Читать книгу Scirocco - Gerhard Michael Artmann - Страница 8
Der Mann
ОглавлениеFreund, ruh dich stehend aus
nein, leg dich
nicht hin nicht einschlafen
wir brauchen dich aufrecht
Der junge Mann sah gut aus. Die Frau des Diktators hatte ein Auge auf ihn geworfen. Der Kerl war zudem intellektuell. Als er zur Toilette ging, folgte sie ihm. Auf dem Flur, bei dessen Rückkehr, zog sie an seinem Schlips. Der rutschte aus der Weste. Sie griff ihm ins Gebein. Der junge Mann war entsetzt. Der Diktator, der seine, diese Frau immer noch bestieg, aber hauptsächlich bei den Huren zu Hause war, saß nur zehn Meter weiter, nur durch die Tür vom Gang zur Toilette getrennt. Es schall sehr laut sein Lachen herüber. Sogar der Qualm seiner Zigarre zog seine Bahn zum Entlüftungsschacht des Klos. Jemand riss laut hörbar einen Witz über Huren, und alle lachten. Sie fummelte an seiner Hose herum und zog zugleich eine Titte heraus. Der junge Mann war wirklich attraktiv. Er war klug und unerfahren mit Weibern.
Das Mädchen, das der junge Mann vor wenigen Monaten getroffen hatte, wollte ihn gern heiraten. Ihr Vorname war Ànn. Sie hatte schon Ja gesagt, aber sie hätte den Kopf geschüttelt, hätte er sie nach Sex gefragt. Das war so damals. Sie wollte seine Ehe mit ihm, diesem Mann, und er wollte seine Ehe mit ihr, dieser Frau, mit Sex besiegeln, und zwar wenn alle Hochzeitsgäste weg waren. Sich gegenseitig die Klamotten herunterreißen, in die Ecke werfen und sich aufeinanderstürzen. – Macht nichts, wenn Blut fließt! – Sie wusste von ihrer Mutter, dass es ihr zu Beginn wehtun könnte, aber danach: »Wenn der Mann dich liebt, wirst du sehr glücklich sein.« Das Mädchen hatte dem jungen Mann dies in der Nacht auf der Bank vor dem Haus erzählt, kurz nachdem er es gefragt hatte, ob es seine Frau werden wollte. Die Hochzeit war für den kommenden Monat geplant. Es ging seither hoch her im Haus des Mädchens und in seinem, denn die Ehe zwischen Menschen, aus der Kinder entsprangen, das war keine Kleinigkeit. Es ging schließlich um die Zukunft. Da wurde gespart, da wurde zusammengekratzt, denn reich war niemand. Es sollte schön werden, damit diese beiden Menschen diesen Tag nie vergessen konnten. Das ganze Dorf war bereits eingeladen.
Der Diktator hatte heute Nachmittag einen seiner Unteroffiziere zu dem jungen Mann geschickt und ihn einladen lassen, zusammen zu essen und über die Zukunft des Landes zu reden. Er hatte freies Geleit versprochen. Dazu war der junge Mann bereit. Er zog seinen Anzug an, zu dem eine Weste gehörte, und ging hin. Es gab Speisen, von denen der junge Mann gelesen hatte, denn zeitgleich zu seiner anständigen Erziehung hatte er auch Kochbücher gelesen. Kochbücher entziffern war einfach für ihn, denn kochen konnte er. Er musste als Jugendlicher nur einzelne Worte begriffen gehabt haben, dann verstand er, was gekocht wurde, weil er eben wusste, wie gekocht wurde. So hatte er lesen gelernt. Später las er Nietzsche und Marx, Robinson Crusoe und alles, was ihm als geschriebenes Wort in den Weg kam. Er las die Bibel, sogar den Koran. Er hatte Konfuzius gelesen, der ihn besonders beeindruckte, und sogar ein wissenschaftliches Buch, die Doktorarbeit von Albert Einstein, die ein Verleger ins Spanische übersetzt und drucken lassen hatte. Irgendein Reicher aus den Villen der Umgebung hatte fünfhundert Exemplare davon gekauft und sie für jedermann in der Dorfkirche auslegen lassen. »Macht nichts, wenn die Leute sie mit nach Hause nehmen. Wenn die Bücher alle weg sind, besorge ich mehr.« So äußerte sich der reiche Mann. Der junge Mann hatte das Buch gelesen. Er weiß noch wie heute, wie sehr er sich gewundert hat, dass man auf Gedanken kommen konnte wie Einstein. Wie konnten Menschen denken, dass bei sehr hoher Geschwindigkeit alles anders ist? Sogar, dass es eine Geschwindigkeit gibt, die wir Menschen nicht überschreiten können. Der junge Mann hatte beim Lesen sehr wohl an den Rand der entsprechenden Seite geschrieben: »Gott hat uns Menschen eine Grenze unserer Geschwindigkeit gesetzt, jenseits derer ER sich bewegt.«
Und nun kniete die Frau des Diktators vor seinem Hosenlatz. Er wurde steif im Rücken, denn auch er wollte keine Frau gehabt haben vor seiner Frau. Sie guckte hoch. Er sagte: »Ich kann nicht, ich bin versprochen.« Sie ließ von ihm ab und äußerte: »Dann kann ich dir auch nicht helfen.« – »Macht nichts«, sagte er, »aber trotzdem vielen Dank.« Der junge Mann war für heute eingeladen, damit zwischen der Regierung und den Revolutionären mit ihm, dem Führer, endlich Frieden beschlossen werden sollte in seinem Land. Er war gern gekommen. Nicht, weil er nicht mehr im Wald und im Dreck leben wollte. Da wäre er zur Not auch gestorben, aber »Friede«, das war eine Sache. Warum sich nicht mit der Regierung an diesen Tisch setzen?
Die Frau des Diktators ging vor ihm zurück in den dining room. Er wartete aus Respekt, und damit kein Verdacht auf sie fiel, noch ein paar Minuten. Dann zog er nochmals die Spülung und kehrte zurück. Der Diktator und seine Frau hatten eine sehr anregende und anscheinend lustige Konversation. Er setzte sich zu ihnen und aß sein Tiramisu. Man trank noch einen Cognac.
»Auf die Zukunft!«
»Auf die Zukunft!«
Der junge Mann war natürlich als Führer der Revolutionäre nicht leichtsinnig gewesen. Er hatte neben seinem Fahrer auch zwei Sicherheitsleute mitgebracht, die draußen gewartet hatten. Er stieg nach dem Essen ins Auto und fuhr mit ihnen davon.
Nach etwa fünf Kilometern hielt eine Polizeikontrolle sie an und wollte ihre Papiere sehen. Der junge Mann beruhigte seine Leute und sagte: »Alles in Ordnung« und »Hier ist der Brief der Regierung, dass wir freies Geleit haben.« Die Streife bat ihn auszusteigen, und seine Begleiter auch. Sie führten sie um ein Haus herum.
Als sie hinter dem Haus waren, rief jemand: »Halt!« Es war ein Offizier der Regierungsarmee, der lässig mit halb erhobenem Gewehr hinter einem Baum hervortrat. Dann zeigten sich dessen Soldaten. Sie formierten sich in Reihe. »Eine Falle«, erschrak der junge Mann und griff zum Revolver. »Nicht!«, schrie jemand. Es war seine Verlobte. Man hatte sie an die Veranda gebunden. Er ließ den Revolver fallen, stürzte zu ihr und umarmte sie. »Ànn«, flüsterte er. »Warum bist du mir nur nachgegangen?«, fragte er entsetzt. »Legt an!«, rief jemand. Der junge Mann drehte sich um und drückte dabei seinen Körper gegen ihren, so, als könnte er aufhalten, was nun folgte. Mit geschlossenen Augen, ihre Hände in seinen, vernahm er die Salve wie aus weiter Ferne und erwartete den Tod.
Eine Unendlichkeit später sah er sich um. Er fand den Offizier leblos am Boden liegen. Die Soldaten flohen überstürzt. Seitlich stand die Frau des Diktators, dahinter ihre Männer. Ihr Gesicht war aschfahl. »Geht«, rief sie, »bevor er hier ist.« Ihre Stimme bebte. »Er hält sein Wort nie. Das hätten Sie wissen müssen. Er wird gleich da sein. Wenn er uns hier findet … Nehmen Sie Ihre Geliebte mit, und – werden Sie glücklich.« Ihre Worte klangen erschrocken und traurig zugleich. Sie waren leise gesprochen, als hallten sie aus ferner Vergangenheit wider.