Читать книгу Scirocco - Gerhard Michael Artmann - Страница 10
Bitte warten
ОглавлениеWarum will er nicht singen?
wir haben es ihm gesagt
wir haben es ihn gelehrt
sogar haben wir ihm vorgesungen
Alles, worauf er hoffte, würde sich hinter jener Tür vollziehen, an der ein Schild hing: »Bitte warten. Sie werden einzeln aufgerufen!« Daran glaubte auch er und nahm Platz in dem geräumigen Vorzimmer. Viele andere warteten mit ihm, auf das große Glück, auf ein besseres Leben, dass sie es einmal leichter haben würden, dass es ihren Kindern später besser ging. Diese Gemeinschaft, in der alle nur ein Ziel hatten, hinter jene Tür zu gelangen, bestärkte ihn darin zu bleiben, weil nicht falsch sein konnte, was alle taten. Geduldig abzuwarten galt als sichere Methode, in den Genuss dessen zu kommen, was man erhoffte.
Wenn wieder ein Glücklicher eintreten durfte, blickten alle auf. Wieder einer hat es geschafft! Es hat sich gelohnt! Seht ihr, ihr Zweifler da draußen hinter dem Fenster, schon wieder einer ist drin! Jeder Eintretende wurde als Bestätigung verbucht für die Richtigkeit ihrer Annahme, denn es gab nichts, außer den losen Worten derer von draußen, was dagegen sprach. Niemals kehrte jemand zurück. Und so träumten sie, wie glücklich sie sein würden, wie gut sich ihr Leben gestalten würde, wie leicht sie es einmal haben würden, wie ihre Kinder unbeschwert würden spielen können. Das wurde geträumt auf diesen Stühlen im unterkühlten, ja, kalten, aber hoffnungsvollen Vorraum.
In Momenten, in denen Wartende Schlag auf Schlag aufgerufen wurden, stieg ihre Stimmung ungemein und weitete sich zu Arroganz und Hochmut gegenüber denen draußen hinter dem Fenster aus. Wenn aber ewige Minuten lang nichts geschah und die Erfüllung verheißende Tür verschlossen blieb, schlich sich Unsicherheit ein, und Depression. Sie zogen wie ein frostiger Wind über die Gestalten auf den Stühlen und machten sie zittern und verunsicherten sie. Ja, auch misstrauisch, ob nicht der Nachbar schon heimlich aufgegeben hatte. Jeder Blick eines Wartenden nach dem Fenster wurde als Versuch eines Verrats gewertet.
Auch er war nicht frei davon und litt und hoffte und zweifelte mit ihnen. Bald würde er an der Reihe sein. Nur noch einer kam vor ihm. Ein älterer Mann in Arbeitskleidung. Durch den Lautsprecher erklang dessen Name. Der Alte erhob sich und ging langsam zur Tür. Sich noch einmal umdrehend, blickte er in Gesichter, die ihm erwartungsvoll und freundlich Mut machten und die sagten, ja flehten: »Geh schon, es ist endlich soweit.« Die Tür ging schließlich auf und schloss sich, begleitet von auflebendem und wieder abklingendem Gemurmel. Der nächste Aufruf galt ihm. Er spürte weiche Knie und war nervös, ja, zugegeben, auch unsicher und verängstigt darüber, was ihn erwartete. Andererseits, worauf er gewartet hatte, war greifbar nahe. Diese Tür dort musste er nur noch passieren, dann hatte es sich auch für ihn gelohnt! Sie war nun allein für ihn geöffnet, Entschädigung dafür, dass er diese lange, harte Zeit ausgehalten hatte. Er schüttelte unwillkürlich den Kopf. Alles würde vergessen sein in wenigen Augenblicken.
Er öffnete sie und trat ein. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Der Raum, den er betrat, ähnelte dem, den er soeben verlassen hatte. Auch hier gab es Stühle. Und auch auf ihnen saßen Menschen. Deren Gesichter kamen ihm bekannt vor. Einige standen nervös im Raum und schauten dorthin, wo sich zwei Sanitäter zu schaffen machten. Sie betteten einen Mann auf eine Bahre. Es war der Alte, der vor ihm eingetreten war. Nach kurzem Erschrecken drängte er sich an den im Raum stehenden Wartenden vorbei und schob sich geschickt um die Sanitäter herum. So gelangte er zur gegenüberliegenden Seite des Raumes zu einer weiteren verschlossenen Tür. Daran hing ein Schild: »Bitte warten. Sie werden einzeln aufgerufen.«