Читать книгу Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes - Gerd Sodtke - Страница 6

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2 Sonnenblumenaugen

Nach erfolgtem Medizinstudium bekam ich meine erste Stelle als junger Assistenzarzt in einem mittelgroßen Krankenhaus mit 380 Betten auf einer internistischen Abteilung. Die Aufregung war groß, verfügte ich doch über gute theoretische Kenntnisse, aber kaum über praktische Erfahrung. Einerseits sagte ich mir, dass es jedem Anfänger in diesem Beruf gewiss ebenso erging. Andererseits konnte ich nun endlich erfahren, wozu dieses lange Studium gut war. Die dortigen Assistenzärzte freuten sich über die willkommene Verstärkung ihres Teams. Der Chefarzt war, wie man so schön sagt, von altem Schrot und Korn, streng, aber gerecht. Wenn es Probleme gab, hielt er seine Hand schützend über seine Assistenzärzte. Er wurde mein erster großer Lehrmeister.

Nach kurzen drei Wochen der Einarbeitung wurde entschieden, mich in der verbleibenden Woche des ersten Monats für drei Nachtdienste einzuteilen, zwei Wochentage und einen Samstag. Nachtdienst an einem Wochentag bedeutete damals: Tagdienst – anschließender Nachtdienst – Tagdienst am darauffolgenden Tag, also 32 Stunden Dauerdienst. Eine solche Regelung gibt es heute dank eines Arbeitsschutzgesetzes nicht mehr. Oftmals fand man nachts aber für zwei oder drei kurze Stunden einen, wenn auch etwas unruhigen Schlaf. Wem das Schicksal nicht gewogen war, der war aber auch die gesamte Nacht ununterbrochen auf den Beinen. Unaufhaltsame Müdigkeit innerhalb solcher Mammutdienste gab es nicht, denn dazu war der Adrenalinspiegel viel zu hoch. Man musste besonders nachts stets wachsam bleiben und völlig eigenverantwortlich handeln. Zu Hause, nach dem Dienstende, fiel dieses Gebäude aus Konzentration, Vorsicht und Fürsorge zum Wohl der Patienten wie ein Kartenhaus in sich zusammen, und es folgte ein tiefer, traumloser Schlaf.

Meine ersten Nachtdienste waren recht unruhig. Sie waren wie ein Sprung in kaltes Wasser nach der kurzen Einarbeitungszeit, und entsprechend groß war die Anspannung. Immerhin gab es aber noch den Chefarzt oder die Oberärztin im Rufbereitschaftsdienst für die Klärung schwieriger Fragen. Es kamen zahlreiche Notfallpatienten mit akuter Herzschwäche, entgleister Zuckerkrankheit, Bluthochdruck-Krise, allergischer Reaktion, akutem Asthmaanfall und viele andere mehr. Die ganze Wahrheit war: Je mehr Notfälle in diesen ersten Nachtdiensten kamen, umso schneller konnte man als junger Assistenzarzt auch klinische Erfahrungen sammeln. Zu meiner eigenen Beruhigung schleppte ich stets eine schwere Aktentasche voller Fachbücher zu den ersten Nachtdiensten mit in die Klinik, eine wertvolle Hilfe bei problematischen Krankheitsfällen. Die ersten nächtlichen Prüfungen hatte ich mit Bravour bestanden, es hatte keine Komplikationen gegeben. Immerhin befand ich mich ja noch in der Probezeit.

Dann aber kam dieser unvergessliche Nachtdienst an einem Sonntag. Am späten Nachmittag saß in der Notfallambulanz eine junge, schlanke Frau, vielleicht 22 Jahre alt, das Gesicht von pechschwarzen, schulterlangen Haaren eingerahmt. Sie klagte über etwas Druckgefühl im rechten Oberbauch und Fieber bis 39,5 Grad Celsius. Ihre Haut war trotz des grellen Lichts der Neonröhren in dem Ambulanzraum intensiv sonnengebräunt, sodass die starke Gelbsucht nicht sofort auffiel. Aber ein Blick in ihre dunkelbraunen, erschöpften, glasigen Augen genügte, sie waren dunkelgelb verfärbt. In späteren Jahren sollte ich lernen, den Blutwert Bilirubin, der die Gelbfärbung verursacht, recht genau nach der Augenfarbe einzuschätzen. Als ich ihre Augen noch betrachtete, dachte ich spontan an winzige Sonnenblumen, denn die Gelbsucht war sehr ausgeprägt.

Eine Gelbsucht kann nun im Wesentlichen zwei Ursachen haben: eine Gallenblasenerkrankung oder eine Leberkrankheit. Ich entschied mich für die Galle, zumal die Patientin beim Abtasten des Bauches mit einem leichten Druckschmerz im rechten Oberbauch reagiert hatte, und versorgte sie mit Infusionen, die ein fiebersenkendes Medikament und ein Antibiotikum enthielten. Zu jener Zeit gab es noch keine Diagnostik mit Ultraschall, mit der man die Gallenerkrankung problemlos hätte nachweisen oder ausschließen können. So weit war die medizinische Entwicklung damals noch nicht. Nebenbei hatte die Patientin mir auch mitgeteilt, dass sie erst vor wenigen Tagen von einer Afrikareise heimgekehrt sei. Andererseits war schon lange bekannt, dass selbst junge Frauen Probleme mit Gallensteinen bekommen können.

Vier Stunden später, es war bereits früher Abend geworden, erkundigte ich mich bei der Stationsschwester nach dem Befinden meiner jungen Patientin. Sie sagte: „Gut, sie schläft ganz ruhig.“ Das war ja sehr erfreulich, denn das Fieber war schließlich hoch genug gewesen, aber davon wollte ich mich selbst überzeugen. Als ich ihr Einzelzimmer betrat, regte sie sich nicht. Auch auf meine Frage nach ihrem Befinden rührte sie sich nicht, obwohl ich die Frage laut und vernehmlich gestellt hatte. Selbst als ich nach ihrem Handgelenk griff, um den Puls zu kontrollieren, bewegte sie sich nicht. Der Puls war erheblich beschleunigt und nur schwach tastbar. Sie war nicht mehr weckbar, sie reagierte auch kaum auf Schmerzreize, atmete aber relativ ruhig und regelmäßig, ihre Haut glühte. Die Kontrolle der Körpertemperatur ergab trotz des fiebersenkenden Medikaments einen Anstieg auf 40,8 Grad Celsius! Auch die Infusionskanüle schaute ich mir an, sie lag aber korrekt, sodass die Medikamente in ihre Vene gelangten. Ich tastete erneut ihren Bauch ab, wobei die Bauchdecke weich war und damit ohne Hinweis auf eine entzündliche Flüssigkeitsansammlung innerhalb der Bauchhöhle, etwa durch eine begleitende Bauchfellentzündung.

Nun läuteten in meinem Inneren sämtliche Alarmglocken. Wie konnte das denn überhaupt möglich sein? Dieser Krankheitsverlauf, insbesondere die völlige Wirkungslosigkeit der vor mehreren Stunden verabreichten Medikamente, sprachen gegen meine Verdachtsdiagnose. Im Gegenteil hatte sich der Zustand der Patientin sogar erheblich verschlechtert. Statt der erwarteten Fiebersenkung durch das vor Stunden injizierte Medikament war sogar ein deutlicher Fieberanstieg eingetreten! Wie konnte es sein, dass ein seit langen Jahren eingeführtes und bewährtes Medikament seine erwünschte Wirkung in diesem Fall nicht entfaltete? Aber dies war nicht das einzige Problem, denn eine weitere Schwierigkeit bestand nun in der Höhe des Fiebers: Einen weiteren Anstieg der Körpertemperatur, den ich nunmehr sehr wohl befürchten musste, würde selbst der Organismus dieser jungen Frau kaum überleben. Ich erhöhte zunächst die Tropfgeschwindigkeit der Infusion, um den fieberbedingten Verlust von Flüssigkeit über die Haut auszugleichen.

Darauf eilte ich rasch aus ihrem Zimmer, denn ich musste jetzt alle Möglichkeiten für das Versagen der bisherigen Therapie in Betracht ziehen. Zunächst suchte ich die Stationsschwester auf, um mich zu vergewissern, dass sie meine Anordnungen gewissenhaft umgesetzt hatte. Sie bestätigte aber, dass sie das fiebersenkende Medikament genau in der angeordneten Dosierung sofort verabreicht hätte. Also gut, damit war ein allerdings extrem seltener Fehler bei der Verabreichung von Medikamenten schon ausgeschlossen. Zur Fiebersenkung ordnete ich nun zusätzlich großflächige feuchte Hautwickel an. Daraufhin stellte ich meine bisherige Diagnose auf den Prüfstand, denn eine Gallenblasenentzündung mit diesem extremen Fieberverlauf gab es meines Wissens nicht, zumal ich keinen Hinweis auf eine begleitende Bauchfellentzündung gefunden hatte. Für mich mussten die einzelnen Mosaiksteine eines Krankheitsverlaufs immer zusammenpassen, und hier passte über­haupt nichts zusammen! Es half nichts, ich musste meine primäre Verdachtsdiagnose sofort revidie­ren, dies erforderte schon die medizinische Logik. Und manchmal gehört eben mehr Mut dazu, sei­ne Meinung zu ändern, als ihr treu zu bleiben.

Plötzlich erinnerte ich mich wieder an das Gespräch mit der Patientin bei der Aufnahme in der Ambulanz. Hatte sie nicht beiläufig eine Afrikareise erwähnt, als ich sie nach den Gründen für ihre sonnengebräunte Hautfarbe befragt hatte?

Meine Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit. Während des Studiums wurden Tropenkrankheiten nur in wenigen Vorlesungen abgehandelt, da sie in Mitteleuropa damals sehr selten auftraten. Und die Begeisterung von uns Studenten für solche exotischen Krankheiten hielt sich daher eher in engen Grenzen, wir lebten ja schließlich nicht in den Tropen. Ich hatte aber auf eigene Initiative in den Semesterferien eine dreimonatige Famulatur, ähnlich einem Praktikum, im Landesinneren von Kenia absolviert. Damals spielte ich noch mit dem Gedanken, nach Abschluss des Studiums im Entwicklungsdienst zu arbeiten. Da die angeschriebenen dortigen Krankenhäuser nicht auf meine Bewerbungen geantwortet hatten, hatte ich mich kurzerhand in ein Flugzeug gesetzt, war nach Nairobi geflogen und dort mit meinem schweren Rucksack in das Gesundheitsministerium von Kenia marschiert. Dort verwies man mich an einen deutschen Arzt an einem kleinen Krankenhaus im ostafrikanischen Hochland, der noch gar nichts von seinem Glück wusste, mich aber gerne aufnahm.

Auf einmal waren die Bilder wieder so präsent, als wäre ich erst gestern noch dort gewesen: das kleine Ambulatorium innerhalb des nur halbfertig errichteten kleinen Krankenhauses und die lange Schlange der davor wartenden Einheimischen, die in ihre bunten Tücher gehüllt geduldig in der heißen Mittagssonne im Innenhof der Anlage ausharrten. Die Frauen, geschmückt mit breiten Halsketten aus bunten Perlen und Armringen, trugen ihre kleinen Kinder auf dem Rücken oder wiegten sie in ihren Armen. Einige der durch ihre Krankheit geschwächten Patienten lagen im Schatten der Gebäude auf dem staubigen Erdboden, andere saßen oder standen im Innenhof des Klinikgeländes. Viele waren so geschwächt, dass sie nicht einmal mehr die Kraft aufbrachten, zahlreiche Fliegen aus ihrem Gesicht zu verscheuchen. Einige gingen fort und kamen am nächsten Tag wieder. Ihre einfachen Rundhütten aus Geäst und Stroh waren nicht weit entfernt. Die meisten gehörten zu den Volksstämmen der Samburu und Turkana, nur wenige zu den stolzen, hochgewachsenen Massai und Boran, die ihre Siedlungsgebiete weiter im Westen Richtung Tansania oder im Osten Richtung Somalia hatten. Weiter im Norden des Landes endete der Einfluss der modernen Medizin, dort herrschten die Medizinmänner und behandelten nach alter Tradition mit Naturheilmitteln. Damals hätte ich mir gewünscht, dass die Schulmediziner und die Naturheiler im Bestreben um das Wohl der Kranken zusammengefunden hätten.

Der Leiter des Ambulatoriums war ein sehr guter kenianischer Sanitäter, von hünenhafter Gestalt, der sein Handwerk verstand und der an jedem Tag dort präsent war. Trotz der großen Anzahl der wartenden Patienten war er kaum aus der Ruhe zu bringen. Mit seiner kräftigen Gestalt überragte er das übrige Pflegepersonal um Kopfesgröße und füllte den gesamten Türrahmen des kleinen Ambulatoriums aus. Zu den seltenen Gelegenheiten aufkeimender Unruhe innerhalb der wartenden Menschenmenge im Innenhof pflegte er nur schweigend in den Türrahmen zu treten, die Arme drohend auf die Hüften zu stemmen und einmal mit grimmiger Miene über die Wartenden zu blicken, und schon herrschte wieder Ruhe. Er war dort eine anerkannte Autorität.

Dieser Hüne zeigte mir die Blutausstriche der Patienten unter dem Mikroskop. Durch einfaches Mikroskopieren kann man einen akuten Malariaanfall feststellen, und sehr viele Patienten waren dort an Malaria (Sumpffieber) erkrankt. Medikamente gegen Malaria gab es dort allerdings nicht, und trotz mehrfacher verzweifelter Anforderung in der 500 Kilometer entfernten Hauptstadt Nairobi wurden auch keine geliefert. Selbst unsere mehr als zwölfstündige Fahrt im Landrover über sandige und staubige Buckelpisten zu dem verantwortlichen District Commissioner in Nairobi blieb ohne Erfolg. Solche und ähnliche enttäuschende Erfahrungen bedeuteten übrigens das Ende meiner Pläne als Entwicklungshelfer. Aber zurück in die mehr als bedrohliche Gegenwart!

Jedenfalls musste jetzt sofort gehandelt werden, andernfalls würde diese junge Frau in ihrem aktuellen Zustand nicht überleben, dessen war ich mir inzwischen sehr sicher. Ich rief in unserem Labor an, wo eine erfahrene Laborantin Wochenenddienst hatte. Ich erkundigte mich bei ihr nach dem Blutausstrich der Patientin, wobei ja ein Blutstropfen auf einem Objektträger, einer kleinen, rechteckigen Glasscheibe, ausgestrichen und gefärbt wird und dann mikroskopisch untersucht werden kann. „Keine Auffälligkeiten, die weißen Blutkörperchen sind normal“, antwortete sie. „Und die roten Blutkörperchen?“, wollte ich weiter wissen. „Ebenfalls nichts Besonderes“, erklärte sie. Ich bat sie, das Präparat unter dem Mikroskop liegen zu lassen, und eilte in das Labor.

Dort beugte ich mich sofort über das Mikroskop und stellte das Okular auf meine Sehschärfe ein. Ich hatte seit Langem nicht mehr mikroskopiert und musste mich erst einsehen. Geduld, Geduld! Dieses Mikroskop würde ich erst wieder verlassen, wenn ich mir ganz sicher war. Es war mir gleichgültig, wie lange es auch immer dauern mochte. Die Hauptsache war doch, dass ich den Grund für den dramatischen Fieberverlauf fand. Meine Erfahrungen am Mikroskop, damals im Hochland von Kenia, lagen inzwischen mehrere Jahre zurück. Ich verschob langsam den Objektträger unter dem Mikroskop. Mich interessierten ausschließlich die roten Blutkörperchen.

Der Infektionsweg der Malaria-Erreger führt nach dem Mückenstich über den Blutkreislauf in die Leberzellen, wo sie heranreifen, die Leberzellen platzen, die Erreger gelangen im Blut in die roten Blutkörperchen, wo dann eine weitere Vermehrung stattfindet. Und genau diesen roten Blutkörperchen galt nun mein ganzes Interesse. Ich sah zunächst keinerlei Auffälligkeiten. Darauf stellte ich eine höhere Vergrößerungsstufe am Mikroskop ein, musterte den Ausstrich erneut langsam durch, ohne auf verdächtige Einschlüsse in den roten Blutkörperchen zu stoßen. Damit gab ich mich immer noch nicht zufrieden, stellte noch einmal die nächsthöhere Vergrößerung ein und durchsuchte den Blutausstrich abermals. Und nun endlich fand ich, wonach ich so lange gesucht hatte: das erste rote Blutkörperchen mit einem winzigen, durch die Färbung blauen Pünktchen im Inneren, das dem Malaria-Erreger entspricht. Ich stellte daraufhin noch einmal die nächsthöhere Vergrößerungsstufe ein. Und was ich nun erkennen musste, übertraf meine schlimmsten Befürchtungen bei Weitem: Je länger ich das Präparat durchmusterte, desto mehr befallene rote Blutkörperchen konnte ich auch entdecken. Nun erkannte ich sogar die typischen kleinen Ringformen, die an die blauen Pünktchen angrenzten. Ich konnte das gesamte massive Ausmaß des Erregerbefalls der roten Blutkörperchen kaum glauben und starrte weiter wie gebannt in das Mikroskop. Selbst damals in Kenia hatte ich einen Befund in dieser Ausprägung nur selten zu Gesicht bekommen. Es war ein sehr schlimmer Befund, es gab keinen Zweifel mehr, nahezu jedes zweite rote Blutkörperchen war von Malaria-Erregern befallen. Diesmal war ich endlich auf der richtigen Spur.

Unserer Laborantin konnte ich übrigens keinen Vorwurf machen, denn die Vergrößerung am Mikroskop, mit der man die Malaria-Erreger in den roten Blutkörperchen erkennen kann, liegt mindestens um drei Stufen höher als diejenige, mit der man für gewöhnlich einen solchen Blutausstrich beurteilt.

In meinem Arztzimmer griff ich zum Telefonhörer und ließ mich mit dem Chefarzt verbinden, der an diesem Wochenende Hintergrunddienst hatte: „Es geht um eine junge Patientin mit einer massiven Malaria-Infektion“, sagte ich. „Wie bitte?“, fragte er ungläubig und mit erhobener Stimme, so als hätte er sich verhört. Ich erklärte ihm, dass sie in einem sehr schlechten Zustand sei. „Haben Sie Chinin-Tabletten?“, fragte er. „Haben wir“, bestätigte ich ihm. „Dann fangen Sie sofort mit der Therapie an“, schlug er vor. Ich erwiderte: „Das ist leider nicht möglich, Herr Chefarzt, die Patientin ist durch das hohe Fieber nicht mehr ansprechbar und kann daher nicht schlucken.“ Darauf folgte in der Telefonleitung eine längere nachdenkliche Pause. Dann sagte er: „Besorgen Sie Chinin-Infusionen!“ – Ich fragte sofort: „Woher?“ – Er antwortete: „Das soll die Leiterin der Krankenhausapotheke übernehmen“.

Ich kannte sie bereits. Sie war eine äußerst kompetente, engagierte, kleine Person, immer kooperativ und ausnehmend freundlich. Ich erreichte sie glücklicherweise telefonisch und teilte ihr den dringenden Auftrag mit. Inzwischen war bereits lange die Nacht hereingebrochen. Daher hörte ich zunächst einmal die obligatorische Frage: „Hat das nicht Zeit bis morgen?“ Ich erklärte ihr sehr direkt, dass ernsthaft zu befürchten wäre, dass diese Patientin ohne eine sofortige Therapie den Sonnenaufgang nicht mehr erleben würde. Und diese meine Worte meinte ich genau so, wie ich sie gesagt hatte, sie entsprachen vollkommen meiner Einschätzung des Krankheitsstadiums der Patientin. „Ich tue, was ich kann!“ Und schon hatte sie den Hörer aufgelegt. Sie hatte sehr gut verstanden, dass mir die Zeit unter den Fingernägeln brannte.

Mich hielt nichts mehr in meinem Arztzimmer, in dem ich die Telefonate mit dem Chefarzt und der Apothekerin geführt hatte. Ich konnte dort unmöglich tatenlos herumsitzen, ungeduldig mit den Fingerspitzen auf den Schreibtisch trommeln, Bleistifte in Reih und Glied ausrichten, irgendwelche Akten ordentlich aufeinanderstapeln oder die weiß getünchten Wände anstarren. Ich musste heraus aus diesem beengten Raum und ging zu der Patientin, bei der die Nachtschwester kurzfristig die Temperatur kontrollierte und fortlaufend die kühlenden Beinwickel erneuerte. Diese Hautwickel schienen beinah effektiver zu sein als das fiebersenkende Medikament, denn das Fieber war tatsächlich leicht gefallen. Das Warten an sich war ja nicht das eigentliche Problem, denn dafür konnte ich für gewöhnlich die notwendige Geduld aufbringen. Aber dieses völlig untätige Warten im Wissen um die Dringlichkeit eines sofortigen, wahrscheinlich lebensrettenden Therapiebeginns war mir nahezu unerträglich. Die Wartezeit kam mir unendlich lange vor, sodass schon bald erste Befürchtungen Gestalt annahmen, dass die Chinin-Infusionen zu spät geliefert werden könnten, oder genauso schlimm, dass sie überhaupt nicht verfügbar wären. Ruhelos pendelte ich zwischen dem Patientenzimmer und dem Stationsflur hin und her, schaute immer wieder aus dem Flurfenster auf den kleinen Parkplatz vor dem Haupteingang der Klinik, so als könnte ich alleine dadurch die Ankunft des dringend benötigten Medikaments beschleunigen. Der Parkplatz blieb leer. Nun hatte ich endlich mit eigenen Augen am Mikroskop die richtige Diagnose gestellt, doch es fehlte das wirksame Medikament in der geeigneten Form zur Behandlung. Mich überfiel erneut dieses lähmende Gefühl der eigenen Ohnmacht und Hilflosigkeit, das mir seit meiner damaligen Zeit im ostafrikanischen Hochland leider nur allzu vertraut war.

Nach etwa zwei oder drei Stunden, inzwischen war es 2:00 Uhr morgens geworden, kam mir die Apothekerin freudestrahlend und im Eilschritt mit einem großen Karton voller Chinin-Infusionen in den Armen auf dem langen Stationsflur entgegen. Sie machte dabei, noch etwas außer Atem, keineswegs den Eindruck, als hätte sie sich unnötig viel Zeit gelassen. Es war vermutlich gar nicht so einfach gewesen, die Infusionen zu besorgen. Während der unendlich erscheinenden Wartezeit waren mir bereits Zweifel gekommen, ob sie überhaupt welche finden würde, sie waren unsere allerletzte Chance. Wie sie kurz berichtete, hatte sie die Medikamente schließlich persönlich aus dem Notfalldepot der Universitätsklinik Düsseldorf abgeholt. Endlich, es hatte mir natürlich viel zu lange gedauert, ich hatte wirklich um das Leben der jungen Patientin gefürchtet. Ich atmete erleichtert tief durch, vielleicht war es noch nicht zu spät. Ich hatte dem Bericht der Apothekerin nur mit halbem Ohr zugehört, nahm die lebensrettenden Medikamente eilig entgegen, bedankte mich hastig für ihren Einsatz und lief mit dem Karton auf die Station.

Eine Minute später tröpfelte die erste Chinin-Infusion in eine Unterarmvene der Patientin. Diese 22-jährige Frau, deren junges Leben noch kaum begonnen hatte, durfte auf gar keinen Fall versterben, und in meinem Nachtdienst schon einmal gar nicht, dies hätte ich mir niemals verzeihen können. Selbstverständlich verbrachte ich eine schlaflose Nacht und schaute stündlich nach ihr. Sehr langsam gewann ich bei meinen Kontrollbesuchen den Eindruck, dass sich ihr Zustand etwas stabilisierte.

Am nächsten Morgen nahm ich sofort Kontakt mit dem Tropeninstitut der Uniklinik Düsseldorf auf, ich wollte eine fachliche Bestätigung der Diagnose und schilderte dem Kollegen ausführlich den dramatischen Krankheitsverlauf. Ich erwähnte auch, dass die Leberwerte der Patientin exorbitant erhöht waren, ein Befund, der wie übrigens auch die starke Gelbsucht auf gar keinen Fall mit der Malaria-Infektion zu vereinbaren war. Wir schickten per Eilboten sofort mehrere Blutröhrchen und Blutausstriche in die Tropenmedizin.

Am Nachmittag des gleichen Tages wurde ich vom Krankenhauspförtner angefunkt, er habe ein Gespräch für mich in der Leitung, der Teilnehmer müsse mich dringend sprechen. Der Pförtner stellte die Verbindung zu dem Kollegen aus der Tropenmedizin her. Seine erste Frage an mich lautete: „Sagen Sie mal, Herr Kollege, lebt denn ihre Patientin überhaupt noch?“ Ich war mehr als verwundert über diese Frage, denn ich konnte ihm erleichtert mitteilen, dass sich ihr Zustand inzwischen wesentlich gebessert hatte. Sie war seit dem späten Vormittag wieder ansprechbar und bei Bewusstsein, und das hohe Fieber war deutlich gefallen. Daraufhin sagte er: „Kompliment, Herr Kollege, solch einen massiven Malaria-Befall habe ich noch selten gesehen!“ Seine Worte waren deswegen so bemerkenswert, weil sie aus dem Mund eines Tropenmediziners kamen, der tagtäglich mit derart exotischen Erkrankungen konfrontiert ist. Er hatte ernsthaft befürchtet, dass die Patientin aufgrund des hohen Erregerbefalls nicht überlebt hatte. Dann teilte er mir endlich seine Untersuchungsergebnisse mit: Unsere Patientin hatte nicht nur die gefährlichste Malariaform, nämlich die Malaria tropica, sondern auch akute Infektionen mit den beiden anderen Malaria-Erregern, also Malaria tertiana und Malaria quartana. Seine Untersuchungen wegen der hohen Leberwerte benötigten hingegen noch ihre Zeit.

Obwohl das Fieber weiterhin rückläufig war, erholte sich die junge Frau aber nur auffallend zögerlich, die Leberwerte blieben sehr hoch. Sie benötigte weiterhin Infusionen, nur war an den Armen dieses zierlichen Persönchens keine Vene mehr für eine Infusionskanüle zu finden. So legte ich ihr unter lokaler Betäubung einen zentralen Venenkatheter in die große Vene unterhalb des Schlüsselbeins. Diese Punktionstechnik beherrschte ich sicher, obwohl die Punktion nicht ganz ohne Risiko ist. Es besteht dabei die Gefahr einer Verletzung der Lungenspitze, was sofort zu einem Kollaps der Lunge mit entsprechender Atemnot geführt hätte. Die Venenpunktion gelang auf Anhieb, sodass sich der Venenkatheter etwa 20 Zentimeter tief in der großen Vene bis vor das Herz vorschieben ließ. Ein solcher Venenkatheter kann sehr viel länger liegen bleiben als eine kleine Infusionskanüle in einer Unterarmvene, die sich sehr viel schneller entzünden kann.

Eine Woche später erhielt ich den nächsten Anruf aus der Tropenmedizin: Unsere Patientin hatte zusätzlich auch eine akute Leberinfektion durch das Hepatitis-A-Virus sowie eine akute Infektion durch das Ebstein-Barr-Virus, den Erreger des Pfeifferschen Drüsenfiebers, bei dem ebenfalls eine begleitende Leberentzündung auftreten kann. Damit hatten wir nun endlich hinreichende Erklärungen für die hohen Leberwerte, und auch für die starke Gelbsucht, und letztendlich für den folgenden langwierigen Krankheitsverlauf. Die gesamte Wahrheit bedeutete also, dass diese junge Frau durch sage und schreibe fünf unterschiedliche Erreger infiziert worden war, womit ihr schlechter Allgemeinzustand nachvollziehbar wurde. Ein Hinweis auf weitere Tropenkrankheiten, zum Beispiel Gelbfieber, hatte sich hingegen nicht mehr ergeben.

Sie hatte mir bei den täglichen Visiten inzwischen erzählt, dass sie seit einem Jahr kreuz und quer durch Afrika gereist war und ihre Zelte in Deutschland vollständig abgebrochen hatte. Sie war eine Aussteigerin. Den Grund für ihren Exodus ausgerechnet nach Afrika, der für damalige Zeiten höchst ungewöhnlich war, wollte sie mir nicht verraten. Medikamente zur Vorbeugung gegen die Infektionen hatte sie in den letzten Monaten ihrer Reise nicht mehr eingenommen. Damit hatte sie ihr Leben leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Und von der Krankenhausverwaltung erfuhr ich, dass sie seit einem Jahr nicht mehr krankenversichert war. Sie hatte also zunächst eine fünfwöchige Gratisbehandlung bei uns erhalten, deren Kosten später das Sozialamt übernehmen würde. Der Versicherungsstatus interessierte mich allerdings weniger, mein ganzes Bestreben galt ausschließlich der Genesung der Patientin.

Eines Tages betrat ich zu der täglichen Visite ihr Zimmer, das sie wegen der ansteckenden Leberentzündung durch das Hepatitis-A-Virus alleine belegte. Das Bett war zerwühlt und leer, und der mühevoll gelegte, zentrale Venenkatheter baumelte traurig am Infusionsständer. Die Infusion tröpfelte sehr langsam auf den Boden, wo sich bereits eine breitere Pfütze gebildet hatte, in der jeder neue Tropfen mit steter Regelmäßigkeit ein leises, plätscherndes Geräusch verursachte, gefolgt von einem kleinen Spritzernebel. Nach der Größe dieser Pfütze und der Tropfgeschwindigkeit zu urteilen, war die Patientin bereits seit etwa zwei Stunden fort. Der Kleiderschrank und der Nachtschrank waren so leer, als hätte sie nie in diesem Zimmer gelegen. Sie hatte das Krankenhaus lautlos verlassen, ohne sich zu verabschieden, ohne ein Wort des Dankes, so geräuschlos wie eine Sternschnuppe, die an einem wolkenlosen Nachthimmel verglüht. Niemand von dem Pflegepersonal hatte ihr Verschwinden bemerkt. Ich stand vollkommen fassungslos vor dem Fußende ihres leeren Bettes. Ich wollte einfach nicht wahrhaben, was ich hier sah. Schließlich hatte ihr junges Leben an jenem Wochenende, als sie unser Krankenhaus aufsuchte, an einem sehr dünnen seidenen Faden gehangen. Ich hatte um ihr Leben gebangt und voller Sorgen um sie eine schlaflose Nacht verbracht. Ohne die noch in jener Nacht eingeleitete Therapie hätte sie sicherlich nicht überlebt.

So aber blieb mir nur noch eines zu tun: Ich verständigte den Hausarzt, denn weitere Kontrollen der sinkenden, aber noch erhöhten Leberwerte waren erforderlich, während die Gelbsucht in ihren Sonnenblumenaugen gut rückläufig war.

Ich bin mir im Nachhinein nicht so sicher, ob es mir als jungem Assistenzarzt damals gelungen war, dieser Patientin den Ernst ihrer Erkrankungen hinreichend zu erklären. An meinen Begründungen der langen Behandlungsdauer während der täglichen Visiten hatte es gewiss nicht gemangelt. Aber meine wohlgemeinten Worte hatten offenbar nicht das notwendige Gehör gefunden, denn bereits seit mehreren Tagen hatte die Patientin mit einer ungewöhnlichen Hartnäckigkeit, vielleicht auch mit einer Spur von Aufsässigkeit, auf eine vorzeitige Entlassung gedrängt. Ihr Drang hinaus aus dem Krankenhaus entgegen meinen Empfehlungen hatte eigentlich schon nach zwei Wochen begonnen, nachdem sie dauerhaft entfiebert war, ohne dass ich in Erfahrung bringen konnte, was genau sie dazu antrieb. Sie schien ganz von einer starken inneren Unruhe erfasst, die größer war als der Wert einer vollständigen Genesung.

Malaria tropica wird durch die Weibchen der Anophelesmücke übertragen. Dreißig Prozent dieser Infektion enden unbehandelt und ohne medikamentöse Prophylaxe tödlich oder mit bleibenden Organschäden. Ich hatte seinerzeit das Glück, dass die Chinin-Therapie wirksam war. In späteren Jahren bildeten die Malaria-Erreger unterschiedliche Resistenzen aus, sodass selbst neuere Medikamente nicht immer wirksam sind. Ein weiterer Glücksfall bestand auch darin, dass die durch das Hepatitis-A-Virus geschädigte Leber die Malaria-Therapie mit den Chinin-Infusionen überhaupt überstanden hatte.

Die Malaria-Diagnose war zu damaliger Zeit in Deutschland noch sehr selten, und ganz besonders in Verbindung mit der akuten Infektion durch das Hepatitis-A.Virus. In späteren Jahren sollte ich noch mehrere akute Malaria-Infektionen entdecken und erfolgreich behandeln. So konnte ich doch noch auf die Erfahrungen im ostafrikanischen Hochland während des Studiums zurückgreifen.

Erst einige Wochen nach diesen Geschehnissen Anfang der 1980er-Jahre erschienen im Deutschen Ärzteblatt erste Berichte, in denen auf die mögliche Häufung von Malariaerkrankungen in Mitteleuropa, bedingt durch den zunehmenden Fernreisetourismus, hingewiesen wurde. Prinzipiell würde der Stich durch eine infizierte Anophelesmücke im Flugzeug während der Heimreise aus einem tropischen Land ausreichen.

Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes

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