Читать книгу Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes - Gerd Sodtke - Страница 5

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1 Begegnung mit einer Pistole

Am frühen Morgen eines schönen, sonnigen Herbsttages stieg ich erwartungsvoll aus der Straßenbahn. Von der Haltestelle aus waren es über die Straßenkreuzung hinweg nur wenige Schritte bis zu dem eher unscheinbaren Haupteingang der Universitätsklinik Düsseldorf. Der Pförtner wies mir den Weg zu der nicht weit entfernten Urologischen Klinik.

Als ich sie erreichte, verlangsamte ich unwillkürlich meine Schritte und schaute bewundernd und beinahe ehrfürchtig auf die hohe Gebäudefassade, die den Charme eines riesigen, alten Herrensitzes ausstrahlte. Bevor ich das Gebäude betrat, umrundete ich neugierig und interessiert den mächtigen, hufeisenförmigen Ziegelsteinbau, der sicherlich um die Jahrhundertwende errichtet worden war, mit einigen mächtigen Kastanienbäumen im Innenhof. Die Kastanien mochten bald so alt sein wie der riesige Gebäudekomplex. Die Einfassungen der hohen Rundbogenfenster mit breiten, hellgelben Sandsteinen boten einen schönen Kontrast zu der dunklen, rostroten Ziegelsteinfassade. Oben an den Ecken des Karrees überragte jeweils ein rundes, spitzes, kleines Türmchen die Dachfassade. Ich mochte dieses historische Gebäude von Anbeginn. In seinen heiligen Hallen war seit vielen Jahrzehnten Medizingeschichte geschrieben worden. Es sollte für viele Monate mein neuer Arbeitsplatz werden. Ich stieg also durch das hohe, weitläufige Treppenhaus mit verschnörkeltem schmiedeeisernem Geländer auf die Urologische Männerstation in der ersten Etage hinauf.

Ich hatte einen festen Entschluss gefasst, von dem mich niemand mehr abbringen konnte: Ich wollte Medizin studieren, obwohl ich rein gar nichts über Arbeitszeiten, Verdienstmöglichkeiten oder die berufliche Belastung eines Arztes wusste. Ich wollte Menschen helfen, die gesundheitlich in Not geraten waren. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit stand jedoch ein großes Problem: Es gab keinen freien Studienplatz, und ich sollte noch jahrelang warten müssen.

An diesem schönen Herbsttag begann ich also als Krankenhilfspfleger auf der Urologischen Männerstation dieses alten, ehrwürdigen Gebäudes. Die erfahrenen Stationspfleger empfingen mich freundlich und arbeiteten mich rasch ein. Sie waren ein eingespieltes Team und arbeiteten in dieser Besetzung schon seit Jahren zusammen. Seit meinem ersten Arbeitstag behandelten sie mich nicht wie einen unwissenden Hilfspfleger, sondern als einen der Ihren. Später würden sie mich anstelle meines Namens einfach „den Studenten“ nennen, wenn sie über mich sprachen, wenngleich ich diesen Status eben gerade noch nicht hatte.

Zur Eingewöhnung wurde ich zunächst in die Leerung und Reinigung der Urinflaschen und Bettpfannen eingewiesen, in die Desinfektion der Betten auf dem langen, überdachten Balkon mit Aussicht auf die alte, kleine Krankenhauskapelle, und in die Essensausgabe. Später folgten dann Blutdruck- und Pulsmessungen, Verbandswechsel, und schließlich das Anlegen von Harnblasenkathetern zunächst unter Aufsicht.

Das morgendliche Bettenmachen war ein besonderes Erlebnis. Auf der Station gab es überwiegend Zwei- und Dreibettzimmer, aber auch einen Krankensaal mit acht Betten, für den ich regelmäßig eingeteilt wurde. Man konnte die Aufgabe des Bettenmachens nun auf ganz unterschiedliche Weise bewältigen. Man hätte zum Dienstbeginn um 6:00 Uhr morgens der frühzeitigen Unterbrechung der eigenen Nachtruhe nachtrauern und relativ unausgeschlafen und wortkarg seine Arbeit beginnen können. Nicht so auf dieser Station! Die acht Betten in dem Krankensaal waren nicht durch Paravents voneinander getrennt. Die anderen Pfleger in dem Raum waren während des Beziehens der Betten sofort im Gespräch mit den Patienten, es entstand mitunter ein buntes Stimmengewirr teils über mehrere Betten und Köpfe hinweg. Ich konnte beobachten, wie dankbar die Patienten jedes freundliche Wort aufnahmen, hier ein kleiner Scherz, oder dort ein tröstendes Wort.

Trotz unterschiedlicher sozialer Herkunft oder Nationalität kamen die Patienten gut miteinander aus. Dort am Fenster lag ein wohl stadtbekannter Drogendealer, daneben im Bett ein Polizist. Hier der Kleinkriminelle mit bedauernswerten Umgangsformen, dort der Ordnungshüter, ein ausgesprochen freundlicher, höflicher Mensch. Diese beiden grundverschiedenen Menschen hatte man natürlich nicht bewusst nebeneinandergelegt. Vielleicht war zunächst kein anderes Bett frei gewesen, oder man kannte bei den beiden anfangs nicht die genaue Diagnose. Wie es die Ironie ihres bösen Schicksals wollte, litten sie leider an der gleichen Erkrankung: Sie hatten Hodenkrebs. Dennoch freuten sich die Patienten in diesem Krankensaal über jede Ansprache, und bald plauderte auch ich lebhaft mit ihnen.

Nach nur wenigen Wochen der Einarbeitung fragte mich der Stationspfleger, ob ich bereit wäre, am gleichen Abend bei einem Patienten eine nächtliche Sitzwache zu übernehmen, selbstverständlich im Anschluss an den normalen Tagesdienst. Ich zögerte zunächst mit einer Zusage, denn dieses Ansinnen kam doch sehr überraschend und früh in meiner Entwicklung.

Solche Sitzwachen, die später neben einem Block von sechswöchigen Tagesdiensten in den Semesterferien nicht unwesentlich zur Finanzierung meines Studiums beitragen sollten, wurden angeordnet, wenn sich der Zustand eines Patienten kritisch verschlechtert hatte oder er einer umfassenderen Pflege bedurfte. Häufig handelte es sich um frisch operierte Patienten, deren Zustand aber so stabil war, dass sie nicht einer Überwachung auf der Intensivstation bedurften. Überwiegend waren sie an Niere, Harnblase oder Prostata operiert worden. Neben der pflegerischen Versorgung hatte ich einen Beobachtungsbogen anzulegen, auf dem stündlich die Blutdruck- und Pulswerte einzutragen waren, Temperaturkontrollen in größeren Abständen sowie besondere Vorkommnisse. Darüber hinaus war auf Verbandswechsel, Infusionen und Eiswasserspülungen für die Harnblase zu achten. Die Nachtpfleger versorgten die übrige Station. Ich erklärte mich nach kurzer Bedenkzeit mit dieser ersten nächtlichen Sitzwache einverstanden, zumal ich mich bei Problemen und Fragen jederzeit an die übrigen Nachtpfleger wenden konnte, wie mir der Stationspfleger versicherte.

Also trat ich diese Sitzwache nach kurzer Ruhepause vom Tagesdienst am gleichen Abend an. Ich führte die Kreislaufkontrollen wie angeordnet durch und trug die Messwerte in den Beobachtungsbogen ein. Einmal mussten der Verband, der nach der Nierenoperation leicht durchgeblutet war, und das darunterliegende Stecklaken gewechselt werden. Medikamente gegen den Wundschmerz nach der frischen Operation wurden von den Nachtpflegern verabreicht. Darüber hinaus war mein Patient über die Nacht stabil und schlief ganz ruhig.

Kurz vor Mitternacht wurde ich von den Nachtpflegern zum Essen eingeladen, eine ebenso willkommene wie überraschende Abwechslung. Die Nacht war schließlich noch lang genug. Ich traute meinen Augen nicht, als ich durch die offene Tür des länglichen Stationszimmers blickte: Zwei Tische waren zu einer langen Tafel zusammengeschoben worden, bedeckt mit blütenweißen Stecklaken, auf denen mehrere dampfende Speiseschüsseln standen, die einen intensiven orientalisch-würzigen Duft verbreiteten. Mein Magen, der sich zuvor schon unzufrieden gemeldet hatte, tat einen Freudensprung. Die Speisetafel war vollständig gedeckt, für eine feierliche Festtafel fehlten eigentlich nur noch zwei prunkvoll verzierte, mehrarmige Kerzenleuchter! Der Urheber dieses Festmahls war ein Ägypter, der hier schon lange Jahre als Pfleger arbeitete.

So langsam dämmerte mir bei diesem Anblick auch, wie die Besetzung der Nachtdienste zustande kam: Ein Pfleger, vorzugsweise ein Meister der Kochkunst, wurde immer rechtzeitig für das leibliche Wohl freigestellt und verschwand stillschweigend in der Stationsküche, während die anderen Nachtpfleger seine Aufgaben auf der Station mit übernahmen. Und da es neben dem Ägypter auch noch einen Brasilianer und einen Franzosen in anderen Nachtschichten gab, durfte ich während meiner Sitzwachen die internationalen Kochkünste, durchaus in gelungener Restaurantqualität, kennenlernen.

Selbstverständlich wurden auch die Nachtschwestern der gegenüberliegenden Frauenstation zu dem mitternächtlichen Gaumenschmaus eingeladen. Von der langen Speisetafel aus hatten wir freie Sicht auf den langen Stationsflur unserer Männerstation, an dessen Ende eine Flügeltüre in das breite Treppenhaus führte, und gegenüber eine Flügeltüre auf den langen Flur der Frauenstation. Beide Flügeltüren wurden sperrangelweit geöffnet, sodass die Schwestern von unserer Speisetafel aus ihren Flur und insbesondere die Alarmleuchten über den Türen ihrer Patientenzimmer stets im Blick hatten. Es war immer eine gemütliche oder auch fröhliche Runde, und besonders eine willkommene Abwechslung in den langen, eintönigen Nachtdiensten, einmal abgesehen von den Gaumenfreuden. Wir sprachen über Patienten, die uns Sorgen bereiteten, über Kochrezepte, über die Anstrengungen der Nachtdienste, und natürlich durften angemessene Neckereien mit den Schwestern auch nicht fehlen. Jedenfalls meldete ich mich in dankbarer Erinnerung an diese mitternächtlichen Festmahle seitdem freiwillig, wenn wieder einmal eine Sitzwache benötigt wurde. Es sollten sehr viele Sitzwachen werden.

Nach der nächtlichen Verköstigung kam die Zeit zwischen 2:00 Uhr und 4:00 Uhr morgens, die mir auch in späteren Jahren stets länger erschien als die übrigen Stunden einer Nachtschicht. Es schien beinahe so, als würde die Zeit stillstehen. Meinen Patienten hatte ich versorgt, es ging ihm gut, und ich ließ ihn schlafen, es gab momentan nichts zu tun. Ich war 20 Stunden auf den Beinen und spürte eine bleierne Müdigkeit, meine Augen drohten zuzufallen. In jener Nacht hegte ich immerhin noch die Hoffnung, dass ich mich irgendwann im Laufe der Jahre an diese ermüdend lange Nachtstunde gewöhnen würde. Im Augenblick schob ich diesen Anfall von Müdigkeit alleine auf das überaus reichhaltige Nachtmahl, das wir gemeinsam restlos verspeist hatten.

Ich brauchte ganz dringend frische Luft und verließ für wenige Minuten meinen Patienten, öffnete weit das hohe Rundbogenfenster des Stationszimmers und lehnte mich auf die Fensterbank. Bald schon würde die erste Morgendämmerung einsetzen. Ich atmete sehr tief durch, die kühle Nachtluft wirkte sofort belebend. Nach kurzer Zeit begann bereits irgendwo eine Amsel ihr Morgenlied, nach einer Weile stimmte eine zweite Amsel ein, und immer mehr Singvögel begrüßten den neuen Tag mit ihrem Gesang. Sie saßen in dem Geäst der hohen alten Kastanien des Innenhofes, auf den Dächern des hohen Klinikgebäudes, bis hoch oben auf den Dachtürmchen. So entstand ein einzig­artiges Konzert aus Hunderten von Vogelkehlen, das ungemein laut an den hohen Wänden des alten Ziegelsteingemäuers im Innenhof widerhallte, ganz ähnlich der Akustik in einer hohen Kathedrale. Ich lauschte andächtig diesem wunderschönen Morgenkonzert, es war auch eine Erinnerung daran, dass es dort draußen noch ein anderes Leben gab, neben so mancher gesundheitlichen Tragödie innerhalb der Krankenhausmauern. Ich hatte nicht erwartet, dass sich so viele Singvögel in dem riesigen Klinikgelände ansiedeln könnten. Dieses Erwachen des neuen Tages mit dem klingenden Gesang der Vögel hatte für mich beinahe etwas von einer gewissen Krankenhaus-Romantik. Bei späteren nächtlichen Sitzwachen sollte diese kurze, belebende Ruhepause auf der Fensterbank mit dem frühen Vogelkonzert zu einem festen Ritual werden. Jedenfalls waren meine Lebensgeister mit der frischen Morgenluft und dem Gesang der Vögel wieder erwacht.

Wenige Wochen später betrat ich an einem Nachmittag den Krankensaal, für den ich immer noch zuständig war. Alle Betten mit einer Ausnahme waren leer. Einige Patienten waren entlassen worden, andere nutzten wohl das sonnige Herbstwetter zu einem kurzen Spaziergang auf dem großen Klinikgelände. Nur der Drogendealer lag kraftlos und ausgezehrt in seinem Bett am Fenster. Er war nun bereits seit mehreren Wochen bei uns, in deren Verlauf sein anfänglicher, zum Teil respektloser Redefluss deutlich nachgelassen hatte. Bereits seit Tagen war er immer schweigsamer geworden, es schien bald so, als hätte er resigniert. Er war sicherlich stetig schlank gewesen, inzwischen aber sichtlich abgemagert. Wie krank er wirklich war, sollte ich nun erfahren. Bis zu diesem Nachmittag wusste ich nichts über Krebserkrankungen, ich hatte mich bislang nur auf meine pflegerischen Aufgaben beschränkt. Seine schulterlangen braunen Haare waren wie immer ungepflegt, jetzt aber schweißnass, seine Augen lagen tief in den Augenhöhlen, sein Gesicht war sehr blass und spitz, und seine Atmung war erschwert.

Ich hatte über die Wochen nie einen Besucher an seinem Bett gesehen, vielleicht hatte er aber draußen auf dem Gelände jemanden getroffen, als er noch aufstehen konnte. Er duzte mich seit dem ersten Tag, während ich bei einem höflichen „Sie“ blieb. Entsprechend seinem Milieu bevorzugte er die Gossensprache, was zwar auffiel, mich aber nicht weiter störte. Er war hier Patient und benötig­te pflegerische und ärztliche Hilfe wie alle anderen Patienten auch.

Nachdem wir einige Worte miteinander gewechselt hatten, richtete er sich in einer Gesprächspause mühsam und schweigend in seinem Bett auf und versuchte langsam, die Schublade seines Nachtschränkchens aufzuziehen. Sie klemmte aber ein wenig, ein Gegenstand blockierte die Schublade wohl von innen, sodass er ungeduldig an dem Griff rüttelte. Er hatte alleine nicht mehr die Kraft, um sie herauszuziehen. Ich musste ihm helfen, um sie schließlich öffnen zu können. Zunächst fingerte er eine ganze Weile suchend in der randvollen Schublade herum. Jede Bewegung fiel ihm in den letzten Tagen schwerer. Schließlich zog er zu meinem Entsetzen nach einem kurzen, vorsichtigen Blick an mir vorbei zur Zimmertüre langsam eine große Pistole hervor, mit nussbraunem Holzgriff und relativ langem Lauf, der silbern in der durch das Fenster einfallenden Nachmittagssonne glänzte. Es handelte sich offenbar um eine neue Waffe, denn sie wies keine Gebrauchsspuren auf. Er drehte sie mit Kennermiene und einem gewissen Stolz vor meinen Augen hin und her, damit ich sie von allen Seiten betrachten konnte. Woher er die Waffe hatte, wollte ich gar nicht wissen, oder ich kam nicht mehr dazu, mich nach ihrer Herkunft zu erkundigen. „Die ist echt“, erklärte er mir schwer atmend, „ist nicht geladen. Mir fehlt nur noch die Munition, dann gebe ich mir die Kugel!“ Bei diesen Worten tippte er mit dem ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger der anderen Hand an seine Schläfe.

Ich war heillos entsetzt, da mich seine Offenbarung natürlich vollkommen unvorbereitet traf, und versuchte sofort hilflos, ihn zu beruhigen und von seinem Vorhaben abzubringen. Er aber fuhr unbeirrt fort: „Jeden Tag geht es mir schlechter, ich kann nicht mehr, und ich will auch nicht mehr. Ich habe am ganzen Körper Schmerzen, und kein Medikament hilft!“ Ich verständigte sofort den Stationspfleger, und der rief den zuständigen Oberarzt, einen ruhigen, immer besonnenen Mediziner.

Am Abend jenes Tages trat ich sehr bedrückt meinen Heimweg an. Ich war nicht alleine schockiert, weil der Patient mir die Pistole gezeigt hatte. Ich fühlte mich natürlich auch nicht bedroht. Sehr wohl aber hatte ich befürchtet, dass er sich mit meinem Wissen etwas antun könnte. Seine Ankündigung hatte ich als Hilferuf verstanden. Aber warum hatte er nicht mit den Ärzten bei der täglichen Visite gesprochen, oder mit dem Stationspfleger? Er hatte mich als Krankenhilfspfleger, dem schwächsten Glied in der Kette des medizinischen Personals, wohl bewusst ausgewählt, vermutlich aus Angst. Und er hatte natürlich den leer stehenden Krankensaal genutzt, um ohne aufmerksame Zuhörer sprechen zu können. Besonders sein Bettnachbar, der Polizist, hätte sich bestimmt nicht nur neugierig für die Waffe interessiert. Der Dealer hatte mir seine ganze Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit aufgrund seiner wohl sehr weit fortgeschrittenen und ausweglosen Tumorerkrankung zu verstehen gegeben. Der Hodentumor war zwar operiert worden, hatte aber bereits zahlreiche Metastasen, also Tumorabsiedlungen, in andere Organe, wahrscheinlich auch in die Lunge, gestreut. Zu dieser Zeit Anfang der 1970er-Jahre gab es noch keine halbwegs wirksame Chemotherapie gegen Hodenkrebs. Mit wenigen einfachen Worten hatte der Patient mir bedeutet, dass er keinen Lebenswillen mehr hatte. Er hatte lange genug gegen seine Krebserkrankung gekämpft. Frühzeitig lernte ich die Grenzen meines späteren Berufes kennen.

Auf Anordnung des Oberarztes wurde er in ein Einzelzimmer verlegt und erhielt Morphium-Infusionen. Wohl aufgrund seiner Drogenkarriere benötigte er eine hohe Morphiumdosis. Ich besuchte ihn weiterhin täglich zu meinem Dienstbeginn, obwohl er mich kaum mehr erkannte. Aber vielleicht spürte er doch, dass jemand nach ihm schaute. Er war umnebelt vom Morphiumrausch und offenbar ohne Schmerzen, er lag ganz ruhig. In seinem Dämmerzustand öffnete er nur noch träge und zögerlich die Augen und murmelte einige unverständliche Worte, wenn ich ihn morgens besuchte. Nur wenige Tage später war sein Bett bei meinem Dienstbeginn leer.

An diesem Morgen herrschte entgegen den gewohnten, überwiegend zwanglosen Gesprächen am Frühstückstisch der Pfleger auf der Station eine gedrückte Stimmung, wir aßen zunächst alle schweigend. Jeder von uns war in Gedanken bei dem traurigen Schicksal des Drogendealers. Nur langsam kam ein Gespräch in Gang. Es verhielt sich nicht so, dass wir nach dem Tod eines Patienten kommentarlos zur Tagesordnung übergehen konnten. Alle empfanden seinen Tod angesichts seiner schweren Krebserkrankung als Erlösung, nur sein jugendliches Alter stimmte uns traurig. Er wurde noch nicht einmal 30 Jahre alt.

Ich war damals sehr jung und unerfahren in dem Beruf. Nur allzu gerne hatte ich mir die Einschätzung der älteren Krankenpfleger, dass sein Tod eine Erlösung für ihn war, zu eigen gemacht. Dennoch hat mich sein Schicksal über die Jahre weiter verfolgt. Er lag mit einer Dauer von mindestens sechs Wochen ungewöhnlich lange auf unserer Station. Sechs Wochen, in denen ich seinen langsamen, aber fortschreitenden körperlichen Verfall durch den bösartigen Hodentumor miterleben musste. Sein Gesicht sehe ich auch heute noch vor mir, und selbst seinen Namen habe ich bis zum heutigen Tag nicht vergessen.

Über den Verbleib der Pistole mit dem nussbraunen Holzgriff und dem silbern glänzenden Lauf habe ich nie wieder etwas gehört.

Sein Bettnachbar, der Polizist, der ebenfalls an Hodenkrebs erkrankt war, starb zwei Wochen später.

Die alten, hohen Kastanienbäume im Innenhof der Urologischen Klinik stehen dort heute nicht mehr vollzählig.

Die pflegerische Tätigkeit war auf keinen Fall eine verlorene Zeit. Vielmehr war sie dank des guten Betriebsklimas auf der Station eine sehr schöne und lehrreiche Erfahrung. So konnte ich in späteren Jahren sehr gut nachempfinden, was das Pflegepersonal in den Krankenhäusern zu leisten hat. Nach vielen Monaten als Krankenpfleger in der Urologie, die mich in meinem Berufswunsch nur bestärkt hatten, kehrte ich meinem Vaterland den Rücken. Es gab hier auf absehbare Zeit keinen freien Studienplatz.

Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes

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