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Oh, oui je t’aime

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Je t’aime, je t’aime

oh, oui je t’aime

moi non plus

oh, mon amour

comme la vague irrésolue

je vais, je vais et je viens

entre tes reins

je vais et je viens

entre tes reins

et je me retiens …

Serge Gainsbourg

Dies ist eine private Erwähnung. Der Tag wollte nicht enden. Er verhielt sich, als wollte er die Mitte der Nacht wieder einmal aufschieben in das kommende Jahrzehnt hinein. Die Nacht der Öffnung der Grenze in Deutschland – war da. Menschen strömten jubelnd und weinend nach Westen, wo sie Fremde umarmten. Ich sah es. Ich sah es von Westen her, wo Umarmungen selten an andere Menschen herangetragen wurden und der Körperkontakt überraschen konnte: Der riecht nach Schweiß, der Verschluss ihres BHs, sein Bauch, ihre Speckwelle oberhalb des Gürtels. Details, die beide verrieten, den, der umarmte, und den, der die Umarmung hinnahm. Man gewann oder verlor auch Wärme in einer Umarmung. Das machte verletzlich. In der Physik strömt Wärme zu Kälte und nicht Kälte zu Wärme. »Kälte kriecht in mich hinein« ist ein falscher Befund; »Wärme strömt aus mir heraus und macht mich kälter« ist physikalisch korrekt. »Meine Nerven fühlen mein Erkalten« ist auch nur bedingt richtig. Wir fühlen mit ihnen nur den plötzlichen Übergang, die Überraschung, nicht das leise Abflauen oder Ansteigen von Wärme oder Kälte, es sei denn, es würde ein Grenzwert überschritten.

In mir war Ödnis. Meine Familie, meine Frau, meine Kinder, mein Balkon waren Geschichte. Sie hatten begonnen, in mir auszuflocken und zu sedimentieren, nicht viel mehr war mir möglich bis dahin. Besser, das alles nicht anrühren. Zeit kann gnädig sein. Wir müssen geduldig sein. Ich war in jener Nacht insbesondere nicht auf Frauen aus. Und, wie ich diese eine fand, genau in der Nacht der Öffnung der Grenze, war doch Zufall? Der Name der Frau ist Aysha. Sie und Freunde kamen mir entgegen. Ich wich ihnen zunächst leicht zur Seite hin aus. Das war bei der Siegessäule. Es war eine dunkle, sternenlose Nacht voller Lichter. Es gab Lärm, Klamauk, Gegröle und Gejohle. Die Neue Zeit war gekommen. Aysha ging neben einem Mann, den ich zwar kannte, den ich entfernt kannte, aber den ich nicht meinen Freund nennen würde. Dazu war er zu sehr auf seine Erscheinung bedacht, und das andere Land. Sie kamen auf mich zu. Ich sah sie an, ihr Gesicht. Ein solches Gesicht, ich schwöre es bei meiner Mutter, hatte ich nie zuvor gesehen. Ich war damals in einer offenen Verbindung mit einer Frau zusammen. Aus heutiger Sicht war ich in der Verfassung eines alleinstehenden Mannes, der auf seiner zu klein gewordenen Terrasse einen der wenigen Nachmittagstees trank angesichts der Gewissheit, dass der Winter bald einfallen würde, nein, dass die Wärme bald abfloss. Schon hatte ich aber nach viel Erfahrung begreifen gelernt, dass es Gott gab. Ich verstand sofort, als ich diese Frau sah. Ich verstand, was kommen würde, wie es weitergehen würde und was zu tun wäre.

Inmitten kurzer Begrüßung und Vorstellung durch den Bekannten sah ich sie weiter an. Sie blickte ihrerseits mich an. Heute weiß ich, dass sie damals bereits wusste, wer ich war: Ich ihr Alles, ich ihr Einziger. Ich ihr Immer. »Es waren deine blauen Augen«, sagte sie später, »die mich in dich hineingezogen haben.« Sie gingen weiter ohne große Worte. Beine interessieren mich, Beine von Frauen. Ich sah mich um. Das habe ich nur manchmal getan in meinem Leben, weil die Gelegenheit, schöne Frauenbeine zu sehen, so was von selten ist, dass es einem Mann wehtut. Ihre Beine waren gerade, nicht dünn, geschweige denn dürr. Ihr Kleid war großzügig genug geschnitten, dass man eigentlich alle körperlichen Konsequenzen hätte ahnen müssen, und doch, das weiß ich heute, hätte man keinen Zutritt erhalten. So war sie. Für wen, für was. Für keinen! Für mich. Und dieser Nebensatz ist für den einen oder anderen: Titten habe ich nicht geguckt. Man stiert nicht auf der Titten von die Frau, denn man ist keine Pferd, und sie ist kein Gebärvieh. Bevor sie, vielleicht auf immer, fortgegangen wäre und sie mich vielleicht nur ein einziges Mal in meinem Leben gestreift hätte, griff ich im Nachgehen ihren Arm. Ich sagte: »Ich möchte Ihnen das ein oder andere gern sagen – ich bin manchmal schwach.« Sie fragte: »Morgen um fünf, hier? Schwach ist, wenn du keine Liebe hast.« Sie ging weiter. Mein Zögern hätte nicht länger dauern dürfen. »Das meine ich nicht«, sagte ich. »Ich warte.«

Später, als wir längst eins waren, sagte sie noch diesen Satz in einer jener Stunden: »Schwache Männer neben Frauen, die nicht lieben können, werden durch sie zu Mördern.« Obwohl ich in vieler Hinsicht gesund bin, bin ich doch sicher, dass ich damals an Wärme gewann durch Aysha, heute meine Frau, und sie durch mich. Neben ihr ist Deutschland mir nicht egal, denn wir sind Teile von uns geworden, und auch des Landes. Zusammengehörige Teile, ein Einziges, aus Bruchstücken gefügt. Wir sind uns alles und jedes in diesem Land gemeinsam. Es schien damals, als sei Deutschland ohne uns undenkbar.

Scirocco

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