Читать книгу Scirocco - Gerhard Michael Artmann - Страница 9
Zwei im Boot
ОглавлениеSo stehen wir heute da: helden
des einundzwanzigsten jahrhunderts
deppen hinter sonnenbrillen und kappen
der blick gen unendlich gebrochen in plaste
»Wann hörst du endlich auf zu rudern? Das nützt doch nichts.« Ich habe ihn das schon mehrfach gefragt, und er hat nicht ein Mal geantwortet. Ich fragte ihn dann nicht mehr. Wenn er mit mir reden würde, könnte ich ihm sagen, warum ich zu dem Entschluss gekommen bin, aber wir redeten nicht miteinander. Andererseits, warum auch? Reden hätte auch nichts gebracht. Vor dem Aufbruch von unserer Insel hatten wir gelegentlich noch miteinander gesprochen. Manchmal gab es sogar Gespräche. Wir malten uns dann aus, wie süß die Freiheit sein würde, was wir essen und trinken würden, und dann die Frauen, wenn wir einmal von hier weg sein würden. Reden hatte natürlich keinen Sinn, aber das Aussprechen von etwas, genau gesagt, unsere gesprochene Erinnerung an Erlebtes, gäbe uns Hoffnung. Dort draußen hinter dem Horizont, das wussten wir doch, gab es eine Freiheit. Wir sehnten sie auf eine Art herbei, wie es sich vermutlich kein Mensch, der in Freiheit lebt, vorstellen kann. Freiheit ersehnen, wie wir es taten, können nur Menschen, die von der Welt ausgeschlossen waren wie wir.
Wir wussten nicht, warum und wie es geschehen war. Wir wussten nur, dass es so war, und das war furchtbar real. Das Letzte, an das ich mich im früheren Leben erinnere, war eine Frau auf meinem Schoß mit einem Glas Champagner in der Hand, die Flasche zu dreihundertfünfzig Dollar. Hier auf diesem sandigen Eiland fand ich mich wieder. Sie hatten mich auf den Strand geworfen und gesagt, dass ich von nun an frei sei. »Frei wie Robinson, schauen Sie doch, ist das nicht fabelhaft, die Sonne, das Meer, die Fische, alles da, um Sie glücklich zu machen, alles wie auf einer Postkarte.« Dann verschwanden sie und ließen mich zurück. Später traf ich ihn an. Auch er war ausgesetzt und mit den gleichen Worten zurückgelassen worden. Wir waren beide ratlos und fragten uns immer wieder, was geschehen war.
Auf dem kleinen Hügel gab es natürliche Zisternen. Sie enthielten Regenwasser. Der Hügel war nicht sehr hoch. Trotzdem bestiegen wir ihn zu Beginn mehrmals täglich, um nach Rettung zu sehen. Aber es gab keine Rettung, kein Schiff, nirgendwo. Wie bei Robinson Crusoe, aber kaum ausgestattet mit Werkzeugen und anderen Utensilien, wie er sie vorgefunden hatte, lebten wir notgedrungen weiter. Das Fischen gelang uns bald. Es gab Bäume mit Früchten und Schatten vor der Sonne und natürlich das Meer. Zwischen uns beiden, die sich vorher nie getroffen hatten, gab es zu Beginn Annäherungen. Jeder erzählte dem anderen sein Leben. Wir wechselten uns ab bei den Verrichtungen und sprachen auch über Privates, belanglose Dinge meist.
Damals hatten wir noch geglaubt, dass es vielleicht einmal gelingen könnte, von hier wegzukommen. Wir mussten nur gesund bleiben und ausharren. Dabei ein Wort zu wechseln verkürzte die Zeit. Wir kamen sogar so weit, dass er eines Abends begann, mir eine Geschichte zu erzählen, eine vollkommen frei erfundene, wie er sagte, beim Fischen ausgedacht. Mir fällt das Erzählen nicht ganz so leicht, aber ich übernahm daraufhin den Versuch, das Leben meiner Großeltern zu erzählen, von Beginn an, immerhin in 1894. Unsere Zweifel daran, dass wir gerettet werden würden, waren uns lange nicht bewusst, sehr lange.
Wäre es anders gewesen, hätte es zwar auch nichts genutzt, aber trotzdem wundere ich mich heute.
Eines Abends brach er mitten im Gespräch ab, schaute mich direkt an, was er sonst nie tat. Er redete gewöhnlich zum Himmel, mit halb angehobenem Kopf, auch wenn er mit mir sprach.
»Das hier wird doch alles nichts mehr. Hier kommen wir nie weg.«
Das hatte mich nicht wie ein Schlag getroffen, aber es wunderte mich doch, wie sehr ich auf diesen Satz innerlich vorbereitet gewesen war. »Nein, das wird nichts mehr«, stimmte ich zu, »wir werden hier verrecken. Wenn ich nur wüsste, wie wir in diese Lage gekommen sind. Weißt du es denn?« Das Letzte, an das er sich erinnerte, war, dass er in einem Krankenhaus gelegen hatte.
Ab jenem Zeitpunkt wurde uns unsere Lage immer bewusster. Eines Tages würden wir durchdrehen, eines Tages. Es würde uns verrückt machen, dass wir alles kannten, und nicht etwa, dass wir verhungern konnten oder unheilbar krank werden würden. Wir kannten jeden Felsvorsprung am Ostufer und jedes Sandkorn im Westen. Sogar die Fische schienen uns zu kennen. Sie ließen sich willig fangen, wie zum Hohn. Noch ihr letztes Zucken im Sand am Strand sagte uns: So viele von uns ihr auch vernichtet, ihr seid nicht frei und werdet niemals mehr frei sein. Und damit ihr sehr lange was davon habt, opfern wir uns. Die Sonne tat ein Übriges. Oft war sie uns früher willkommen gewesen. Ganz zu Anfang hatten wir uns ihr sogar nackt ausgesetzt, um zu bräunen, damit wir später den Mädchen gefielen. Den Mädchen gefielen, höhnte es bald, hier gab es sie nicht, aber diese Sonne gab es. Es war, als wollte sie uns sagen: Schaut her, es hat euch doch immer an Licht gefehlt, an Sonne und Wärme. Hier habt ihr sie, ich gebe sie euch. Stattdessen suchten wir den Schatten. Dort dösten wir die Mittage über. Mehr als einmal träumte ich davon, wie sie uns verhöhnten, das Meer, die Fische, die Sonne, der Sand, die Bäume, der Strand, einfach alles hier, sogar der blendend blaue Himmel.
Einmal im Traum begegnete mir die Sonne. Sie höhnte: »Wir waren euch doch nicht so wichtig damals, als ihr frei gewesen seid. Wir waren doch nur Beiwerk, Accessoires für eure Kameras oder Schlachtfelder für eure Kriege. Der Sand war nicht die Erde unter euch, sondern nur Dreck unter euren Füßen. Ihr hattet soviel Stand, dass ihr auf sie gestemmt gegeneinander angetreten seid, habt Kriege geführt und die Erde mit Blut bespritzt und mich, die das letzte Ächzen Gefallener und das Weinen von Kindern hören musste, zum Verzweifeln gebracht. Habt ihr es endlich kapiert, wie sehr ihr uns braucht? Jetzt kommt ihr nicht mehr los von uns. Ihr wollt übers Meer gehen, jede Gefahr eingehen, um wieder irgendwo auf Land zu sein, an das ihr ebenso wenig gedacht habt wie hier am Strand. Fliegt doch zum Mars, Idioten, oder holt euch euer Gold vom Mond, das ist uns alles egal.«
Sie waren klare Drohungen, mein Albträume, so real, dass ich einmal davon aufgewacht und geschrien haben soll: »Ja verdammt noch mal, wieso fragt ihr mich das denn, wozu wollt ihr mich quälen? Ihr habt doch alles!« Sie erinnerten mich auch tagsüber daran, wie achtlos wir unsere Zeit hatten vergehen lassen. Die Zeit der Freiheit, die Zeit überhaupt, bevor wir hier ausgesetzt worden waren. Auf dem Eiland gab es keine Zeit.
Zu Beginn, als wir jenes Boot umgeschlagen am Strand fanden, eines Morgens nach einer an sich windstillen Nacht, waren wir enthusiastisch, auch wenn wir uns sehr über das Boot wunderten. Wie war es hierhergekommen? Strömungen!, fiel mir ein.
Es gibt hier unten Strömungen, die müssen es hergetrieben haben. Er ließ sich und ich ließ mich, ja, wir ließen uns zu einer spontanen Umarmung hinreißen.
Das Boot war gerade mal groß genug für vier Mann. Es war verdreckt, Reste eines Netzes ragten über die Bordwand ins Wasser. Daneben schwang, sich im Gang der Wellen wiegend, allerlei Angeschwemmtes, Reste von Wasserpflanzen, ein Netz, eine Plastiktüte, die Reste eines zerrissenen Kissens und so etwas wie ein Bilderrahmen. Das Boot schien dennoch sonderbar wenig mitgenommen von der See und dem Salzwasser. Es war sogar erstaunlich gut erhalten. Uns war das gleich, es war ein Boot, und ein Boot konnte Freiheit bedeuten. Obwohl, ich war sehr skeptisch, in diesen Breiten, weit im Süden gab es keine Schifffahrtsrouten. Ich behielt meine Zweifel für mich.
Er fummelte im Boot herum. »Hier, das Beste ist dieser Tank mit Süßwasser. Sieh mal, sogar ein Hahn ist dran. Das sind einige Liter, damit kommen wir weit, mein Lieber.« Ich schmeckte es und fand es erstaunlich gut. Es war nicht brackig wie unser Regenwasser aus den Zisternen. Dieses Wasser hier konnte unmöglich sehr alt sein. Daneben fanden wir das Beste, das Beste überhaupt, eine wasserdichte Metallkiste, die unter der Hinterbank angeschnallt war. Wir öffneten sie und fanden einen Schatz. Zwei Sixpacks Coca-Cola, drei Kommissbrote, knochenhart und dunkelbraun, drei Fleischbüchsen. Nicht mal deren Haltbarkeitsdatum war abgelaufen.
Ganz unten lagen zwei Päckchen Kaugummi und ein Zettel. Darauf stand in Portugiesisch:
»Das ist für euch, für euch und euren Aufbruch, und damit ihr die Hoffnung nie verliert. Achtet einander und gebt auf euch acht. Verliert nicht eure Würde, vergesst nie, wer ihr seid. Menschen! Und vergesst nie, was euch hält.
Ferdinand Magellan der Jüngere
Anno Domini Neunzehnhundertfünfundachtzig.«
Wir schauten einander an. Er warf den Brief in die Kiste zurück, und wir stürzten uns auf das Essen. Das Brot war essbar, wenn wir Stück für Stück im Mund zerkauten. Als ich zu einer Coladose griff, fasste er meine Hand und sagte: »Nur eine jetzt, die teilen wir uns, die beiden anderen nehmen wir mit, und mit dem Brot machen wir es genauso. Okay?« Das Haltbarkeitsdatum! Wie lange hielt sich eingemachte Fleischwurst denn? Jahre? Monate? Tage? Ich hatte mit vierzehn Tagen zu rechnen begonnen, um nicht den Mut zu verlieren. Unsere Insel lag dem Sonnenstand nach sehr weit südlich. Die Strömung hier betrug nach meiner Erinnerung ziemlich weiträumig drei Meilen pro Stunde. Wie viele Meilen war dann jener Mensch weg von uns, der dieses Boot ins Meer gesetzt hatte? War er anfangs auch im Boot gewesen? Der volle Wassertank und die Metallkiste sagten deutlich Nein. Die Entfernung dorthin war, so oder so, größer als Deutschlands längste Diagonale, schloss ich meine Berechnung entmutigt. Und wenn Fleischwurst sich länger hält als vierzehn Tage, dann betrug sie zweimal um die Erde. Ich verlor alle Hoffnung und erzählte ihm von meinen Überlegungen und Berechnungen. Er blickte mich nur an.
Das war der Zeitpunkt, ab dem er kaum noch sprach. Wir machten das Boot am selben Tag noch flott, so gut es ging. Schon am kommenden Morgen ruderten wir davon. Genauer gesagt, er ruderte uns davon. Ich hatte mein linkes Bein bis zum Knie vor Jahren bei einem Unfall verloren. Darum konnte ich diese Arbeit nicht mit ihm teilen. Als ihm das nach ein paar meiner Versuche klar wurde, sagte er: »Na ja, kannst dich schlecht abstützen, ein Bein reicht nicht. Lass mich ran.« – »Aber ich kann navigieren«, sagte ich wie zur Entschuldigung. Er antwortete nicht.
Er öffnete die Kiste und gab mir von allem die Hälfte. »Warum tust du das?«, fragte ich verwundert. »Am Ende wird es hart, da sollten wir das vorher klären.« Er wies auf die beiden Rationen. »Und den Zettel?«, fragte ich weiter. »Nicht wegwerfen, falte ihn zusammen und leg ihn zurück«, antwortete er. Ich war wütend. »Der Witzbold, der das geschrieben hat, kann sich seine Worte sonstwohin stecken.«
Er nickte und begann wortlos zu rudern. Wir saßen uns gegenüber und schauten meist auf den Boden des Bootes. Er hätte mich anschauen sollen. Das wäre die korrektere Haltung beim Rudern. Stattdessen blickte er auf seine Füße. Das war sicher anstrengend. Ich bemerkte schon am ersten Tag, das alles hier ging ihm gegen den Strich. Mir ging es jedenfalls so. Hätten wir gesprochen, wäre alles leichter gewesen, aber ich hatte mehrfach angesetzt, vergeblich. Er redete nicht mehr, seit er ruderte.
Manchmal blickte er geradeaus, an mir vorbei zum Horizont. In der Hoffnung ein Schiff zu sehen? »Aber«, sagte ich dann in wiederholter Regelmäßigkeit, »mein Lieber, hier gibt es keine Schiffe, und wenn es welche gibt, dann sind sie hunderte Meilen weit weg von uns. Ich habe abgeschätzt, wie weit südlich wir uns befinden. Schau, wie tief mittags die Sonne steht. Hier fahren keine Schiffe. Es gibt hier keine Schiffe, nicht einmal die Hoffnung darauf.«
Wenn wir miteinander geredet hätten, hätte ich ihm das näher erklären können und mir wäre leichter gewesen. Stattdessen ruderte er schweigend weiter. Erstaunlich, wie zäh er durchhält, fand ich, rudert zwei Stunden, nickt ein, wacht auf, wäscht sich das Gesicht und rudert weiter.
In den ersten Tagen nahm er nur einmal täglich häppchenweise von seinem Essen. Solange er das tut, dachte ich, hat er Hoffnung. Ich machte es ihm nach. Ich blickte in den Himmel. Er war wolkenlos blau, seit ewigen Zeiten, schien mir. Der Hunger wurde bald schon dringender. Ich hatte die Tage nicht gezählt, aber es konnten nicht sehr viele gewesen sein, da hatte jeder von uns noch etwas Brot und einen Schluck Cola. Trotz aller guten Vorsätze hatte ich anfangs mehr gegessen, als ich mir vorgenommen hatte. Er hatte es bemerkt, aber nichts gesagt. Er blieb eisern bei seinen Rationen.
Eines Tages kämpfte ich mit mir bereits am Morgen. Jetzt, nein, jetzt. Nein! Noch eine Stunde warte ich! Bis zum Sonnenuntergang warte ich, dann, dann werde ich alles auf einmal aufessen. Ich werde schlemmen wie nie vorher. Dann werde ich schlafen, bis die Sonne wieder aufgeht, oder auch für immer. Egal, wenn es denn so sein soll, dann werde ich endlich Gewissheit haben, dass mich nichts mehr in diesem Boot hält.
Ich ließ mein Bein seitwärts ins Wasser baumeln und schaute auf das Meer. Das machte ich mehrmals am Tag. Es war gut für den Kreislauf, dachte ich in den mir immer ferner erscheinenden Gedankengängen meines vorherigen Lebens. Ja, es war gut für den Fuß. Ihn tangierte das nicht, er machte es auch nicht nach, brauchte er auch nicht, so wie er stetig, fast wie eine Maschine, in die Riemen ging. Er war stark, ungeheuer stark, viel stärker als ich. Ich fühlte mich schlecht. Ich wollte ihm etwas sagen. Zum Beispiel, wie sehr ich ihn bewunderte und dankte und wie stark ich ihn fand und wie sehr leid es mir tat, dass wir so enden mussten und dass ich keinen einzigen Ruderschlag zu meiner Rettung hatte beitragen können. Welche Rettung? Er würde mir ohnehin nicht antworten. Seit einigen Tagen zeigte er kaum noch Anzeichen, dass er mich überhaupt wahrnahm. Ja, ich wollte gesund bleiben, auch wenn wir nicht miteinander redeten.
An jenem Abend strebte die Sonne wie stets langsam dem Horizont zu, rötete, fiel ins Meer und wurde tausendfach von diesem wie zum Abschied zerstreut. Schade, dass er das nicht wahrnehmen wollte. Er schwitzte. Ich brauchte ihn nicht anzusehen, um das zu wissen. Er tat mir leid.
Jetzt war die Sonne untergegangen, vielleicht an meinem letzten Abend. Langsam wandte ich mich um, schaute ihn an und dann auf mein letztes Stück Brot. Wie in einer heiligen Zeremonie griff ich danach und aß langsam alles auf, vor seinen Augen, wenn sie mich denn angesehen hätten. Den ganzen erbärmlichen Rest aß ich auf. Ich war erleichtert. Es war nichts mehr übrig, außer dem restlichen Wasser im Tank. Noch vier fünf Tage würde ich ohne zu essen durchhalten, vielleicht.
Auch er hatte nun seine Ruder abgesetzt und aß. Er aß, als ob er betete. Auch wenn er sparsam ist, dachte ich, reicht es auch für ihn nicht länger als eine Woche nach mir.
Am nächsten Morgen wachte ich bei hellem Tageslicht auf. Neben mir war etwas aufgeklatscht und zappelte. Ungeschickt griff ich danach und hielt es fest. Es war ein fliegender Fisch. Ich griff ihn fest. Er hatte die Ruder losgelassen und wirkte erschrocken.
»Lass ihn los, wirf ihn zurück, sofort«, schrie er mich an. »Wir können ihn uns teilen, frisches Eiweiß, ich hab nichts mehr zu essen.« – »Egal, ich will ihn nicht teilen, wirf ihn zurück.« Er bückte sich unter den Sitz, zog sein Essen hervor und öffnete das Papier. »Hier, die Hälfte ist für dich.« Ich hielt immer noch den zappelnden Fisch in den Händen. Er hatte wieder zu den Rudern gegriffen. »Wirf ihn zurück, er wird nicht geteilt, er kann nichts dafür.«
Ich brauchte ihn nicht zu fragen, wofür genau. Seine Körperhaltung war eindeutig. Ich schämte mich und warf den Fisch zurück. Es klatschte leicht. Er war augenblicklich verschwunden. Ich schaute noch länger auf den Ort, wo er verschwunden war, als ob er zurückkäme.
Dann blickte ich auf und sah ihn direkt an. Unsere Blicke begegneten sich zufällig, offenbar hatte er den Horizont abgesucht, während ich dem Fisch nachgeschaut hatte. Ich nutzte die Gelegenheit und sagte langsam und fast unhörbar: »Es gibt keine Hoffnung für uns. Ich habe navigiert. Es ist gut, dass wenigstens er weiterlebt. Ich habe dich verstanden.« Er antwortete nichts. Es war still. Die Wellen schlugen gegen die Bootswand. Er ließ die Ruder los, stand auf und gab mir die Hand. Dann teilte er das Essen. In seinen Augen sah ich Müdigkeit und Härte. Doch dann, ganz unerwartet, weichte diese Härte auf. Sein Gesicht zuckte, und er begann zu weinen. Er weinte so heftig wie ein Kind, so, wie ich noch keinen Mann hatte weinen sehen. Wir umarmten uns. Ich sagte ihm: »Ich wollte doch nur weiterleben, verstehst du?« – »Ich auch«, sagte er und setzte sich zurück an die Ruder.
»Warum hast du dann die ganze Zeit gerudert?« Er antwortete: »Hast du denn den Brief nicht gelesen? Ich konnte etwas für die Hoffnung tun. Ich konnte sie nicht ersitzen, verstehst du. Ich musste mein Essen mit dir teilen, damit es so lange ging, wie es gehen konnte, wir zusammen. Das gab mir Sicherheit und Hoffnung.« – »Es gibt keine Hoffnung, wir hätten miteinander reden können, um uns Halt zu geben.« – »Ich habe aber Hoffnung, ich hatte Angst, du würdest sie mir ausreden. Deshalb habe ich nicht gesprochen.«
Damit wäre unsere Geschichte zu Ende gewesen. Ich setzte mich fassungslos auf meine Bank. Er ruderte wie zuvor weiter. Wir aßen noch ein paar Tage unsere Reste, tranken das verbliebene Wasser, bis kein einziger Tropfen mehr kam. Wir warteten einen Tag, zwei Tage. Am Abend des zweiten Tages zog er die Ruder ein, nein, er warf sie nicht ins Meer. Er zog die Ruder nur ins Boot und schlief sofort erschöpft ein. So also, dachte ich, auf ihn schauend, sterben wir. Der eine hoffnungslos und der andere erschöpft. Was ist besser? Dann schlief auch ich ein.
Nein, unsere Geschichte war noch nicht zu Ende. Ich erwachte von einem Schiffshorn, das so laut war, als hinge es dicht über mir. Ich war sofort auf den Beinen, er auch. Keine Meile vor uns sahen wir ein Kreuzfahrtschiff. »Adventure Travel«, lasen wir. Sie ließen ein Boot zu Wasser. »Sie holen uns!«, schrie ich und riss ihn an mich, dass wir fast ins Wasser gestürzt wären. Er war fassungslos, einfach nur fassungslos, aber dennoch sehr sehr froh. Ich sagte wie immer nichts, aber ich sah es in seinen Augen.
Der Rest ist schnell erzählt. Wir wurden gerettet und in Decken gehüllt. Noch während wir im Boot saßen, surrten Helikopterdrohnen über unserem Boot mit Kameras daran. Jede unserer Bewegungen wurde gefilmt. Als man uns über Deck leitete, wurden wir von Menschenmengen bedrängt, wie es sonst nur bei Politikern und Sportlern zu sehen ist. Menschen wünschte sich Selfies mit uns, zogen uns an unseren Decken zu sich, wünschten Autogramme, einer wollte ein Interview. Wir waren sprachlos und sehr, sehr verwirrt. Er schaute mehr als hilflos zu mir herüber. Wir wurden gezogen, gedrängt und geschoben und ließen es geschehen. Wir waren schlaff, erschöpft und willenlos. Ich war seltsam freudlos. Ich wollte plötzlich weg von hier, weg von all den Menschen und dem Tumult.
Durch das Gedränge hindurch erblickte ich ein Poster mit der Botschaft Adventure Travel … Whale watching …Our this year‘s highlight … Rescue of real shipwreckers. Der Kapitän kam aus der Menge auf uns zu und wollte uns begrüßen. Mein Freund hatte das Poster auch gesehen und offenbar sofort dessen Sinn erfasst. Auch ich war entsetzt. Er aber sprang dem Kapitän an die Kehle und drückte so schnell zu, dass ihn niemand davon abhalten konnte.
»Woher wusstet ihr, dass wir noch nicht verreckt waren?« Der Griff war hart. Der Kapitän würgte und bekam keine Luft. Er lief rot an. Mein Freund schrie: »Sag es!« Er zog sein Messer. »Sag es, oder ich bringe dich um, ich schwöre …« Er ließ dem Kapitän etwas Luft und schrie erneut: »Sag es, sag es! Dreckskerl, sag es mir, und dann sagst du es deinen Kunden und der Presse …!« Der Kapitän hustete und spuckte, dann quälte er den Satz heraus: »Euch konnte doch nichts … passieren, wir wussten … wie viel … Wasser ihr noch hattet … Jederzeit konnten wir euch … helfen … falls Gefahr …« Mein Freund drückte fester zu und hätte ihn umgebracht. Der Kapitän wehrte sich kaum noch. Da ging der erste Offizier dazwischen und riss meinen Freund weg. »Euch konnte nichts passieren, wir wusste immer, wo ihr wart.«