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Dorothea Christiane Erxleben
Оглавление»Gelehrsamkeit trägt sehr vieles bei zu der Menschen Glückseligkeit«
Der wichtigste Mann im Leben der Dorothea Christiane Leporin ist ihr Vater. Er bringt ihre Schrift mit dem doch etwas sperrigen Titel Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studiren abhalten, darin deren Unerheblichkeit gezeiget, und wie möglich, nöthig und nützlich es sey, daß dieses Geschlecht der Gelahrheit sich befleisse im Winter des Jahres 1741 in die Druckerei des Johannes Andreas Rüdiger in der preußischen Hauptstadt Berlin. Vater Polycarpi Leporin setzt dem Pamphlet seiner Tochter eine Vorrede hinzu, die der Interpellation mehr Gewicht geben soll. Das gedruckte Heftchen wird zu einem Manifest für das Recht aller Frauen auf Bildung und universitäre Ausbildung: »Die Verachtung der Gelehrsamkeit zeigt sich besonders darin, dass das weibliche Geschlecht vom Studieren abgehalten wird.«
Und unter Paragraf 83 ihrer Streitschrift schreibt Erxleben: »Meine Absicht ist nicht, dem weiblichen Geschlecht ein ungebührliches Lob zu bereiten, noch mein eigen Geschlecht zu verachten, aber sagen: du bist klug und weise, weil du ein Mann bist, aber kannst keinen großen Verstand haben, dieweil du eine Frau bist, solches halte ich für das einfältigste Urteil unter allen.«
Dorothea selbst ist über die Drucklegung ihres Plädoyers für das weibliche Recht zum Studieren – und gegen die »blinden Vorurteile« – nicht besonders glücklich. Sie fürchtet weitere Anfeindungen. Denn die Tochter des Arztes Christian Polycarpi Leporin aus der mittelalterlichen Kleinstadt Quedlinburg behandelt schon seit Jahren Patienten in der Praxis ihres Vaters, durchaus zur Zufriedenheit der Erkrankten. Stadtphysikus Dr. Christian Leporin hat seine Tochter schon als junges Mädchen in die Geheimnisse der Heilkunst eingewiesen. Sie geht bei ihm in eine Art Lehrpraxis. Christian Leporin ist ein praktischer Arzt im Wortsinn und veröffentlicht selbst medizinische Artikel, in denen er die Theorielastigkeit des Medizinstudiums kritisiert. Im 17. und 18. Jahrhundert ist es eine Selbstverständlichkeit, die »wissenschaftliche« Lehre an den medizinischen Fakultäten strikt vom praktischen Umgang mit den Patienten zu trennen. Christian Leporin hingegen hält die Verbindung von Lehre und Praxis am Krankenbett für notwendig. Eine Selbstverständlichkeit, die durchaus revolutionär ist.
Der Vater nimmt die Tochter zu Patienten mit, lässt sie in einschlägigen Heilbüchern lesen, bringt ihr das damalige Wissen der Naturwissenschaften bei. Das junge Mädchen wird perfekt auf die Fortführung der ärztlichen Familientradition vorbereitet, aber ein Studium an einer Universität ist Frauen im preußischen Königreich wie auch in allen anderen europäischen Fürstentümern per se versperrt. Sie darf keine offizielle Approbation ablegen.
Christian Leporin mag die ungleiche Behandlung seiner Tochter nicht verstehen. Der Stadtphysikus von Quedlinburg schreibt an den preußischen König Friedrich II., der noch lange nicht der »alte Fritz«, sondern ein gerade erst zum König in Preußen gekürter jugendlicher Herrscher von gerade einmal 29 Jahren ist. Der in bescheidener Selbstdefinition »erste Diener des Staates« beginnt im Stil des aufgeklärten Absolutismus das ehemalige Kurfürstentum zu einem modernen Staat umzubauen. Gesellschaftliche Reformen sollen die Reste des geistigen Mittelalters überwinden. Der junge König schafft nicht nur die Folter als Mittel zur Erzwingung von Geständnissen ab. Er forciert den Ausbau des Bildungssystems.
Der Brief des Arztes aus Quedlinburg bietet dem König eine Möglichkeit, wider die Konvention zu entscheiden. Er erteilt eine Ausnahmegenehmigung. Die damals 26-jährige Dorothea Leporin möge von der Universität Halle zur Promotion zugelassen werden, dekretiert der Preußenkönig. Doch die Ärztin ohne Diplom bereitet sich auf andere Aufgaben vor. Sie soll den verwitweten Diakon Johann Christian Erxleben ehelichen. Der Mann bringt fünf Kinder in die Ehe mit. Die Arbeit bei ihrem Vater und die Rolle als Hausfrau und neunfache (!) Mutter – sie wird vier eigene Kinder auf die Welt bringen – lassen kaum Zeit für wissenschaftliche Weiterbildung. Mehr als alle akademische Heilkunst lernt die Tochter in der Alltagspraxis und in der Arbeit für ihre Patienten. Der Vater bildet so seine Tochter zu einer durchaus geschätzten Ärztin aus. Er lässt sich von ihr häufig in der Ordination vertreten.