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9 Der Neubeginn

Im letzten Jahr der Tätigkeit an meiner alten Wirkungsstätte hatte ich, zunächst zusammen mit einer Kollegin, die Magenspiegelung (Gastroskopie) eingeführt, und dies in Konkurrenz mit dem alten Chefarzt, der unbeirrt an der Röntgenuntersuchung des Magens mit Kontrastmittel festhielt. Bald wurde aber deutlich, welche ungeheuren Chancen in dieser neuen Untersuchungsmethode lagen, ließen sich doch im Gegensatz zur Röntgenuntersuchung kleinste Magengeschwüre und -tumoren im Anfangsstadium erkennen und durch Entnahme von Gewebeproben beweisen. Seitdem nahm die Endoskopie, das Hineinschauen in innere Hohlräume, eine rasante Entwicklung.

Anschließend absolvierte ich gemäß der Ausbildungsordnung zum Internisten ein Jahr in einer großen Röntgenklinik in der Nachbarstadt, zunächst mit eingeschränkter Motivation, ich wollte schließlich kein Radiologe werden. In späteren Jahren sollten mir die dort erworbenen Kenntnisse aber noch sehr nützlich sein. Vor allen Dingen verfügte diese Klinik neben einem Computertomografen auch über ein gutes Ultraschallgerät. So konnte ich bei Patienten mit einem krankhaften Befund in der Computertomografie die Diagnose mittels Ultraschall studieren und nachvollziehen. Es wurden Hunderte von Untersuchungen, die ich vorzugsweise nach dem Dienstende durchführte. So brachte ich mir die Untersuchungstechnik mit Ultraschall zum großen Teil selbst bei. Die neuen Untersuchungsverfahren wie Endoskopie und Sonografie hatten mein Interesse für Erkrankungen des Bauchraums geweckt.

Nun betrat ich also meinen neuen Arbeitsplatz am Großklinikum der Stadt, das fast dreimal so groß wie das ehemalige Krankenhaus war, und dort die internistische Fachabteilung für Gastroenterologie, die für Magen- und Darmkrankheiten zuständig ist. Daneben gab es zwei weitere internistische Kliniken, die Kardiologie und die Nephrologie (Herz- und Nierenkrankheiten). Das Hauptgebäude war ein weithin sichtbarer Hochhausturm mit mindestens acht Etagen, mit angegrauter Betonfassade, vielleicht in den 60er-Jahren errichtet. Die überdimensional hohe Eingangshalle erinnerte mich an die unpersönliche Atmosphäre einer Bahnhofshalle und sollte zu einem späteren Zeitpunkt noch traurige Berühmtheit erlangen.

Die drei internistischen Abteilungen verfügten zusammen über eine bunte Mischung aus insgesamt etwa 30 Assistenzärzten. Ich traf sehr nette Kollegen, die mich mit offenen Armen aufnahmen, und mit denen man vertrauensvoll und freundschaftlich zusammenarbeiten konnte. Andere verhielten sich zunächst eher neutral und wollten den neuen Kollegen erst einmal abwartend beäugen. Dann aber gab es auch die kleine Fraktion der hochnäsigen Kollegen, die fast schon mitleidig auf mich herabschauten und ein gequältes Lächeln aufsetzten, sobald sie erfuhren, dass ich lediglich aus dem mittelgroßen Krankenhaus der Stadt kam. Mit dieser eher speziellen Willkommenskultur hatte ich auf gar keinen Fall gerechnet, zumal ich schon einige Jahre länger im Krankenhaus arbeitete als viele meiner neuen Kollegen. Zudem war ich in eine Art Ellenbogengesellschaft geraten, in der je­der Assistenzarzt um bestimmte Untersuchungen kämpfte, die ihn in seiner persönlichen Ausbil­dung zum Facharzt weiterbrachten. Der Konkurrenzdruck war hoch. Nicht so ganz selten aber hörte ich gerade von den überheblichen Kollegen große Worte mit wenig Substanz dahinter.

Ausgerechnet von demjenigen Assistenzarzt mit dem größten Mundwerk, den man recht treffend als Windhund oder Hans Dampf in allen Gassen bezeichnen konnte, fiel mir im Ultraschallraum ein Patient in die Hände. Diesen Patienten betreute der Kollege auf seiner Station selbst, und er hatte die Ultraschalluntersuchung vor einigen Tagen schon einmal durchgeführt. Dabei hatte er keinen wesentlichen krankhaften Befund feststellen können. Nun sollte daher eine Kontrolle erfolgen, die Fragestellung auf dem Anforderungsschein für die Untersuchung lautete wie bereits bei der Voruntersuchung „Unklare Oberbauchschmerzen“.

Als sich der Patient auf die Liege in dem abgedunkelten Ultraschallraum legte, bemerkte ich schon seinen eher unglücklichen Gesichtsausdruck: Dieser Mann hatte erstens noch weiterhin Beschwerden, er spürte zweitens, dass er ernsthaft krank war, und er machte sich drittens Sorgen um das Ergebnis der Untersuchungen. Seine Schmerzen konnte er recht genau etwas seitlich im linken Oberbauch lokalisieren, wenngleich diese Region relativ selten bei Bauchschmerzen angegeben wird. Bei der bereits durchgeführten Magenspiegelung hatte man keine Ursache für die Beschwerden finden können.

Ich gab ein Gleitgel auf seine Bauchdecke und verteilte es mit dem Schallkopf, dann begann ich die gründliche Untersuchung sämtlicher Bauchorgane in der Reihenfolge, die ich mir angeeignet hatte. Solch eine Reihenfolge ist sehr sinnvoll, um keines der zahlreichen Bauchorgane zu vergessen. Als ich bei der Milz im linken Oberbauch angelangt war, die am besten von der Seite aus dargestellt werden kann, wollte ich meinen Augen nicht trauen, aber es gab keinen Zweifel: Inmitten der vergrößerten Milz fand ich einen großen, nur noch zum Teil flüssigen, also bereits älteren Bluterguss, der aufgrund seiner Größe eigentlich nicht zu übersehen war. Zusätzlich war im linken Oberbauch am unteren Milzpol ein geringer, halbmondförmiger Flüssigkeitssaum zu sehen, der dort keineswegs hingehörte und auf einen Milzriss mit entsprechender Blutung hindeuten konnte. Der Patient hatte wahrscheinlich noch Glück, dass nicht eine noch größere Blutmenge ausgetreten war. Alle anderen Bauchorgane waren vollkommen in Ordnung. Damit war die Ursache seiner Oberbauchschmerzen hinreichend erklärt. Während ich dem Patienten das Gel mit einem Handtuch abwischte, teilte ich ihm den Befund mit, wie auch die weitere erforderliche Diagnostik und die sich daraus ergebende Konsequenz einer baldigen Operation. Er bedankte sich für die gründliche Untersuchung.

Bevor der Patient den Untersuchungsraum verließ, schaute ich noch rasch in seiner Patientenakte auf den Vorbefund meines Kollegen und konnte mich nur noch wundern: Er hatte alle Bauchorgane mit Ultraschall untersucht und beschrieben, aber eben mit einer Ausnahme: Die Milz hatte er überhaupt nicht erwähnt! Wenn er die Milz untersucht hätte, so hätte er sie mit diesem gravierenden pathologischen Befund ganz gewiss beschrieben. Alles deutete darauf hin, dass er sträflich vergessen hatte, sie zu untersuchen. Nun ist eine Verletzung der Milz ein mehr als seltenes Ereignis, dem ein entsprechender Unfall vorausgehen muss. Auf meine gezielten Fragen berichtete der Patient dann, dass er sich vor ungefähr drei Wochen mit der linken Körperseite sehr heftig an seiner geöffneten Autotüre gestoßen habe. Auch hierüber fehlten aber in dem Aufnahmebogen über die Krankenvorgeschichte jegliche Angaben.

Meinen Ultraschallbefund formulierte ich in diesem Fall ganz besonders präzise und bis in die geringsten Einzelheiten detailliert. Der diktierte Befund musste von den Sekretärinnen erst noch geschrieben werden und würde daher frühestens am Ende des Tages auf der Station vorliegen. Es bestand aber für den Patienten durchaus akuter Handlungsbedarf, weshalb ich den Kollegen vorab telefonisch über das Ergebnis informierte. Er fiel buchstäblich aus allen Wolken, auf denen er bis zu diesem Tag gewandelt war.

Meine Diagnose aus dem Ultraschallraum wurde anschließend in der Computertomografie voll und ganz bestätigt. Mit diesem Befund musste der Patient dringend operiert werden, weil der Bluterguss einfach zu groß und ein Milzriss auch weiterhin nicht auszuschließen war. Die Milz musste wahrscheinlich vollständig entfernt werden.

Mein Untersuchungsergebnis breitete sich so schnell wie ein Lauffeuer auf unserer Abteilung aus, zumal der Patient bereits zehn Tage lang ohne Diagnosestellung in der Klinik verweilte.

Seit diesem Ereignis wurde der Kollege aus dem kleineren Krankenhaus der Stadt nicht mehr mitleidig belächelt. Offenbar konnte man als Arzt selbst an einem nur mittelgroßen Krankenhaus gründliches Arbeiten lernen. In der Folgezeit wurde ich von Kollegen noch häufiger zur Kontrolle von Ultraschallbefunden hinzugezogen, wenn sich die Kollegen bei einem Befund nicht ganz sicher waren. Langsam entspannte sich das Arbeitsklima.

Der Kollege mit dem großen Mundwerk hatte sichtlich ein schlechtes Gewissen und wurde recht kleinlaut – wenn auch nur für wenige Tage.

Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes

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