Читать книгу Scirocco - Gerhard Michael Artmann - Страница 15
Die Berufung
ОглавлениеJetzt bist du professor
das ist doch bessor
als arbeitslos
keine ideen zu haben
Der Landesberufungsbeauftragte für professorale Berufungen und Landesregierungsoberdezernent Abteilung Zwei des Landeswissenschaftsministeriums, Unterabteilung drei, für professorale Berufungen aller Kassen und Vorsteher des Dezernats Personalungelegenheiten, Abteilung vier, für Berufungen zur See in Personalunion mit der Abteilung drei des Landesbestattungsinstitutes, Unterabteilung zwei, Bestattungen zur See in besonderen Fällen, Herr Dr. Johann SS Brell, stellte anatomisch das glatte Gegenteil von Prof. Dr. h.c. mult. Dr. med. habil. Gotthilf Fürchtegott Nöthinger dar. Er war klein, hatte eine fliehende Stirn und stockartige O-Beine, die er unter weiten Hosenbeinen verbarg. Er trug eine dunkelbraune Hornbrille. Die Herren Brell und Fürchtegott Nöthinger arbeiteten nicht erst seit Kurzem zusammen, sondern bereits Jahrzehnte. Sie kannten sich und ihre Gewohnheiten aus Zeiten in Ost-Deutschland, wo sie beide als Zwangsarbeiter für den ostdeutschen Geheimdienst gearbeitet hatten, jeder in seinem Fach. Sie hatten seit der Vereinigung Deutschlands in 1989 an die sechshundertfünfzig Universitätsprofessoren ins Amt gehoben, die allesamt nach kurzer Zeit sehr erfolgreich an den Schalt- und Nahtstellen der deutschen Wissenschaft walteten.
Fürchtegott Nöthinger stand neben Brell und Frau Prof. Dr. Specht an der Reling von Kapitän Knuts Yacht, die in der östlichen Ostsee vor Anker lag. Sie schauten nach Osten; Fürchtegott Nöthinger zufolge in Richtung Sonnenuntergang, denn seit der Wende war der »Osten« für ihn gestorben. Heute fand an Bord das Vorsingen der Bewerber für eine Professorenposition statt. Man wollte alle Kandidaten noch vor Einbruch der Dunkelheit erledigt haben. Es waren insgesamt fünf Bewerber um die Professur für »Fischfang des Salzherings in maritimen Gewässern« eingeladen worden. Fürchtegott Nöthinger stand der Kommission vor. Frau Specht schrieb Protokoll und vertrat in Personalunion die Studenten und Mitarbeiter ihrer Fakultät, die an der Berufung ein Mitspracherecht hatten. Sie vertrat sich selbst als Professorin im Berufungsausschuss, aber zugleich auch in Personalunion die Frauenbeauftragte der Universidad Eduardo del Pinto und den Personalrat. Sie hatte in den vergangenen Tagen alle Protokolle über Inhalt und Ausgang der heutigen Bewerbungsgespräche angefertigt und war von drei anwesenden Berufungskommissionsmitgliedern, einschließlich ihrer selbst, die am besten informierte Person. Sie trug ein dunkelblaues Plisséröckchen mit weißem Höschen darunter und ein Matrosenhemd mit Streifen sowie gebundenem luftigen Tuch.
Fürchtegott Nöthinger langweilten Berufungen. Er bevorzugte die direkte Art der Bestallung eines Kandidaten für den Job: Man kannte den Kandidaten, man wusste aus welchem Stall er kam, sogar, wie er roch. Ein solcher machte keine Probleme, und man war sich vollkommen im Klaren, dass er nicht mehr wusste als alle anderen Professorenkollegen. Fertig! Und ein klarer Fall. Allerdings interessierte ihn als leidenschaftlichen Angler an der hiesigen Sache, wie die Kerlchen während der Bewerbung zappelten, als ginge es wirklich um ihre Zukunft und nicht um die Bratpfanne. Er freute sich bei solcher Gelegenheit wie ein Kind, dass er nie selbst zu einer Berufungsprozedur als Bewerber genötigt worden war. Kopfschüttelnd wunderte er sich manchmal, wie naiv die Kerlchen doch waren und wie sie dennoch meinten, da wäre eine Chance. Dabei hatten die oft schon Kinder, waren selbst achtundvierzig Jahre alt, und sie waren immer noch so naiv? Hatten die niemals zuvor etwas von Verantwortung gehört? Gehörte es sich, Unschuldige, auch noch eigene Kinder, in Situationen solcher Ungewissheit über nichts Geringeres als einen Job als Professor hineinzuziehen? Manche Menschen, so schien es ihm, dachten an gar nichts. In den Berufungsverfahren, denen er regelmäßig beischlief, kamen niemals Frauen vor, so auch heute nicht, außer Frau Specht. Er kannte Frau Specht in- und auswendig, sogar heute Morgen hatte er sich ihrer noch vergewissert.
Herr Brell, drittes Kommissionsmitglied an Bord und Vertreter des Landesministeriums, hatte am Vorabend in der Spätschicht Zugriff auf Frau Specht haben dürfen. Herr Brell hatte generell uneingeschränktes Zugriffrecht auf Frau Dr. Specht, es sei denn, sie äußerte Bedenken wegen unloyalen Benehmens. Dann gab es eine Sperre für ein, zwei, manchmal auch drei Spiele. Auch wirkte Herr Brell oft etwas langweilig, weil er in typischer Manier eines Politikers immer erst alles ausdiskutieren wollte. Oft war Frau Specht schon wieder angezogen, wenn er dann doch endlich zum Punkt kommen wollte. Wenn Übereinkunft gefunden werden konnte, fackelte Brell nicht lange. Jede einigermaßen erfahrene Frau weiß, was das heißt. Brell war ein Sohn seiner Klasse, seitliches Lächeln, Haare ohne jeden Schnörkel nach links gezogen und flach, nicht wellig oder brünett. Keiner konnte je behaupten, er hätte sich irgendwann zuvor für irgendeine Wellung oder Haarfarbe entschieden. Nein. Brell war, den täglichen Klogang eingenommen, ausschließlich weitgehend jedem Vorwand geneigt; hellblaues Hemd, hellblaue weite Hose, weiße Lederstiefelchen sowie eine Matrosenmütze unterstrichen seine Funktion im Berufungsterzett. Er war der Politiker, der über die akademische Zukunft eines Kandidaten entschied, als wäre sie Wasser.
Nun ist die Berufung eines Professors für ein maritimes Lehr- und Forschungsgebiet (LfB) immer etwas Besonderes. Warum sonst machte man den Aufwand und lieh sich auf Hochschulkosten eine Jacht, ankerte drei Kilometer vor der Kurischen Nehrung in der Ostsee und tat sich all das an? Natürlich musste man die Kandidaten im späteren natürlichen Habitat ihrer Forschung anhören. Nur dann war wirklich zu erfahren, ob einer für den Job taugte. Man konnte ja gern behaupten, dass man schwimmen konnte, angeln, tauchen, Ruder setzen, Netze auswerfen und an Bord ziehen, Fische in Döschen sortieren für die spätere Analyse, aber dann? Später in der Fakultät, wenn keine Fische mehr einsortiert wurden, sondern ausgewachsene Kollegen? Was würde dann ein Landgänger noch zu sagen haben, mit vielleicht krummen Beinen und Möhrengeschnetzeltem an den Gummistiefeln? Die See war das Habitat des zukünftigen Kollegen, und eine der wichtigsten Fragen, die heute zu klären waren, war, wie lange der Kerl untertauchen konnte, ohne dass ihn einer wahrnahm. Außerdem sollte der Kandidat durchaus Kenntnisse zeigen, wie man mit einem Hai umging, der sich zufällig im Netz verfangen oder dem Kandidaten beim Kielholen ins Bein gebissen hatte. Der Hai konnte zukünftig der Rektor einer anderen Universidad ebenso sein, wie ein kleines Scheißerchen von Professor, dem das Pfeiffersche Drüsenfieber suggeriert hat, seine Meinung gelte etwas. Wie versorgte man eine offene Wunde im Salzwasser? Wie ging man mit Frau Specht um, die bei Blut in Ohnmacht fiel, wie mit dem wütenden Herrn Fürchtegott Nöthinger und einem Herrn Brell, der schon beim ersten Anzeichen eines Risikos den Sicherheitsbeauftragten seiner Regierung anfunkte. Es ging folglich heute nicht allein um das akademische Niveau des Kandidaten. Es ging vielmehr darum, inwieweit ein Kandidat in der Lage war, sich von den gewonnenen Erkenntnissen über die Welt und deren Naturgesetze hinwegzusetzen und neue zu erfinden, die noch nie jemand zuvor erfunden hatte. Es ging letztlich um Innovation zur See, wo im Kern alles Leben entstanden war, auch das des Kandidaten, und wo dessen Leben, zumindest sein akademisches, ohne weiteres heute enden konnte.
Da! Herr Brell hatte ihn zuerst entdeckt. Er erkannte den Mann an dessen Flagge. Es war Dr. Brille. Der Kerl sang schon zum sechsundzwanzigsten Mal vor. Er sang seit fünfzehn Jahren vor für alle Professorenstellen, die auch nur annähernd mit Wasser zu tun hatten, denn dem Sternbild nach war er Wassermann, und daran hielt er sich privat wie auch forschungsmäßig strikt, denn er hatte Charakter. Er war dreiundfünfzig Jahre alt und stank Berufungskommissionskreisen zufolge streng nach Fisch. Es zeigte sich, dass der Kerl das Gesetz der Piraten auch diesmal nicht verstanden hatte: Man zeigte erst Flagge, nachdem man gewonnen hatte, aber besser war es, alles niederzumetzeln, die Beute einzusacken, zu verschwinden und keiner war’s. Er kam auch diesmal mit einem geliehenen Ruderboot. Fürchtegott Nöthinger erkannte nun auch ohne Brells Hilfe allein am Ruderschlag den Ziehsohn seines Feindes Professor Rüdiger, der wie er selbst Proktologe war und der berühmt geworden war wegen seiner anusbasierten minimalinvasiven Mandeloperationen. Diese war in Fachkreisen als AMM-OP bekannt, eine Abkürzung, die die Offenlegung des Zugangsweges vermied.
Der junge Mann half sich an Bord. Kaum dass er der Kommission gewahr wurde, die inzwischen hinter einem Jury-Tisch Platz genommen hatte, rutschte er aus und fiel auf den Hintern. Frau Specht sah ihre Argumentation bedroht, denn der hier gezeigte Teil der Präsentation erweckte Mitleid. Sie hatte ihm bereits attestiert, dass er ein harter Hund war, einer, mit dem sich nicht diskutieren ließe und der für ihre Fakultät nicht in Frage kam. Dass er hier ohne weiteres umfiel, ohne dass er dazu aufgefordert worden war, verunsicherte sie. »Können Sie schwimmen?« Brell fragte das. Dr. Brille stand auf und rieb sich den Sterz. »Ziemlich, ich habe aber nichts mit.« – »Frau Dr. Specht, drehen Sie sich bitte um, und Sie: Ab in die Ostsee! Sie schwimmen eine Runde ums Boot. Die Zeit läuft.«
Fürchtegott Nöthinger drückte eine virtuelle Stoppuhr. Prof. Rüdigers Schützling zog sich zunächst aus, stellte die Schuhe ordentlich nebeneinander, faltete die Socken, das Hemd, den neuen Anzug, dann die Unterhose zusammen und stapelte alle Kleidung an der Reling. Er war dürr, hatte eine haarlose weiße Haut, und seine Schamhaare waren rot. Frau Specht wurde ein weiteres Mal unsicher, denn der Kerl besaß Anstand und Haltung.
»So, ich springe jetzt. Ab jetzt gilt die Zeit, nicht wahr?« Fürchtegott Nöthinger nickte und drückte die Reservestoppuhr, die für diesen Fall bereitlag. Die Uhr der Jury hingegen lief seit zwei Uhr morgens, einer Stunde des Tages, da hatte das Bübchen noch nicht einmal seinen Haferschleim verzehrt. Der Bewerber schwamm in zwanzig Sekunden ums Boot. Brell war verblüfft. Wie konnte einer so schnell schwimmen? Der Bewerber half sich an Bord.
Fürchtegott Nöthinger schnauzte Brille an: »Sie sind so was von langsam! Die Zeit hätte nicht mal für das Abitur in Biologie gereicht. In AchtStundenzwölfMinutenundachtunddreißigKommasechsSekunden klappert jedes Treibholz um mein Boot.« – »Acht Stunden, Prof. Fürchtegott Nöthinger? Das war meine persönliche Bestzeit. Ich halte den Zweihundertmeter-Europarekord im Brustschwimmen.« – »Sie sind aber auf dem Rücken geschwommen, ich habe es gesehen, ich habe ganz deutlich Ihren Schniepel im Wasser treiben sehen.« – »Welchen Schniepel? Meinen Sie das hier? Das ist mein Geschwindigkeitsmesser, den ich unten festmachen musste, weil ich ohne Badehose schwamm. Es kann sein, dass er aussieht wie ein Schniepel, er muss ja Stromlinienform haben, aber das ist ein Sensor. Nach ihm richte ich meinen Schwimmschlag. Ich war auf diese Prüfung nicht vorbereitet, zumindest in der Art nicht. Ich hätte Ihnen das alles vorher erklären können. Sobald ich im Wasser bin, löst der Schwimmer sich ab und gleitet auf der Wasseroberfläche, damit die Geschwindigkeitsmessung nicht durch meinen innovativen Hoch-Tief-Schwimm-Tauch-Stil verfälscht wird.« – »Es war ihr Schniepel! Brell, haben Sie es auch gesehen?« – »Ehrlich gesagt …« Brell wusste nicht, was er sagen sollte. Die Situation war wie im Parlament. »Schniepel hin oder her, Sie sind hier in Rossland, kennen Sie eigentlich die Koordinaten des Berufungsortes? Ziehen Sie sich an! Oder wollen Sie unsere Frau Professor Doktor demütigen mit Ihrem Aufzug. Wenn Sie fertig sind, da drüben liegt Ihr Lunchpaket für die Rückreise nach Berlin. Sie erhalten das Ergebnis Ihrer Bewerbung schriftlich.«
Der nächste Bewerber war inzwischen an Bord. Es war ein Athlet, dreimaliger Triathlongewinner, Kampfsportler, Apnoetaucher, Weltmeister im Skyjumping. Einer der Menschen, denen Sie nichts erklären müssen. Entweder Sie leben mit ihm, oder Sie bringen ihn um, wenn Sie können. Er kam aus Leipzig und war aufgrund seines Charakters seinerzeit wie auch heute ein direkter Klient des ehemaligen Ost-Deutschland-Geheimdienstmannes Fürchtegot Nöthinger gewesen. Fürchtegott Nöthinger erkannte ihn. Er hatte ein Gigabytegedächtnis für seine Feinde und Leute, die ihm gefährlich werden wollten. Der Bewerber war bereit. Er begann, seine Forschungsinteressen vorzutragen: »Sofern er die Stelle antreten könne, wolle er …« Fürchtegott Nöthinger unterbrach: »›Antreten‹ wollen Sie? Was genau wollten Sie in etwa annähernd damit gemeint haben? Ja, sind Sie denn auf Streit aus? Meinen Sie denn, der Beruf eines Professors wäre ein Fußballspiel und dass es da vielleicht auch noch einen Schiedsrichter gäbe, der Ihnen sagt, ob Sie gewonnen oder verloren haben? Ich sag’s Ihnen: Sie haben jetzt schon verloren, Sie sind nämlich so gut wie disqualifiziert. Dabei haben wir noch nicht einmal angefangen. ›Antreten‹ …« – »Ja! Wahr ist wahr, und richtig ist richtig.« – »Wie meinen Sie? Wollen Sie etwa die Kategorie ›Wahrheit‹ in den Professorenberuf einführen, he?« Fürchtegott Nöthinger zu Brell, der Protokoll führte: »Wir lassen die ersten sechs Übungen weg. Kielholen! Den Mann!«
Frau Specht fand die Diskussion unter aller Sau und warf Fürchtegott Nöthinger einen Blick zu. Der zündete sich darauf eine Zigarette an, und Brell holte sich einen Kaffee. Frau Specht führte den Kandidaten unter Deck. Sie kam aber sehr bald zurück. Brell verschluckte sich am Kaffee, und Fürchtegott Nöthinger hustete, weil das unerwartet schnell ging. »Er bereut nichts, er gibt auch nichts zu«, sagte Frau Specht. »Ihr könnt weitermachen.«
Fürchtegott Nöthinger knüpfte dem Bewerber persönlich die Leinen an, um das Kielholen einzuleiten. Dabei wird nach englischem Seerecht der Kandidat am Bug ins Wasser geworfen und mit Leinen, die an seinen Armen befestigt sind, von zwei Seemännern unter dem Bootskiel entlanggezogen. Sie schreiten dabei an Steuer- und Backbord zeitgleich zum Heck hin. Dort wird der Kandidat nach oben gebracht, wenn sich die Seile nicht im Kiel verfangen hatten. Je nachdem, wie lange sie gebraucht hatten, worin sie einen gewissen Ermessensspielraum besaßen, hatte der Kandidat dann noch Lust, seine Unschuld zu beteuern oder aber nicht. Meist sahen die überlebenden Kandidaten ihren Fehler ein. Das war zu Zeiten des Englischen Empires so, wo es um Mord- und Totschlag oder auch um Raub ging. Das war bei Fürchtegott Nöthinger so, wo es um die Freiheit von Forschung und Lehre ging. Fürchtegott Nöthinger schubste den Athleten am Bug ins Wasser. Das Seil zog an. Sekunden später musste der Kandidat sich unter Kielmitte befinden. Fürchtegott Nöthinger zählte bis fünf und beorderte dann Frau Specht und Herrn Brell, die zu beiden Seiten des Schiffes an den Seilen zogen, nach unten zur Beratung. Sie verknoteten das Seil an der Reling und folgten. Nach circa fünfzehn Minuten holten sie den Kandidaten an Bord. Er war blau, er zitterte. Brell gab ihm ein Handtuch, und Frau Specht versuchte ihn von unten her warm-zublasen, doch sein Knie rutschte ihm aus und landete auf ihrer Nase. Sie hielt sich Tränen verdrückend ein Taschentuch vor. Fürchtegott Nöthinger biss in sein Lachssandwich. »Stellen Sie sich nicht so an, Frau Specht. Wollen Sie mal anbeißen, Herr Kandidat? … Sind Sie endlich trocken?« Frau Specht schluckte, und Brell fand, dass dieses Benehmen ein Fall für den Untersuchungsausschuss war, dem Fürchtegott Nöthinger turnusmäßig vorstand.
Die drei beredeten das Verdikt, während der Kandidat sich anzog. »Sind Sie alle einverstanden, dass wir den Kandidaten auf Platz Eins der Bewerberliste setzten, womit er, daran möchte ich Sie beide erinnern, die Stelle zu neunundneunzig Prozent kriegen würde?«, fragte Fürchtegott Nöthinger seine Mitglieder der Kommission. Und er setzte nach: »Wenn Brell seinen Scheitel während der entscheidenden Sitzung im Ministerium nicht versaut, kriegt er die Stelle sogar zu hundert Prozent.« Frau Specht nickte mit dem Kopf, Brell fuhr sich durch die Haare, sein Zeichen äußerster Nervosität. »Gut, dann soll er uns jetzt zeigen, ob seine Apnoezeit ausreichend ist«, was bedeutete, wie lange konnte der Kerl die Luft anhalten, ohne aufzutauchen? Wenn die Zeit nicht signifikant oberhalb des internationalen Durchschnitts läge, der sich in den letzten Jahren insbesondere in China bei etwa fünfundfünfzig Minuten eingepegelt hatte und der regelmäßig im Fachblatt NATURE auf der letzten Seite publiziert wurde, dann bestand keine Hoffnung für den Kandidaten. Dass die Chinesen mit einem Reisstrohhalm unterm Arm zum Tauchtest erschienen, spielte dabei keine Rolle.
Fürchtegott Nöthinger entschied: »EnnGleichFünf.« Nur Wissenschaftler kennen diese Formel. »›Enn ist die Anzahl der Versuche, ›Gleich‹ heißt, es ist sowieso egal, was herauskommt, und ›Fünf« – das machst du jetzt insgesamt fünfmal, Kerlchen!« Nöthinger zeigte auf eine Weste mit Bleigewichten »Anziehen und ab ins Wasser! Fassen Sie die Leine fest an. Sie bleiben unten, bis Sie nicht mehr können, dann ziehen Sie die Leine, verstanden?« Der Kandidat hatte keine Zeit zu antworten, denn Brell hatte ihm schon die Weste umgelegt, die Leine in die Hand gedrückt, und Nöthinger schubste ihn ins Wasser.
Nach etwa fünfundvierzig Minuten zappelte die Leine, Brell zog den Kerl an Deck. »Reicht bei weitem nicht«, brüllte Nöthinger. »Die Chinesen liegen mit Abstand vorn. Sie haben noch genau vier Versuche.« Er ließ den Kandidaten stehen.
Inzwischen war es Mittag geworden. Es war Zeit für den Lunch. Die Kommission zog sich nach unten zurück. Als sie geendet hatten, fanden sie den Bewerber wartend an Deck. Der fragte Fürchtegott Nöthinger, der langsam müde wurde, wann das Bewerbungsgespräch denn endlich losginge. »Es hat schon angefangen, oder sind Sie schwer von Begriff? Sie haben noch vier Versuche, um den Chinesen zu zeigen, was Made in Germany ist.«
Fürchtegott Nöthinger wollte den Bewerber erneut über Bord schubsen, aber der wich ihm diesmal aus. Er hieb seine Rechte mitten in Nöthingers kreisrundes Gesicht, das flach und breit war wie ein Sony 63-Zoll-Monitor. Man hörte es knacken, Blut tropfte, und Fürchtegott Nöthinger ging zu Boden. Frau Specht ebenfalls. Brell half ihr hoch. Nöthinger indes schlitterte auf seinem Gesicht wie auf einem Surfbrett bis zur Kajütentür von Käptn Knut. Nöthinger jedoch war nicht von schlechten Eltern. Er war Bauernsohn, er hielt was aus. Er wischte sich das Gesicht, zog ein paar Holzspäne aus den Oberschenkeln und brüllte: »Komm her, du Arschloch, ich mache dich fertig. Was denkst du eigentlich, wer du bist? Ich bin der, den du nicht besiegen kannst, du Arschloch.« Ein weiterer Faustschlag traf Nöthinger auf die Knopflochnase. Das schaltete ihn diesmal noch vor der Kapitänskajüte gänzlich ab. Dann wandte der Bewerber sich an Frau Specht und sagte »Und Sie, Specht, glauben Sie denn, dass das ausgetrocknetes Etwas zwischen ihren ehrgeizigen Beinen mich auch nur annähernd anmachen könnte?« Frau Specht schnappte nach Luft, als hätte sie den Apnoetauchgang hinter sich, und nicht der Bewerber. Sie heulte in ihr Taschentuch. Den Bewerber scherte das nicht. Nach kurzem Blick auf Nöthinger, der im Begriff war, sich aufzurappeln, sagte er zu Brell: »Und Sie, Brell, Sie Löschpapier der Demokratie. Denken Sie wirklich, Sie hätten einen Einfluss auf mein Leben nehmen können?« Brell senkte den Kopf. Das machte er immer, wenn er eigenes Versagen im Parlament zugeben musste. Das Parlament erwartete dann zurecht sein Schuldbekenntnis, aber es kam keins. Vielleicht gab Brell ja ein unterirdisches Schuldbekenntnis ab, denn man hörte ihn gewöhnlich nach einer Anstandsminute der Stille seine Rede fortsetzen »… so war es und nicht anders, so wahr mir Gott helfe.« So war es auch diesmal. Der Bewerber war aber nicht das Parlament. Er nahm eine Halbliterflasche Ketchup, die noch vom Lunch herumstand und drückte sie zuerst über Frau Specht, dann über Brells gesenktes Haupt aus. Den verbleibenden nicht geringen Rest kringelte er über Fürchtegott Nöthingers flachem Gesicht aus, das danach aussah wie eine Pizza in Preparation. Der Bewerber ging zur Reling, stieg in sein Kajak und zog davon. Am Horizont zeigte sich ein Hubschrauber. Der brachte die anderen drei Kandidaten, in ihrer Mitte den einen, der es werden sollte: Privatdozent Dr. med. Fürchtegott-Hückelkorn.