Читать книгу Mutiger, klüger, verrückter - Gerhard Jelinek - Страница 5
Vorwort
ОглавлениеSie waren außergewöhnlich. Sie waren erstaunlich mutig. Sie waren klug, und sie waren gelegentlich auch ein wenig verrückt, aber nie dumm. Sie haben die Welt verändert. Sie haben Geschichte geschrieben. Ihr Bild wurde von der Nachwelt gemalt, verschleiert, verzerrt und gelegentlich vergöttlicht. In diesem Buch werden mehr als zwei Dutzend Porträts von Frauen gezeichnet, in denen sich Geschichte spiegelt.
Aus diesen Geschichten sind die Männer, die sie behinderten, die Männer, die sie unterstützten, sie förderten, sie liebten – bis in den Wahnsinn –, nicht wegzudenken.
Am Anfang waren ein Mann und eine Frau. Sie hieß Lilith, nicht Eva. Und sie war ein Vorbild oder ein Schreckgespenst für viele Frauen im Lauf der Menschheitsgeschichte. Lilith – jedenfalls die Figur, die in den diversen Überlieferungen der Jahrtausende geschaffen wurde – war selbstbewusst, selbstbestimmt, mutig, ein Geschöpf Gottes und auch ein bisschen verrückt. Mit ihr beginnt alles. Und alles, was man von ihr weiß, ist eine Erfindung der vergangenen Jahrhunderte. In Lilith wurde – meist von Männern – ein Frauenbild projiziert, das je nach Zeitgeist und Auslegung selten als Vorbild, öfter als Warnung dienen sollte. Gott schuf den Menschen als Mann und als Frau. Ein Geschöpf in zwei Ausformungen. Und er erkannte, es war gut.
Von den Anfängen der Zeit bis heute haben sich Frauen auf so verschiedenen Gebieten wie Politik, Kunst, Literatur oder Wissenschaft erfolgreich behauptet. Dabei mussten sie in den vorwiegend patriarchalisch geprägten Gesellschaften stärker, klüger und erfinderischer als Männer sein, um sich gegen Benachteiligung und Konventionen durchzusetzen – und sie bezahlten nicht selten einen hohen Preis: Die Jüngerin Maria Magdalena wird über Jahrhunderte von der biblischen Begleiterin des Rabbi Jesus zur Sünderin stilisiert, Mythen, Kunst und Überlieferung verdichten mehrere Frauenschicksale zu einer Person. Im Neuen Testament bezeugt sie als Erste und Einzige die Auferstehung »ihres Meisters«. Die anderen Apostel erfahren aus ihrem Mund das Wunder. Sie war mutiger und wagte sich ans Grab des Gekreuzigten, die Männer blieben im Versteck.
Mythen machen Geschichte. Vieles, was als historische Tatsache berichtet wird, erweist sich sehr oft als literarische Erfindung, mehr noch als Mittel der politischen Propaganda im Machtkampf der Zeiten. Geschichte wird geschrieben, die Überlieferung ist Mittel zum politischen Zweck. Die »ägyptische« Königin Kleopatra ist weder Ägypterin noch bloß Geliebte. Sie spielt über Jahrzehnte eine zentrale Rolle im Kampf um die Herrschaft über die Reste des hellenistischen Erbes. Zweimal benützt sie, zweimal lässt sie sich benützen, um ihre Stellung zu festigen. An der Seite der mächtigsten Römer, Julius Cäsar und später Marcus Antonius, verfolgt sie eine wagemutige Strategie, lange ist sie damit erfolgreich, schließlich zahlt sie mit ihrem Leben den Preis der Macht.
Selbstbestimmung und Gleichberechtigung sind kein Verdienst der jüngeren Vergangenheit. Frauen haben sich in all den Jahrtausenden, die wir heute einigermaßen überblicken können, Einfluss erkämpft. Die keltische Stammeskönigin Boudicca führt Hunderttausende Krieger in Schlachten gegen römische Legionen auf der britischen Insel. Mutig, aufrührerisch, vermeintlich im Kampf für ihre weibliche Ehre, aber schließlich wird ihr Heereshaufen besiegt, ihr Volk versklavt.
Olympe de Gouges nimmt im revolutionären Paris des ausgehenden 18. Jahrhunderts die vollmundigen Erklärungen der Jakobiner ernst. Die hehren Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit gelten nur für Männer, obwohl auch Frauen auf den Barrikaden kämpfen. Sie fordert das Selbstverständliche: Menschenrechte müssen auch für Frauen gelten. Olympe de Gouges fordert mutig und ein wenig naiv-verrückt von den revolutionären Machtpolitikern Gerechtigkeit auch für Königin Marie-Antoinette. Und sie wird ihren Kopf unter der Guillotine verlieren, wie die Königin. Gleichberechtigt im Tod.
Das »Freudenmädchen« (in Wahrheit eine gewaltsam zur Prostitution gezwungene Frau) Ching Shih beherrscht für ein Jahrzehnt mit einer Piratenflotte von Tausenden Dschunken das Südchinesische Meer. Die Freibeuterin führt strenge Regeln zur Disziplinierung der Piraten ein und setzt sie blutig durch. Selbst drakonische Gebote sind ein zivilisatorischer Fortschritt gegenüber rechtloser Willkür.
Die englische Aristokratin Jane Elizabeth Digby wird zur ungekrönten Königin von Damaskus, nachdem sie einen um Jahrzehnte jüngeren Beduinen-Scheich ehelicht. Auf ihrem Lebensweg durch die Jahrzehnte bis in den arabischen Orient wird die Lady von einem indischen Vizekönig, einem k. u. k. Ministerpräsidenten, einem bayerischen Freiherrn, Bayerns König Ludwig II., einem griechischen General, Dichtern und Poeten begleitet.
Mehr zur Weiterentwicklung der Menschheit hat sicherlich die in Wien geborene Forscherin Lise Meitner beigetragen, die die Geheimnisse der Atomspaltung theoretisch erklärt. Wir wundern uns, warum nicht sie, sondern ihr wissenschaftlicher Begleiter Otto Hahn dafür mit dem Nobelpreis geehrt wurde. Augusta Ada King Countess of Lovelace kann als erste Programmiererin der Geschichte gesehen werden. Dorothea Christiane Erxleben darf als erste Frau 100 Jahre vor anderen Geschlechtsgenossinnen zum Doktor der Medizin promovieren, weil es der preußische König Friedrich anordnet. Sophie Blanchard steigt in ihrem Ballon Dutzende Male vor Hunderttausenden in die Lüfte, überquert allein die Westalpen und stürzt über den Straßen von Paris zu Tode. Die amerikanische Redakteurin Nellie Bly erfindet den »investigativen« Journalismus und gewinnt im Auftrag des Verlegers Joseph Pulitzer ein Wettrennen um die Erde auf den fiktiven Spuren von Jules Verne. Während des Ersten Weltkrieges berichtet die Amerikanerin vom Krieg der Habsburger-Armee in Galizien. Da ist die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner schon drei Jahre tot, ihre Prophezeiungen sind wahr geworden, ihr Lebenstraum versinkt in Blut.
Mutiger, klüger, verrückter. Zwei Dutzend Frauen haben Geschichte gemacht, erlebt, erlitten, durch Jahrhunderte, durch Jahrtausende. Jede Auswahl muss – nota bene – eine sehr subjektive sein (und hätte auch ganz anders getroffen werden können). Und einige Frauenporträts sind schon für eine (allfällige) Fortsetzung geschrieben. Jedes Frauenschicksal steht für sich und für unzählige (und ungezählte) andere Schicksale, Epochen und Gesellschaften. Ihre Geschichten werden – mehr oder minder – chronologisch erzählt. Das letzte Kapitel ist dem Kampf einer amerikanischen Näherin gewidmet, die sich weigert, ihren Sitzplatz in einem städtischen Bus in der amerikanischen Südstaaten-Stadt Montgomery einem Weißen zu überlassen. Rosa Parks wird so zum Symbol des Kampfes gegen den Rassismus. Ihr Satz »Wir haben noch einen langen Weg zu gehen« ist anno 2020 bedrückend aktuell.