich musste tief Luft holen und mich erst einmal auf den Hocker vor dem Schaukasten setzen. Es war ein entsetzlicher Befund, mit dem keiner von uns beiden gerechnet hatte. Gesundes Lungengewebe wird im Röntgenbild durch den Luftgehalt schwarz dargestellt. Nun stelle man sich einen Tag im Spätwinter vor, die Temperaturen liegen bereits knapp über dem Gefrierpunkt, es herrscht dichtes Schneetreiben, welches besonders eindrucksvoll im Licht eines Autoscheinwerfers zu sehen ist. Genauso sah das Röntgenbild des jungen Patienten aus, wir sprachen bei solch einem Bild leider recht treffend von einer „Schneegestöberlunge“. Beide Lungenflügel waren von oben bis unten übersät mit solchem Schneegestöber, nur hatten diese weißen Flecken im Vergleich zu Schneeflocken eine mehr rundliche Form und waren nicht so wattig-bauschig, sondern schärfer begrenzt. Wir standen vor einem sehr schlimmen Befund: Es handelte sich um ausgedehnte Lungenmetastasen! Die Metastasen (bösartige Tumorabsiedlungen) unterschiedlicher Größe standen dicht an dicht, hatten keinen Lungenanteil verschont und sich bis in die kleinsten Winkel der Lunge ausgebreitet. Solch einen massiven Befall der Lunge mit Metastasen hatte ich bis zu diesem Tag noch nie gesehen. Es handelte sich zweifellos um das weit fortgeschrittene Endstadium eines bösartigen Tumors.

Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, von welchem bösartigen Tumor diese ausgedehnte Streuung der Metastasen ausgehen konnte. Es musste sich um einen hochgradig aggressiven Tumor handeln, der für die Bildung der Metastasen die Lunge bevorzugte. Und möglicherweise waren die Metastasen genau so aggressiv und schnell gewachsen wie der Primärtumor selbst. Andernfalls hätte der junge Patient schon seit sehr viel längerer Zeit über Atembeschwerden klagen müssen.

Ich holte die körperliche Untersuchung nach, zuvor in der Ambulanz hatte ich meine Untersuchung zunächst auf den Brustkorb beschränkt. Ich fand keinen Ursprung der Lungenmetastasen. Es gab keine vergrößerten Lymphknoten, und Hals, Rachen und Bauchraum waren bei der Inspektion und dem Abtasten in Ordnung. Die Möglichkeit der Ultraschalldiagnostik gab es damals noch nicht. Selbst die Ergebnisse seiner Blutuntersuchung ergaben keinen Hinweis auf den Ursprung der Krebserkrankung. Angesichts seiner erheblichen Luftnot, die den Patienten mehr als genug belastete, teilte ich ihm den Röntgenbefund nicht mit und sprach nur von einer beginnenden Lungenentzündung.

Ich konnte nur das vordringliche Symptom, nämlich die Luftnot, behandeln und versuchen, ihm so etwas Erleichterung zu verschaffen. Er sollte Bettruhe einhalten, der Oberkörper wurde so hoch wie möglich gelagert, damit sich die Lunge bei der Atmung besser entfalten konnte, und es wurde Sauerstoff über eine Nasensonde verabreicht. Des Weiteren verordnete ich prophylaktisch ein Antibiotikum, denn die Minderbelüftung der Lunge durch die Metastasen könnte bald zu einer Ansiedlung von Bakterien führen, sowie Kortison und ein Medikament zur Erweiterung der Bronchien. Den kurzen Gedanken an eine Behandlung am Beatmungsgerät auf der Intensivstation verwarf ich sofort wieder, denn dadurch würden die zahlreichen Metastasen auch nicht gebessert. Ich überzeugte mich häufig und regelmäßig an diesem Wochenende von seinem Zustand und Befinden, es schien ihm subjektiv und auch nach meinem Eindruck eher etwas besser zu gehen. Auch die Schwestern hielt ich an, regelmäßig nach ihm zu schauen. Dieser Aufforderung hätte es eigentlich nicht bedurft, sie waren erfahren genug.

Das Wochenende zog sich hin, es wurde nicht zu hektisch, aber ich war trotzdem ausreichend beschäftigt. Es gab keine weiteren kritischen Krankheitsfälle, bis auf mein Sorgenkind. Sein Zustand blieb unverändert, ich erhöhte die Sauerstoffzufuhr noch etwas.

Ich hatte nur schwer in einen unruhigen Schlaf finden können, denn zu sehr beschäftigte mich der junge Patient. In der Nacht zu Montag, gegen 2:00 Uhr morgens, schrillte das Telefon. Ich fuhr in dem Bett im Bereitschaftszimmer hoch und griff zum Hörer. Die Nachtschwester meldete sich am Apparat: „Herr Doktor, Sie müssen kommen. Ihr Patient ist verstorben!“ „Was? Wie ist das möglich?“, brüllte ich in den Hörer. Ich hatte wie gewöhnlich in voller Dienstkleidung geschlafen, warf mir nur hastig den Arztkittel über, rannte über die Straße und durch den gegenüberliegenden Haupteingang der Klinik, raste die Treppen hoch auf die Station und riss die Türe seines Zimmers auf.

Der Patient war seit ungefähr einer Stunde tot, ich tastete keinen Puls, konnte keine Herztöne mit dem Stethoskop hören, und seine Pupillen waren geweitet und ohne jegliche Reaktion auf den Lichtreiz meiner kleinen Stabtaschenlampe. Ich schloss ihm die noch halb geöffneten Augen und bedeckte seinen Kopf mit der Bettdecke. Selbst in Kenntnis seines Lungenbefundes hatte ich keinesfalls mit seinem so raschen Lebensende gerechnet. Ich hatte im Gegenteil sehr gehofft, ihn zumindest halbwegs stabil über das Wochenende bringen zu können. Wie hatte das geschehen können? Warum hatte er nicht die bereitliegende Klingel auf seinem Nachttisch betätigt oder um Hilfe gerufen? Oder war ihm im Schlaf die Sauerstoffsonde aus der Nase herausgerutscht? Mich plagten heftige Selbstzweifel. Hätte ich noch mehr für ihn tun können? Hatte ich etwas versäumt oder übersehen? Alle meine Bemühungen waren vergeblich geblieben, es fühlte sich in diesem Augenblick an wie eine sehr bittere Niederlage. Eigentlich durfte gar kein Patient in meinem Dienst versterben, und schon gar nicht ein 23-jähriger junger Mann, für den das Leben eigentlich noch gar nicht so recht begonnen hatte. Damals, als ich noch alleine am Bett meines verstorbenen Patienten stand, fühlte ich mich sogar auf eigenartige Weise schuldig an seinem Tod. Ich sollte noch längere Zeit brauchen, bis ich den plötzlichen Tod eines mir anvertrauten Patienten verarbeiten konnte. Ich ging an das Fenster in seinem Zimmer und schaute in die mondlose, finstere Nacht hinaus. Ich fühlte mich auf einmal sehr einsam. Aber das Grauen war noch nicht vorüber.

Der Patient war verheiratet. „Haben wir eine Telefonnummer von der Ehefrau?“, fragte ich die beiden Nachtschwestern, die ausschließlich Nachtwachen machten und genauso betroffen waren wie ich selbst. Sie reichten mir die Unterlagen des Patienten herüber. Ich griff zum Telefonhörer, wählte die Nummer und erreichte die Ehefrau. Ich sagte zu ihr: „Sie müssen dringend in die Klinik kommen, der Zustand ihres Mannes hat sich erheblich verschlechtert!“ Ich vermied es seit Anbeginn meiner Tätigkeit, nahen Angehörigen am Telefon mehr oder weniger sachlich den Tod eines Patienten mitzuteilen. Dies wollte ich ihnen persönlich sagen und sie auch an das Totenbett begleiten. Telefonisch konnte man schwer beurteilen, wie sie auf die Todesnachricht reagieren würden. Trauer und Verzweiflung suchen sich ihren eigenen Weg.

Ich musste nicht sehr lange auf sie warten, wahrscheinlich wohnte sie ganz in der Nähe. Sie kam mir auffallend langsam, fast zögerlich, mit ernster Miene über den langen Stationsflur entgegen, ich erwartete sie vor seinem Zimmer. Sie ahnte bereits nichts Gutes. Es hatte beinah den Anschein, als wollte sie die Wahrheit überhaupt nicht erfahren. Je näher sie auf mich zukam, desto langsamer wurden ihre Schritte. Warum wohl hatte der Doktor sie mitten in der Nacht in das Krankenhaus gerufen? Und sie kam nicht alleine. Sie trug eingehüllt in eine warme, himmelblaue Decke einen etwa drei Monate alten Säugling in den Armen, der friedlich schlief. Dieses Kind würde seinen leiblichen Vater nie kennenlernen, es würde nie eine Erinnerung an ihn haben. Die Mutter war 20 Jahre alt, von kräftiger Statur und hochgewachsen. Sie blickte mich ernst und besorgt an. Ich teilte ihr die traurige Nachricht mit. Sie blickte mich weiterhin schweigend und ernst an, ihr Gesicht blieb so regungslos, als hätte sie nicht zugehört oder meine Worte nicht richtig verstanden. Ich erklärte ihr auch den schlimmen Lungenbefund als Todesursache. Sie konnte nicht sprechen, stellte auch keine Fragen, drückte nur ihr kleines Kind fester an sich. Ohne eine Miene zu verziehen, wurden ihre Augen feucht, und dann lief die erste Träne über ihre Wange, und danach noch eine, und langsam wurden es immer mehr. Sie sagte auch weiterhin kein Wort, sie weinte lautlos. Ich hörte kein Schluchzen, keinen verzweifelten Schrei, ich hörte nichts von ihr. Ich bot ihr einen Stuhl an, ich war versucht, sie tröstend in den Arm zu nehmen, war mir aber nicht sicher, ob dies angemessen war. Meine Augen wurden, so glaube ich, auch feucht. Ich bot ihr noch an, jemanden für sie zu verständigen, der ihr beistehen konnte, aber sie wollte dies alles nicht, sie schüttelte nur langsam und schweigend den Kopf. Ich war damals als junger Assistenzarzt mit dieser schwierigen Situation emotional überfordert. Dann führte ich sie an das Bett ihres verstorbenen Ehemannes und sprach ihr mein Mitgefühl aus.

Während des Medizinstudiums hatte man uns so manche Fächer gelehrt, bei denen wir Studenten uns von Beginn an gefragt hatten, was sie mit unserem späteren Beruf zu tun haben sollten. So begann unser erstes Semester unter anderem mit Biologie, Chemie und Physik. Meine Biologiekenntnisse hatten mir in jener Nacht jedenfalls nicht weitergeholfen. Auch im weiteren Verlauf des Studiums fehlte größtenteils der Praxisbezug. Auf Situationen wie die Überbringung von unerwarteten Todesnachrichten oder eine vernünftige, aber mitfühlende Kommunikation mit Patienten und Angehörigen wurden wir in keinster Weise vorbereitet. Ich sollte in späteren Jahren alle erdenklichen Reaktionen bei der Überbringung von Todesnachrichten erleben, die von tiefer Traurigkeit und Verzweiflung bis zu Teilnahmslosigkeit reichten und in einem Fall sogar mit unberechtigten Anschuldigungen endeten.

Montagmorgen, 9:00 Uhr, Röntgenbesprechung. Der Chefarzt demonstrierte die Röntgenbilder meines Wochenendes. Nach anderen Aufnahmen hängte er das Röntgenbild des jungen Mannes an den Schaukasten. Er zögerte, aber für sein geschultes Auge bestand kein Zweifel: Metastasen. Er drehte sich abrupt zu mir um. „Stimmt das Geburtsdatum?“ Ich antwortete: „Das stimmt!“ „Dann müssen wir dringend …“ Ich musste ihn nun endgültig unterbrechen: „Herr Chefarzt, der Patient ist in der vergangenen Nacht leider verstorben.“ Im Demonstrationsraum, in dem alle Ärzte der internistischen Abteilung versammelt waren, herrschte auf einmal betretenes, ungläubiges Schweigen, alle drehten sich zu mir um. Derjenige Kollege, der mir vor Beginn meines Dienstes den Patienten mit der Bemerkung „Ich glaube, der hat nichts“ übergeben und sich frühzeitig in sein dienstfreies Wochenende verabschiedet hatte, schaute mich völlig entgeistert an. Ich erwiderte sehr lange und eindringlich seinen Blick, und zwar so lange, bis er verlegen wegschaute. Er wusste damit sehr genau, um welchen Patienten es sich handelte. „Haben Sie die Angehörigen verständigt?“, fragte der Chefarzt weiter. „Die Ehefrau ist gekommen, ich habe mit ihr gesprochen“, gab ich zur Antwort. Es folgte eine längere Pause, bis der Chefarzt zu bedenken gab: „Aber er war nur zwei Tage bei uns!“ Darauf erklärte ich noch die therapeutischen Maßnahmen, die ich ergriffen hatte. Eine weitere Pause folgte. Schließlich bat er mich, die Ehefrau anzurufen und sie zu fragen, ob sie mit einer Obduktion einverstanden wäre.

Ich rief sie nach der Röntgenbesprechung an, und sie war einverstanden.

Die Obduktion ergab den folgenden Befund: zahlreiche Metastasen der Lunge eines malignen Melanoms (Hautkrebs), einzelne weitere Metastasen in Gehirn und Leber. Der Primärtumor, von dem die Metastasen ausgegangen waren, konnte nicht gefunden werden. Die Diagnose Hautkrebs hatte der Pathologe anhand der feingeweblichen Struktur der Metastasen gestellt. Diesen Befund teilte mir der Chefarzt, dem mein Gemütszustand keineswegs entgangen war, vorab mit. Er wollte mir damit zeigen, dass ich nicht versagt hatte und dass der Patient aufgrund seiner schweren, weit fortgeschrittenen bösartigen Tumorerkrankung rein nach medizinischen Kriterien nicht zu retten gewesen war.

Auf dem Heimweg an diesem Tag dachte ich dennoch traurig: zum Leben zu spät, zum Sterben zu früh.

Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes

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