Читать книгу Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes - Gerd Sodtke - Страница 8

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4 Die versteckte Patientin

Mein Arztzimmer auf der Station war klein, sowohl räumlich als auch im Verhältnis zu den Bergen von Arbeit, die dort auf mich warteten. In Zukunft sollte ich noch mehrere Arztzimmer kennenlernen, die in der Regel ebenso die Grundfläche einer größeren Besenkammer hatten. Dieses mein erstes Arztzimmer hatte jedoch zwei Vorteile. Die Stationsküche lag direkt nebenan, wo immer eine Kanne frischen heißen Kaffees wartete. Wohlgemerkt handelte es sich um Bohnenkaffee, keinen Muckefuck, der seinerzeit auch noch verbreitet war. Diese Kaffeekanne sollte mich noch über so manche überlangen Nächte retten. Der zweite Vorteil bestand darin, dass es streng genommen gar nicht „mein“ Arztzimmer war, weil ich es mir mit einem Kollegen teilen musste. Die Schreibtische waren so zusammengeschoben, dass wir uns direkt gegenübersaßen. Daraus sollte eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit entstehen. Er war ein hilfsbereiter Kollege, auf den man sich immer verlassen konnte. Er war schon drei Jahre an der Klinik und damit der erfahrenste Assistenzarzt. Ich bewunderte seine Ruhe und Gelassenheit, er ruhte gewissermaßen in sich selbst. Sogar in dem hierarchischen Gefüge des Krankenhauses perlte eine Kritik von Vorgesetzten an ihm ab wie Regentropfen an einer Glasscheibe. Eine gewisse Obrigkeitshörigkeit, zu jener Zeit noch weit verbreitet, war ihm völlig fremd.

Bei den „Bergen von Arbeit“ handelte es sich im Wesentlichen um die Akten entlassener Patienten, deren abschließender Arztbrief noch zu diktieren war. Da mir anfangs die notwendige Routine fehlte, um aus dem Krankheitsverlauf eines Patienten einen in sich schlüssigen Arztbrief zu formulieren, und es sich zudem um eine höchst langweilige Tätigkeit handelt, wuchs mein Aktenberg erschreckend schnell an. Die erste wichtige Routine entwickelte ich zunächst dahingehend, durch eine geschickte Stapeltechnik ein vorzeitiges Umstürzen des Aktenberges zu verhindern. Akuter Handlungsbedarf, also das Diktat der Arztbriefe, war aus einer Vielzahl von Gründen irgendwann aber zwingend erforderlich: Es handelte sich um Probleme der Statik, der vorhandenen Bebauungsfläche, der Kommunikation, des aktuellen Bedarfs, ein mentales Problem und strenge Vorgaben des Vorgesetzten: Entweder die Statik geriet gefährlich ins Wanken, und der Umsturz des Aktenberges stand trotz ausgefeilter Stapeltechnik unmittelbar bevor, oder ein Anbau zu einer Bergkette war mangels freier Schreibtischfläche nicht möglich, oder der Berg versperrte mir die Sicht auf meinen gegenübersitzenden Kollegen mit entsprechender Einschränkung der Kommunikation, oder man benötigte die Akte, weil der Patient kurzfristig wieder eingeliefert worden war, oder mein eigener Ordnungssinn meldete sich protestierend, oder schlimmstenfalls mahnte der Chefarzt das Diktat der Arztbriefe an. Besonders diese letzte Möglichkeit galt es unbedingt zu verhindern, die hohe Kunst bestand im Wesentlichen darin, bereits vor einer drohenden Erinnerung des Chefarztes aktiv zu werden. Dazu fand ich in der Klinik nur selten die notwendige Ruhe. Im Ernstfall schleppte ich also anfangs eine Tüte voller Arztbriefe mit nach Hause, um dort diktierend eine Nachtsitzung einzulegen, bis mir mit dem Mikrofon in der Hand die Augen zufielen und mein Kopf ermüdet auf die vor mir ausgebreiteten Krankenunterlagen gesunken war. Bald aber waren solche häuslichen Nachtsitzungen dann nicht mehr erforderlich.

Bevor ich selbstständig arbeiten konnte, begleitete ich meinen Zimmerkollegen bei den täglichen Visiten, auch bei den Chefarztvisiten. Das Ausfüllen des Aufnahmebogens der Patienten hatte im Gegensatz zu heutigen Gepflogenheiten höchst ausführlich zu erfolgen, darauf wurde mein Kollege von dem Chefarzt häufiger hingewiesen, und ich damit natürlich indirekt auch. Hingegen war mein Kollege eher ein Freund knapperer Befundberichte, wenn man es großzügig formulieren wollte. Auf dem Weg zum gewünschten Behandlungsziel schien er eine gewisse Arbeitsrationalisierung zu bevorzugen. Diesen Arbeitsstil behielt er trotz einiger Scharmützel mit dem Chefarzt übrigens bei, wie gesagt, er ruhte in sich selbst. Seine Diagnosen und Therapien waren allerdings überwiegend korrekt.

Bei einer der nächsten Visiten kritisierte der Chefarzt, dass eine der Patientinnen meines Kollegen mit einem Schlaganfall schon viel zu lange, nämlich sechs Wochen, im Krankenhaus lag. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters hatte diese Patientin nur einen leichteren Schlaganfall mit geringer Arm- und Beinschwäche erlitten, jedoch ohne Sprachstörung. Nun verhält es sich so, dass die Hinauszögerung einer Patientenentlassung durchaus und in mehrerlei Hinsicht zu einer Arbeitserleichterung führen kann. Zum einen ist das Bett belegt, sodass kein neuer Patient mit der üblichen Prozedur aufgenommen werden kann. Zum anderen kann das lästige, aber notwendige Diktieren des Arztbriefes in eine weiter entfernte Zukunft verschoben werden. Daher entsprach die bis dahin fehlende Entlassung der Patientin mit dem Schlaganfall in etwa der Arbeitsphilosophie meines Kollegen, keineswegs aber den Vorstellungen des Chefarztes. Bezüglich einer rechtzeitigen Entlassung trafen hier also vollkommen unterschiedliche Welten aufeinander. Folgerichtig ordnete der Chefarzt mit strenger Stimme die Entlassung der Patientin am nächsten Tag an.

Eine Woche später war die nächste Chefarztvisite angekündigt. Mein Kollege und ich saßen in unserem gemeinsamen Arztzimmer und ergänzten zur Vorbereitung der Visite die Krankenakten, machten hier und da noch eine Notiz oder ordneten Untersuchungen für den nächsten Tag an. Plötzlich wurde ich aus dieser betriebsamen Ruhe aufgeschreckt: „Verflixt noch mal, ich habe etwas vergessen!“, rief mein Kollege ärgerlich über sich selbst und schlug sich dabei mit der Handinnenfläche vor die Stirn. Ich schaute ihn fragend an. An diesem Tag schränkte ausnahmsweise kein Aktenstapel die Sicht auf ihn ein. Seine Stirn hatte sich in sorgenvolle Falten gelegt. Für einen kurzen Moment drohte dieser sonst so besonnene und ruhige Mensch seine Fassung zu verlieren, so schien es mir. „Ich habe total vergessen, die Patientin letzte Woche zu entlassen!“ Er hatte gerade die Akte der Patientin mit dem Schlaganfall aufgeschlagen. Ich musste mir zu meiner Schande eingestehen, dass ich auch nicht mehr daran gedacht hatte.

Nun war guter Rat teuer. Es blieb keine Zeit mehr für eine sofortige Entlassung, denn schon in wenigen Minuten würde der Chefarzt die Station zur Visite betreten. Und die Patientin konnten wir natürlich auch nicht innerhalb weniger Minuten einfach vor die Tür setzen. „Und jetzt?“, wollte ich ratlos wissen. Ich teilte vollkommen seine Einschätzung, dass wir auf eine größere Katastrophe zusteuerten. Schließlich war unser Chefarzt, obwohl nicht mehr der Jüngste an Jahren, für sein ausgezeichnetes Gedächtnis bekannt. Dieser Ruf eilte ihm weit voraus. Uns drohte großes Ungemach. Mein Gegenüber brütete angestrengt über der Patientenakte, fuhr sich sorgenvoll mit einer Hand durch die Haare und schüttelte ärgerlich über die eigene Vergesslichkeit wiederholt den Kopf. Mir fiel auch keine sofortige Lösung dieses durchaus ernsten Problems ein.

Nach langen Minuten intensiven Grübelns sprang er plötzlich aus seinem Schreibtischsessel auf, strahlte mich an und rief begeistert: „Ich hab’s: Wir müssen sie verschwinden lassen!“ Jetzt hat er aus Angst vor dem bevorstehenden Donnerwetter des Chefarztes endgültig den Verstand verloren, so schoss es mir sogleich durch den Kopf: „Wie bitte? Wie soll das denn funktionieren?“, fragte ich erstaunt und so, als hätte ich mich nur verhört. Mir war nicht geläufig, wie man solch ein riskantes Vorhaben in die Tat umsetzen konnte. Solch eine abenteuerliche Idee hatte ich ihm überhaupt nicht zugetraut. Seine sorgenvolle Miene hatte sich in ein breites Grinsen verwandelt. „Wir schieben sie einfach in das Badezimmer!“ Mir fehlten die Worte, und ich starrte ihn ungläubig mit offenem Mund an. „Und wenn es schiefgeht?“, gab ich zu bedenken. „Wir haben keine andere Wahl“, sagte er ungeduldig, denn die Zeit drängte. Mit dieser Erkenntnis hatte er nun auch wieder recht.

Das Badezimmer war natürlich nicht irgendein gewöhnliches Badezimmer. Es war mindestens fünfmal so groß wie unser Arztzimmer, in der Mitte thronte freistehend eine überdimensionale Badewanne mit einer Hebevorrichtung für schwer bettlägrige Patienten. Das Schicksal war uns auch insofern wohlgesonnen, als die Türe zu diesem Badezimmer zufällig genau gegenüber der Zimmertüre unserer Patientin lag. Die Parole lautete ganz einfach: Je kürzer der Weg, desto geringer die Aufregung der Patientin und das Risiko, entdeckt zu werden. Der Ortswechsel der Patientin musste blitzschnell erfolgen, um erstens kein Aufsehen zu erregen und zweitens dem Chefarzt zuvorzukommen, es blieben uns nur noch wenige Minuten Zeit.

Wir verließen also eilig unser Arztzimmer und gingen rasch in ihr Zimmer, in dem sie alleine lag. Dies war insofern ein Vorteil, als es keine lästigen Zeuginnen für die Umsetzung unseres Vorhabens gab. Mein Kollege erklärte ihr kurz und knapp und damit unwiderruflich die Notwendigkeit einer sofortigen Grundreinigung ihres Zimmers, die an diesem Morgen angeblich von den Putzfrauen vergessen worden wäre, und dass sie daher für einen Moment in einem anderen Raum untergebracht werden müsste. Diese Nachricht wurde von der Patientin durchaus wohlwollend zur Kenntnis genommen, denn sie nickte nach einem kurzen Blick in die Zimmerecken ganz verständnisvoll mit dem Kopf. Offenbar hielt auch sie eine Grundreinigung für dringend erforderlich. Er entschuldigte sich hastig für die Unannehmlichkeiten, die damit verbunden wären. Wir schoben also die Patientin in ihrem Bett und mitsamt dem Nachttisch in das Badezimmer gegenüber, drückten ihr für den Notfall eine Klingel in die Hand und verließen eilig wieder den Baderaum, ehe sie zur Besinnung kam und neugierige Fragen stellen konnte. Die Schwestern auf der Station wurden vollständig in unseren Plan eingeweiht und zur absoluten Verschwiegenheit verpflichtet. Die Krankenakte der Patientin wurde auf Anregung der Schwestern gerade noch rechtzeitig aus dem Visitenwagen entfernt.

Zehn Minuten später erschien der Chefarzt gemessenen Schrittes und gar nicht so übel gelaunt auf der Station. Seine Stimmungslage konnte man glücklicherweise häufig seinen Gesichtszügen entnehmen. Ein ernster Gesichtsausdruck verhieß in aller Regel nichts Gutes, und man war gut beraten, während der Visite auf seine Anordnungen nicht zu viele fachliche Entgegnungen folgen zu lassen. Hingegen gab seine entspannte Miene an diesem Tag, als er die Station betrat, durchaus Anlass zur Hoffnung auf einen Durchgang ohne größeres Gemetzel. Mein Kollege und ich zwinkerten uns mit den Augen hinter seinem Rücken bereits vertraulich zu, wir hatten seine Mimik schließlich schon oft genug studieren dürfen. Tatsächlich sollten wir an diesem Tag eine ungewöhnlich friedliche und beinahe erholsame Chefarztvisite erleben. Die begleitende Stationsschwester hatte während der Visite keine Miene verzogen oder sich anderweitig etwas über die versteckte Patientin anmerken lassen.

Als wir die Patientin nach der Visite aus dem Badezimmer befreiten und sie zurück in ihr Zimmer schoben, ließ sie ihren Blick sofort prüfend durch den Raum schweifen. Mit dem geschulten Auge einer erfahrenen Hausfrau bemerkte sie natürlich blitzschnell die nach wie vor fehlende Grundreinigung ihres Zimmers. Während ihre Finger bereits entrüstet auf die sichtbaren Beweise der nach wie vor bestehenden Verunreinigungen deuteten und sich ihr Mund noch um Worte ringend gerade eben empört zu der entsprechenden Frage öffnen wollte, hatten wir ihr Zimmer bereits wieder fluchtartig im Eilschritt verlassen. Von draußen schnappten wir durch die hinter uns zugefallene Türe nur noch einige undeutliche Wortfetzen voller Proteste von ihr auf. Wir hatten die Visite ohne größere Blessuren überlebt und waren mit dem Ablauf genauso zufrieden wie unser Chefarzt.

Was ist nun aus den Hauptdarstellern dieses Schauspiels geworden?

Der Chefarzt hat nie von der versteckten Patientin erfahren, so glaubten wir damals jedenfalls. Einschränkend bleibt allerdings zu bedenken, dass gute Chefärzte für gewöhnlich ihre Augen und Ohren überall haben. Sollte er dennoch von unserer streng geheimen Handlung erfahren haben, so hatte er wenigstens einmal Gnade vor Recht walten lassen.

Die Stationsschwestern haben die Geschichte gleich einer Legende an nachfolgende Schwesterngenerationen weitergereicht.

Die Patientin hat sich sehr herzlich für die gut siebenwöchige Behandlung ihres Schlaganfalls bedankt.

Mein Kollege, das Schlitzohr, hat noch über ein Jahr an unserer Klinik gearbeitet, bevor er sich gemäß seiner Lebenseinstellung in eine ruhige Landarztpraxis im Bergischen Land zurückgezogen hat.

Und ich? Ich muss heute noch über diese unglaubliche Geschichte lachen.

Kurze Anmerkung zum Verständnis: Heutzutage dauert die Klinikbehandlung eines Schlaganfalls in einer Ausprägung wie bei unserer Patientin trotz einer sehr viel umfangreicheren Diagnostik nicht mehr sieben Wochen, sondern etwa zehn Tage.

Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes

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