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3 Der Gänselieselmarkt

Die Stationsschwester berichtete, dass in einem der von mir betreuten Zimmer eine neue Patientin aufgenommen worden sei. Sie sei 16 Jahre alt und habe an Gewicht abgenommen. „Wie bitte? Ist dies nicht ein Fall für die Kinderklinik?“, gab ich sogleich zu bedenken, denn das Alter von 16 Jahren war gerade ein Grenzfall zwischen Kinderklinik und Innerer Medizin. Sie erwiderte aber auf meinen Einwand: „Die Eltern wünschen, dass sie hier bei uns untersucht wird!“

Ich betrat also das Zimmer der jungen Patientin, in dem sie mit zwei älteren Patientinnen lag. Auf der Bettkante saß ein für sein Alter hochgewachsenes, durchaus hübsches Mädel, mit schulterlangen braunen Haaren, von sehr schlanker Statur, und schaute mich erwartungsvoll an. Sie war Schülerin, die Sommerferien hatten gerade erst begonnen, und mit dem Schulzeugnis war sie zufrieden. Alle meine weiteren Fragen beantwortete sie in einem freundlichen Plauderton. Erst als sie sich für die körperliche Untersuchung entkleidete, bemerkte ich, wie unterernährt sie war. An ihrem Brustkorb wölbten die Rippen die Haut vor. Durch geschickte Auswahl ihrer Kleidung hatte sie es verstanden, die Mangelernährung zu verbergen. Die Gewichtsabnahme war der einzige Grund für die Einweisung in unsere Klinik. Die körperliche Untersuchung ergab ansonsten von Kopf bis Fuß keinen krankhaften Befund.

Die umfangreiche Blutuntersuchung war in Ordnung, mit Ausnahme einer leichten Blutarmut infolge eines Eisenmangels, einem verminderten Eiweißgehalt und einem erniedrigten Kaliumwert. Besonders der pathologische Eiweiß- und Kaliumwert waren sehr ungewöhnlich für ihr Alter. Natürlich überprüften wir auch andere mögliche Ursachen der Gewichtsabnahme, wie die Funktion der Schilddrüse und der Nebennieren, mit unauffälligen Ergebnissen. Auch einen Blutverlust aus dem Magen und dem Darm konnten wir ausschließen. Auf genaueres Befragen erklärte sie, sich regelmäßig zu ernähren, sie nehme lieber Süßspeisen als herzhafte Gerichte zu sich, aber auch Fleischgerichte. Durchfälle oder Erbrechen seien nicht aufgetreten. Haustiere seien nicht in der Wohnung, sodass ich meinen Gedanken an eine Wurmerkrankung, die auch zu einer Blutarmut führen kann, fallen lassen konnte.

Ich war ziemlich ratlos. Gewöhnlich suchte ich mir wie ein Fährtensucher aus den Angaben zur Krankenvorgeschichte, den Blutuntersuchungen und der körperlichen Untersuchung einen prägnanten pathologischen Befund, an dem ich mich festbeißen konnte und der mich zur Diagnose führen würde. In dem Fall dieser jungen Dame hatte ich so gut wie gar nichts in der Hand.

Also blieb zunächst nichts weiter zu tun, als die Symptome zu behandeln und abzuwarten. Ich erklärte ihr meinen Behandlungsplan mit täglichen Infusionen von Elektrolyten, Kohlenhydraten und Aminosäuren sowie einer Wunschkost und täglichen Gewichtskontrollen. Sie war einverstanden. Während der gesamten fünfwöchigen Behandlung war sie überhaupt immer mit allen Maßnahmen einverstanden, und dabei immer freundlich zugewandt. Wie einfach, so dachte ich jedenfalls.

Die Gewichtskontrollen wurden von den Schwestern täglich durchgeführt, immer im gleichen Bekleidungszustand und auf derselben Waage, und die Ergebnisse genau in der Krankenkurve notiert. Nach wenigen Tagen der Infusionstherapie hatte meine Patientin ein Kilogramm zugenommen, ich war hocherfreut und wähnte mich auf dem richtigen Weg. Zwei Tage später kam der Rückschlag: Wir waren wieder beim Ausgangsgewicht angelangt. Die Rippen konnte man wie am ersten Tag zählen, ohne zu tasten, jede einzelne Rippe wölbte die Haut vor.

Die erneute Blutentnahme zeigte eine Normalisierung der Elektrolyte und leider ein weiteres Absinken des Eiweißspiegels. Gar nicht gut! Was war hier eigentlich los, irgendetwas stimmte ganz und gar nicht, ich trat auf der Stelle. Ich erkundigte mich bei den Schwestern danach, wie gut das Mädel essen würde: „Sie isst gut, das Tablett ist immer leer.“ Dann fragte ich die Patientin, ob das Essen ausreichend sei: „Es ist gut, ich habe guten Appetit, kein Hungergefühl, ich werde gut satt!“ Gegen diese Feststellung sprach allerdings der zunehmend sinkende Eiweißgehalt im Blut als sehr zuverlässiges Zeichen einer unzureichenden Nahrungsaufnahme.

Ich wunderte mich auch darüber, wie geduldig sie die Behandlung über sich ergehen ließ, nicht einmal drängte sie auf eine baldige Entlassung, und sie klagte auch nicht über Heimweh. Seltsam war dieses Verhalten schon, es waren doch schließlich Schulferien. Ich versuchte häufig und gerne, mich mittels Rollentausch in den Patienten hineinzuversetzen. Als 16-jähriger Jüngling hätte ich jedenfalls einen großen Bogen um jedes Krankenhaus gemacht, und ganz besonders in den Schulferien, in denen ich mich von zahlreichen Klassenarbeiten erholen wollte.

Ihre Eltern kamen regelmäßig zwei- bis dreimal in der Woche zu Besuch, stets beide zusammen und häufig zur Zeit meiner Visite, sodass wir uns regelmäßig unterhalten konnten. Beide waren hochgewachsen, sehr gut gekleidet, gepflegt, höflich, freundlich, sorgenvoll. Sie machten auf mich einen absolut harmonischen Eindruck, irgendwelche Dissonanzen fielen mir nicht auf. Ich hatte natürlich viele Fragen an sie, ihre Antworten ergaben aber keine neuen Erkenntnisse, die zu einer Diagnose führen konnten. Im Nachhinein vermute ich, dass sie mir trotz meiner gezielten Fragen wesentliche Informationen oder Probleme aus ihrem Familienleben vorenthalten haben. Die acht Jahre jüngere Schwester meiner Patientin habe ich übrigens nie persönlich kennengelernt.

Eines Morgens eilte ich über den langen Stationsflur, ich war etwas in zeitlichem Verzug mit Blutentnahmen und Anlegen von Infusionen. Und die Blutproben mussten rechtzeitig in das Labor gebracht werden, damit die Ergebnisse am Nachmittag vorlagen. Von diesem Flur gingen links die Patientenzimmer ab, rechts lagen die Stationszimmer der Schwestern, Arztzimmer, Toiletten, ein großes Badezimmer, die Stationsküche und ein Geräteraum. Geradeaus endete der Gang an der Südseite der Klinik an einem großen Fenster mit Blick auf den Hubschrauberlandeplatz. Und auf dem Rahmen dieses sperrangelweit geöffneten Fensters lehnte meine Patientin weit hinausgebeugt und schaute angestrengt und ununterbrochen nach unten, ohne sich einmal umzudrehen. Dies war insofern merkwürdig, als dieses Fenster in aller Regel geschlossen war, und noch nie hatte dort ein Patient auf diese Weise hinausgeschaut. Ich verlangsamte instinktiv meine Schritte und stellte mich in weiser Vorahnung leise neben sie, sie hatte mich nicht kommen gehört: „Na, gibt es etwas Interessantes zu sehen?“, fragte ich neugierig. Sie drehte sich äußerst erschrocken und blitzschnell zu mir um, und nur für einen ganz kurzen Moment schoss eine flammende Röte in ihr sonst so blasses Gesicht, dann hatte sie sich schon wieder im Griff, und ihr Gesicht wurde so blass wie vorher. Sie hatte ihre Gefühle erstaunlich schnell wieder unter Kontrolle.

Voller Interesse schaute ich aus dem Fenster hinab. An dieser Südseite des Gebäudes waren zum Sonnenschutz über den Fenstern breite, waagrechte Metall-Lamellen angebracht worden, so auch über dem Fenster unter uns. Und auf diesem Sonnenschutzgitter lag das gesamte Frühstück meiner Patientin ausgebreitet: zwei Scheiben Brot, zwei Brötchen, ein Schälchen Quark, Marmelade, Wurst, und etwas abseits davon eine Scheibe Käse, die in der bereits hochstehenden Morgensonne zu schmelzen begann. Die leckere Erdbeermarmelade dröppelte in zähen Tropfen langsam auf den Hubschrauberlandeplatz. Kein Wunder, dass ihr Tablett immer leer war, wenn die Schwestern es nach dem Essen abräumten! Sie schaute mir direkt in die Augen und sagte mit unglücklicher und bedauernder Miene nur: „Ist mir hinuntergefallen.“ Das Tablett selbst und das Geschirr lagen allerdings nicht unten. Und wenn ich ihre abwegige Feststellung ernst genommen hätte, wäre sie auch die erste Patientin gewesen, die ihr Frühstück an einem weit geöffneten Fenster eingenommen hätte. Zumal dies immerhin ein Fenster war, das nicht mit einer Fensterbank ausgestattet war, auf der man ein volles Frühstückstablett hätte abstellen können. Sie hatte wohl die Abwesenheit der Schwestern auf dem Stationsflur, die ihr eigenes Frühstück zu dieser Zeit in der Stationsküche einnahmen, ganz bewusst genutzt. Für mich war dieser von Anbeginn mysteriöse Fall nun endlich klar.

Einer der Vorteile als Krankenhausarzt besteht nun darin, dass man sich mit erfahrenen Kollegen über schwierige Krankheitsfälle austauschen und beraten kann. Ich wählte denjenigen Kollegen mit der größten Erfahrung, ich ging zum Chefarzt. Ich berichtete über meine Patientin und die Entdeckung auf dem Sonnenschutzgitter, erwähnte auch die zunehmende Abnahme ihrer Gewichtskurve und des Eiweißgehalts im Blut. Er hörte mir zunächst entspannt zu, mit zunehmender Dauer meines Vortrags legte sich seine Stirne jedoch in immer tiefere Falten. Er war eine imposante Erscheinung: klein, schlank und drahtig, schlohweiße, wellig zurückgekämmte Haare, gerötete Gesichtsfarbe. Dann sprach er aus, was ich auch schon ahnte, eigentlich wünschte ich nur noch seine Bestätigung: „Diese Patientin hat eine Essstörung, eine Anorexia nervosa (Magersucht). Fragen Sie die Eltern und die Patientin, ob sie mit einer künstlichen Ernährung über eine Magensonde einverstanden sind.“

Nachdem ich der Familie den Ernst der Lage und die Folgen der Unterernährung, unter anderen das Auftreten von Eiweißmangelödemen (Wasseransammlung im Hautgewebe), erklärt hatte, waren alle einverstanden. Der Eiweißgehalt im Blut war inzwischen dramatisch um 30 Prozent des Normalwertes gesunken, sodass wir damals gar keine andere Wahl als die künstliche Ernährung hatten.

Das Mädel saß aufrecht im Bett, ich betäubte mit einem Spray eines Lokalanästhetikums den Nasengang, wie auch die besonders empfindliche Hinterwand des Rachens. Anschließend rieb ich mit einem Gel des Betäubungsmittels die dünne Ernährungssonde ein. Dann führte ich die Sonde sehr langsam und vorsichtig in den Nasengang ein, bis die Sonde an der Rachenhinterwand erschien, wie ich durch ihren geöffneten Mund sehen konnte. Nun bat ich die Patientin, einmal zu schlucken, und das tat sie auch ganz brav, sodass die Sonde fast wie von selbst tief in den Magen rutschte. Schließlich gab ich mit einer Spritze etwas Luft in die Sonde, hörte gleichzeitig mit dem Stethoskop den Magen ab, wo es vernehmlich blubberte, die Sonde lag also korrekt. Wie schön!

Wir begannen mit der flüssigen Sondenernährung, die in ausgewogener Form alle wesentlichen Nährstoffe enthält. Bereits am nächsten Morgen lag die Sonde zusammengekringelt auf dem Fußboden neben ihrem Bett. Wie unschön! „Ist mir in der Nacht rausgerutscht“, sagte sie mit treuherzigem Augenaufschlag. Eigentlich hatte ich die Sonde an der Nasenspitze gründlich mit Pflaster fixiert, und gleichzeitig erinnerte ich mich an das rein zufällige Herunterfallen des Frühstücks auf das Sonnenschutzgitter. So viele Unglücksfälle auf einmal konnte es eigentlich gar nicht geben, na ja. Es folgte umgehend die Anlage einer neuen Magensonde, die ich demonstrativ mit noch mehr Heftpflaster an der Nase fixierte und dabei auch andeutete, dass wir noch genügend Magensonden in unserem Sortiment hätten. Zusätzlich erklärte ich ihr noch, dass solche Spiränzchen zulasten meiner ohnehin knapp bemessenen Arbeitszeit gingen.

Diese neue Sonde sollte nun wie durch ein Wunder bis zur nächsten Chefarztvisite einige Tage später liegen bleiben. Die neue Magensonde nutzte der Chefarzt, der auch ein erfahrener Radiologe war, zu einer sehr kurzen Magendurchleuchtung mit flüssigem Kontrastmittel, womit er eine Verengung des Magenausgangs ausschließen konnte. Die Möglichkeit einer Magenspiegelung gab es damals noch nicht. So konnte die Sondenernährung fortgesetzt werden, die Nahrungsmenge wurde täglich behutsam gesteigert. Innerhalb weniger Tage nahm die Patientin drei Kilogramm an Gewicht zu. Endlich machte sie Fortschritte, die Sondenkost zeigte erste Erfolge, und wir waren zufrieden.

Dann kam der Tag der wöchentlichen Chefarztvisite. Wir standen gemeinsam am Fußende des Bettes unserer Patientin, ich berichtete über den positiven Gewichtsverlauf und letzte Laborergebnisse. Sie beantwortete bereitwillig die Fragen des Chefarztes. Plötzlich aber stockte sie mitten in einem Satz, und ohne ein Würgen oder andere Vorzeichen erbrach sie in hohem Bogen mehrere Liter der Sondenkost der vergangenen Tage über die Bettdecke. Dies war kein provoziertes Erbrechen, das wir erlebten, der Magen war schlicht und ergreifend übergelaufen. Das Phänomen der Magenatonie bei längerer Mangelernährung ist bekannt, mit der Zeit stellt der Magen seine Tätigkeit, die Nahrung weiter in den Darm zu transportieren, vollständig ein.

Zusammengefasst hatten wir nach fünfwöchiger Behandlung nur eine unwesentliche Gewichtszunahme von vielleicht zwei Kilogramm erreicht. Vor der Entlassung setzte ich mich mit der jungen Patientin und ihren Eltern zusammen. Ich unterbreitete ihnen Diätvorschläge und empfahl auch dringlich eine ergänzende psychotherapeutische Behandlung. Meine Patientin war wie immer einverstanden, zumal ja auch die Schulferien dem Ende zugingen. Sie bedankten sich für unsere umfangreichen, wenn auch aus ärztlicher Sicht wenig erfolgreichen Bemühungen.

Ich vermutete, dass das junge Fräulein zunächst bewusst an Gewicht abnehmen wollte, vielleicht aus kosmetischen Gründen. Vielleicht gab es dafür auch andere Gründe, zum Beispiel innerhalb ihrer Familie. Im Verlauf entwickelte sich daraus ein Zwang, aus dem „Wollen“ wurde ein „Muss“. Infolge der einsetzenden Magenatonie wurde ihr Vorhaben zum Selbstläufer mit wiederholtem Erbrechen. Ein angenehmer Nebeneffekt für sie bestand natürlich darin, dass sie seit Monaten im Mittelpunkt der Sorgen und Ängste von nahen Angehörigen und Ärzten stand. Ich war enttäuscht über sie, und auch über mich selbst: Trotz der eigentlich guten Arzt-Patienten-Beziehung, wie ich mir jedenfalls einbildete, hatte sie täglich bühnenreif gelogen, und ich hatte ihre Lügen nicht bemerkt. Ich hatte sie nicht bemerkt, weil ich es bis dahin niemals für möglich gehalten hatte, dass Menschen, die im Krankenhaus eine medizinische Hilfe suchen, einen Arzt belügen könnten.

Später fragte ich mich noch häufiger, wie oder durch wen sie das Lügen bis zu dieser Perfektion gelernt hatte. In unseren zahlreichen Gesprächen hatte sie immer den direkten Augenkontakt gesucht und dabei gelogen, ohne mit der Wimper zu zucken. Man hätte auch sagen können, je länger und intensiver sie den direkten Augenkontakt gesucht hatte, und je vertrauensseliger ihr Blick gewesen war, desto mehr hatte sie gelogen. Offensichtlich war sie mit dieser Methode sehr erfolgreich. Selbst die Aufdeckung ihrer Lügen hatte sie nicht beeindruckt, ein schlechtes Gewissen, ein Unrechtsbewusstsein oder ein Schamgefühl schienen ihr völlig fremd zu sein, oder sie verdrängte solche für sie peinlichen Situationen einfach. Ich war ja gewiss nicht die erste Kontaktperson, bei der ihre Lügen letztlich keinen Erfolg hatten. Sie dachte wohl auch nicht an die schlimmen Folgen einer Aufdeckung ihrer Lügen, nämlich den Vertrauensverlust bei denjenigen Menschen, die ihr nahestanden und sich um ihren Gesundheitszustand sorgten. Sie machte sich mit ihren Unwahrheiten dauerhaft unglaubwürdig, und niemand würde sie mehr ernst nehmen.

Ungefähr neun Monate später war er endlich gekommen, der erste schöne, lange ersehnte Frühlingstag nach einem kalten Winter. Seit dem frühen Morgen strahlte die Sonne an einem tiefblauen Himmel. Dieser Tag war wie geschaffen für den Besuch des jährlichen Gänselieselmarktes in einem kleinen Ort am Rhein, der nicht so weit entfernt lag. Die Gänseliesel ist ein Wahrzeichen dieses Ortes und wohl auch Bestandteil des Stadtwappens. Es herrschte bereits ein buntes Treiben, der kleine Marktplatz in der Altstadt war voller Besucher. Viele trugen schon ihre Sommergarderobe an diesem ersten warmen Tag des Jahres, hier ein offenes Hemd, dort ein buntes Kleidchen oder eine leichte Jacke. Die Verkaufsstände erstreckten sich bis in die angrenzenden kleinen Gassen. Die Händler priesen teils lautstark und durchaus humorvoll ihre verschiedenen Waren an, gelegentlich wurde aber auch hartnäckig um den Preis einer begehrten Ware gefeilscht. Es wurden Antiquitäten, Kuriositäten, Banalitäten angeboten. Hier ein alter Weichholzschrank, dort eine rustikale Eichentruhe mit schmiedeeisernen Beschlägen, Bekleidungsstücke, Porzellan, Kunsthandwerkliches. Der zentral gelegene Bierausschank erfreute sich bereits am Vormittag eines regen Interesses, der verlockende Duft von Grillwürstchen und gebrannten Mandeln lag in der Luft. Irgendwoher ertönte nicht zu laute Musik.

Ich mochte Trödelmärkte schon immer und ließ mich auch an diesem Morgen, an meinem dienstfreien Wochenende, gerne von dieser fast ausgelassenen Stimmung bei dem herrlichen Frühlingswetter anstecken. Es tat gut, in lachende Gesichter zu schauen und auf fröhliche und gut gelaunte Menschen zu treffen. Die große Menschenmenge erlaubte nur ein langsames Vorankommen, das aber eine gründlichere Betrachtung der angebotenen Waren erlaubte. Oftmals lagen die interessanten Dinge auch etwas verborgen unter den Warentischen. Für einen Trödelmarkt muss man sich eben Zeit nehmen. Für mich bedeutete dieser Tag auch eine willkommene Abwechslung im Vergleich zu der zeitlosen Zeit mit ihrer dauerhaften Hektik im Krankenhausalltag.

Ich hatte meinen Rundgang schon fast beendet, als plötzlich jemand aus einiger Entfernung durch das allgemeine Stimmengewirr hindurch und über alle Köpfe hinweg laut und deutlich meinen Namen rief. Ich wandte mich verwundert in die Richtung um, aus der die Stimme gekommen war, blickte aber geradewegs in die hochstehende Sonne, sodass ich – zunächst geblendet – niemanden erkennen konnte. Aber selbst wenn ich nicht gegen das grelle Sonnenlicht geschaut hätte, hätte ich sie nicht sogleich wiedererkannt. Sie kam mit wehenden, langen braunen Haaren an den anderen Besuchern im Zickzack-Kurs vorbei auf mich zugerannt. „Herr Doktor, Herr Doktor“, rief sie so laut, dass sich sofort einige andere Besucher neugierig zu ihr umdrehten. Sie trug ein farbenfrohes, dennoch schlichtes Sommerkleid, das ihr gut stand. Neun Monate sind eine lange Zeit im Berufsleben eines Arztes, man sieht sehr viele Patienten kommen und gehen. Erst als sie dicht vor mir stand, fiel endlich der Groschen. Ich sah nicht mehr in dieses schmale, viel zu blasse und viel zu ernste Gesicht, sondern ich sah gut gepolsterte Wangen, eine sonnengebräunte Gesichtshaut, und die Spuren der Abmagerung waren vollständig verschwunden. Mehr noch als ihr gesundes Aussehen erstaunte mich aber ihre Stimmungslage. Ich hatte sie als überwiegend stilles, eher zurückhaltendes Mädchen in Erinnerung. Nun jedoch blinkten ihre Augen fröhlich und lebhaft, und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus: „Stellen Sie sich bloß vor, es geht mir gut, ich war endlich einmal wieder mit meinen Eltern zusammen in Urlaub!“ Na sieh mal einer an, dachte ich sogleich, also hatte es vielleicht doch Probleme innerhalb der Familie gegeben, von denen mir allerdings ihre Eltern mit keinem Wort berichtet hatten, obwohl ich seinerzeit gezielt danach gefragt hatte. Natürlich sagte ich ihr, wie sehr ich mich für sie freute. Aus der Ferne winkten mir ihre Eltern lachend zu, die kleine Schwester hing an der Hand der Mutter. Meine ehemalige Patientin war geradezu euphorisch, sie plapperte einfach fröhlich drauflos, über die Schule, über Ausbildungspläne, über den neuen Freund und viele andere Dinge. Sie schnatterte beinahe so, wie die aufgeregte Gänseschar, die nach der Legende einst von der Gänseliesel an diesem Ort gehütet worden war. Sie war gegenüber der damaligen Behandlung in unserer Klinik überhaupt nicht mehr wiederzuerkennen. Mit ihrer unbändigen Begeisterung und wiedergewonnen Lebensfreude hatte sie mich derartig eingefangen und verzaubert, dass ich tatsächlich vergaß, sie nach dem Geheimnis ihrer wundersamen Wandlung zu fragen. Vielleicht war es aber auch besser so. Wir verabschiedeten uns sehr herzlich.

Während der Rückfahrt nach Hause dachte ich über unser überraschendes und erstaunliches Zusammentreffen nach. Bedeutete diese erfreuliche Entwicklung nun auch wirklich das Ende ihrer Magersucht und damit das Ende ihrer Lügen? Oder wollte sie sich doch auch weiterhin durch ihr zukünftiges Leben lügen? Mit einer solchen Einstellung würde sie kaum glücklich werden. Ich wünschte ihr, dass sie den richtigen Weg fand, aber mir blieben doch einige leise Zweifel. Dennoch war dies eindeutig einer meiner besseren Tage, einmal abgesehen von dem bunten, fröhlichen Treiben auf dem Marktplatz.

Nach Literaturangaben werden nur 50 Prozent der Patienten mit Anorexia nervosa (Magersucht) geheilt. Vielleicht aber gehörte meine ehemalige Patientin ja auch zu diesen 50 Prozent.

Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes

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