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Studentenalltag
ОглавлениеAm Flughafen Zürich wird Olivia von Tim und Anna abgeholt. Sie ist froh, dass sie nicht mit dem Zug nach Basel fahren muss. Tim hat den Audi von seinem Vater ausgeliehen. Er muss lediglich das Benzin zahlen. Solche Eltern sollte man haben, denkt Olivia, doch das ist ein anderes Thema. Im Moment freut sie sich über die herzliche Umarmung von Anna. Die scheint sich echt zu freuen. Anscheinend macht es ihr nichts aus, dass sie die Wohnung nicht mehr für sich allein beanspruchen kann.
Auch Tim umarmt sie stürmisch und gibt ihr die obligatorischen drei Küsse auf die Wange. Mit einem Seitenblick beobachtet sie Anna. Ist sie eifersüchtig auf Tim? Anscheinend nicht. Sie hatte ihn ja acht Wochen für sich beanspruchen können. Entweder funkt es in dieser Zeit, oder man lässt es sein. Immerhin vertragen sich die Zwei noch, viel kann Olivia also nicht verpasste haben. Ausserdem ist sie vom langen Flug müde und hat kein Verlangen zum Flirten.
«Nun erzähl doch, was hastet du die ganze Zeit gemacht», will Anna wissen, «wurdest du die ganze Zeit von Männern verführt?»
«Ach die Männer! Du interessierst dich sicher für das unterm Lendenschurz. Da muss ich dich enttäuschen, das erinnert eher an die hängenden Gärten von Babylon. Es war selten, dass sich ein Lendenschurz aufrichtete, dies passierte ab und zu, wenn ich mit einem Kerl allein Pflanzen einsammelte und er in meinen Ausschnitt schaute. Da stellte ich fest, dass sie recht gut bestückt sind.»
«Du bist unglaublich», protestiert Anna, «als ob ich nur an das Eine denke, ich bin doch kein Mann!»
«Entschuldigung, ich wusste nicht, na lassen wir das. Zurück zu den Männern, die hatten zu viel zu tun, das Beschaffen der Nahrungsmittel erfordert im Dschungel einen grossen Aufwand. Die Jagt ist nicht einfach, da brauchst du Tage, um ein paar Kalorien aufzutreiben.»
«Du meinst, die brauchen die gesamte Zeit, um sich die Lebensmittel zu beschaffen», fragt Anna nach, «das ist nicht besonders wirtschaftlich, ich hoffe, du konntest ihnen zeigen, wie man es besser macht.»
«Nein, ich war nicht als Entwicklungshelfer im Dorf», berichtigt Olivia, «das Leben dort ist nicht so hektisch wie hier, die Bewohner sind den ganzen Tag beschäftigt ihren Kalorienbedarf zu decken.»
«Sie haben sicher Zeit, das Leben zu geniessen», meint Tim, «was machen Sie zur Entspannung?»
«Wenn sie etwas Zeit haben, dann sind sie kreativ tätig. Sie flechten einen Korb oder schnitzen eine Figur. Die Männer basteln dauernd an ihren Blasrohren oder Pfeilbogen herum, sie versuchen sich steht’s zu verbessern, diese Eigenschaft scheint dem Menschen angeboren zu sein.»
«Eine erstaunliche Feststellung», meint Tim, «diese Eigenschaft scheint selbst im Dschungel nicht zu verkümmern, je härter die Bedingungen, umso mehr ist man gefordert, wirklich eine erstaunliche Feststellung.»
«Machst du dich lustig über diese Menschen?»
«Nein, keineswegs, es war nicht ironisch gemeint, ich bewundere die Leute, die sich unter solchen Bedingungen durchschlagen müssen. Allerdings befürchte ich, wenn sie sehen, wie man anderswo lebt, werden sie sich auf den Weg machen, um das einfachere Leben zu suchen.»
«In diesem Dorf besteht keine Gefahr. Die sind so abgelegen, dass wirklich keine Kontakte zur Zivilisation hergestellt werden kann.»
«Sie hatten doch Kontakt zur Zivilisation», bemerkt Anna, «allein deine Anwesenheit war genug Kontakt, die werden sich fragen, wozu du dies und jenes Utensil benötigst, dann müssen sie nur noch eins und eins zusammenzählen, dann kommen sie schon drauf wie der Hase läuft.»
«Sicher war meine Anwesenheit eine Provokation für die Leute», versucht sich Olivia zu erklären, «deshalb bin ich auch nicht als Entwicklungshelferin hingegangen, im Gegenteil, die Leute hatten Mitleid mit mir, weil ich im Dschungel so hilflos war. Das war auch der Grund, warum ich keine moderne Ausrüstung mitnehmen durfte. Deshalb hatte ich kein Mobiltelefon mit dabei, lediglich der Fotoapparat wurde mir von der Regierung gestattet. Ich benutzte ihn übrigens recht selten und wenn, nur so, dass es niemand bemerkte. Ich habe auch keine Fotos gezeigt, wenn sie mich mit dem Apparat hantieren sahen, wussten sie nicht, was ich damit mache.»
«Schon gut Olivia», beruhigt Anna, «du musst dich nicht verteidigen, ich denke, du hast es schon gut gemacht. Jetzt ist es eh zu spät, die Dorfbewohner müssen deinen Besuch verkraften. So wie du es erzählst, werden sie es schaffen.»
Inzwischen verlassen sie bereits die Autobahn, schon bald sind sie zu Hause in ihrer Studentenwohnung. Olivia freut sich auf ihr Bett, auf eine Bratwurst und viele andere Kleinigkeiten, auf die sie die letzten Wochen verzichten musste.
Am späteren Vormittag macht Anna Kaffee. Vorsichtig klopft sie an die Türe von Olivia.
«Hast du Lust auf feinen Bohnenkaffee?»
«Da kann ich nicht nein sagen, ich bin schon einige Minuten wach, ein Kaffee ist genau richtig.»
«Gut, ich hole zur Feier des Tages noch frische Brötchen in der Bäckerei, ich bin in drei Minuten zurück.»
«Mit was habe ich das verdient», fragt Olivia, als Anna von der Bäckerei zurückkommt.
«Nun, du hast mir gestern bei meiner Semesterarbeit sehr viel geholfen.»
«Ich?», fragt Olivia verwundert, «ich habe doch gar nichts Schlaues gesagt, ich war viel zu müde.»
«Doch hast du!», erklärt Anna, «die Bemerkung über die Dorfbewohner, welche sich den ganzen Tag abmühen müssen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, damit triffst du einen wunden Punkt in unserm Wirtschaftssystem.»
Das war nun Olivia zu hoch. So früh am Morgen war sie noch nicht in Stimmung zu grossen Diskussionen. Sie ist zufrieden, dass sie Olivia helfen konnte.
«Wir benötigen nur siebzehn Prozent unserer Tagesarbeit zur Beschaffung der Nahrungsmittel. Wenn wir sie Importieren, ist der Prozentsatz noch tiefer.»
«Und, wenn schon, was hat das mit der Wirtschaft zu tun?»
«Es trifft genau ins Schwarze. Uns ist es langweilig, wir wissen nicht mehr, womit wir uns beschäftigen müssen. Jahrelang war die Autoindustrie unser Motor, welcher die Wirtschaft am Leben hielt. Nun hat beinahe jeder sein Auto, zudem wird die Lebensdauer der Autos immer länger, der Absatz stagniert. Da hilft auch Werbung nichts mehr, die Menschen haben sich abgestumpft. Zudem ist inzwischen jedem klar geworden, dass ein grosses Auto kein Statussymbol mehr ist, die Probleme mit der Umwelt reduzieren den Anreiz zusätzlich.»
«Da erzählst du doch nichts Neues», wirft Olivia ein, die eigentlich noch zu wenig wach ist, um eine solche Diskussion zu führen.
«Jede Kultur nutzte die überschüssige Zeit damit, Dinge zu bauen, die keinen direkten Nutzen bringen. Als bestes Beispiel fallen mir die Pyramiden ein. Weil das Niltal so fruchtbar war, musste man nicht jeden Mann in der Landwirtschaft einsetzen. Bereits die Pharaonen wussten, dass der Mensch eine Beschäftigung braucht, sonst wird er unzufrieden. Deshalb begannen sie, die Pyramiden zu bauen. Sie mussten die Kriegsgefangenen beschäftigen und entschieden sich, Pyramiden zu bauen, wie die Geschichte zeigt, eine lohnende Investition in die Zukunft, noch heute profitieren die Menschen am Nil von den Touristen, welche die alten Bauwerke bestaunen wollen.»
«Jetzt bist du ganz übergeschnappt», entsetzt sich Olivia, «die Pyramiden wurden von den Pharaonen aus reiner Geltungssucht und aus ihrer Überzeugung, dass sie nach dem Tod ein neues Leben erwartet, gebaut. Nur deshalb versuchten sie möglichst viel mitzunehmen und liessen die Pyramiden bauen.»
«Natürlich stimmt das, doch bedenke, wenn sie neunzig bis hundert Prozent zur Nahrungsbeschaffung hätten aufwenden müssen, hätten sie die Pyramiden nie bauen können, weil ihnen die Bauarbeiter verhungert wären. Ist doch logisch – oder!»
«Ja, so gesehen hast du Recht, doch was hat das mit unserer Wirtschaft zu tun?»
«Sehr viel, zu jeder Zeit setzten die Menschen ihre überschüssigen Ressourcen für Dinge ein, die es nicht unbedingt braucht. Ein zweites Beispiel, die Dombauten im Mittelalter, hier zeigt sich auch deutlich, wie die Finanzierung geregelt wurde. Leute die nicht direkt mit dem Bau zu tun hatten, mussten durch hohe Steuern den Bau finanzieren.»
«Ja und die armen Familien sind dabei beinahe verhungert.»
«Schon, doch es hatte gereicht, die Kirchen stehen in unseren Städten, wie viele Leute dabei ihr Leben hergeben musste, das interessierte niemand. Das Leistungsprinzip spielte schon damals, nur wer arbeitet und Leistung bringt, hatte ein Recht zu überleben.»
«Das ist doch eine gewagte Theorie, die würde ich nicht herumerzählen.»
«Natürlich gilt dieses Prinzip heute nur noch bedingt, die Menschen sind sozialer geworden, wir können uns Wohltätigkeit leisten.»
«Zum Glück, mit dem Mittelalter möchte ich mich nicht beschäftigen, das war mir zu grausam. Da bin ich mit meinen Pfahlbauern besser bedient, die hatten es friedlicher.»
«Schon, damals gab es noch genügend Raum, die Gegend war nur dünn besiedelt, sicher haben auch sie ihre Probleme gehabt. Einfach war das Leben auch damals nicht, das müsstest du besser wissen als ich.»
«Nur waren die Probleme ganz anders gelagert als heute, die Sorgen galten der Gemeinschaft, die Familie war alles», erklärt Olivia.
«Die hatten Glück, sie haben einen guten Zeitpunkt erwischt, um hier zu leben. Sicher waren schon zu jener Zeit nicht alle Leute frei in unserem Sinne, sie wurden von den Häuptlingen gut kontrolliert», stellt Anna nüchtern fest.
«Ja vielleicht, doch wer sich an die Regeln hielt, lebte angenehm, es ist halt so, dass man der Gemeinschaft dienen muss, das ist doch nicht schlimm», verteidigt sich Olivia.
«Solange die Häuptlinge nicht zu mächtig werden, ist das in Ordnung. Doch wer kontrolliert die Leute, die zu viel Macht an sich gerissen haben, da hat der Einzelne keinen Möglichkeit mehr sich zu wehren.»
«Danke für den Kaffee, ich bin noch nicht in Stimmung, solche Diskussionen zu führen. Ich glaube ich brauche noch etwas Ruhe, ich fahre mit dem Bike auf den Blauen, ich muss mich etwas sammeln, der Kulturschock wirkt noch zu stark.»
«Wie du willst, es wird dir gut tun. Ich muss mich sowieso an meinen Bericht halten, dank dir weiss ich jetzt wenigstens was ich schreiben muss».
Olivia rüstet sich für ihren Trip mit dem Mountainbike zum Blauen. Das ist der Hausberg der Basler.
Anna zieht sich an ihren Schreibtisch zurück und schreibt an ihrer Semesterarbeit. Die Diskussion mit Olivia hat sie so richtig beflügelt. Zumindest bekommt der Professor einiges zu lesen, ob er davon begeistert ist, wagt sie zu bezweifeln. Sie ist jetzt so richtig in Fahrt gekommen. Für ihre Theorie, dass sich die Menschen mit angeblich unnötigen Dingen befassen müssen, wenn sie ihre Grundbedürfnisse befriedigt haben, findet auch in der Neuzeit viele Bespiele. Der Autobahnbau der Nazis und das Apollo-Projekt der Amerikaner sind nur die bekanntesten Beispiele.
Im einundzwanzigsten Jahrhundert haben die Menschen in Europa zwei Probleme, erstens ist das Vertrauen in das Geld gesunken und zweitens, - vermutlich der Auslöser des Ganzen, hat sich die Autoindustrie derart in eine Überproduktion gesteigert, dass es in diese Richtung nicht mehr weiter geht. Alternativen, wie die Rüstungsindustrie, die Produktion von Luxusgütern und das Gesundheitswesen, stossen ebenfalls an ihre Grenzen. Beim Militär ist es sogar so, dass, zumindest in Europa, eine Abbauphase eingeleitet wurde, dies kostet zusätzliche Arbeitsplätze. Das alles kombiniert mit den Umweltproblemen, macht eine Lösung nicht einfacher. Die Wirtschaft braucht mittelfristig neue Ziele.
Inzwischen ist Olivia mit dem Regionalzug drei Stationen aus der Stadt herausgefahren. Wieder mit einem Fahrrad fahren, ein anstrengendes aber schönes Erlebnis. Noch steigt die Strasse nur leicht an, da kommt sie noch gut voran, doch später auf dem Waldweg, wird es schwieriger. Schon mit dem Kies auf dem Weg hat sie grössere Probleme, als dann der Weg noch stärker ansteigt, muss sie absteigen und das Bike schieben. Sie schiebt das Bike nicht gern, früher fürchtet sie die mitleidigen Blicke der anderen Biker, doch heute ist sie allein im Wald, also kein Grund, sich zu quälen, schliesslich muss sie ihre Form zuerst wieder finden.
Langsam gewinnt sie an Höhe. Auf einem Aussichtspunkt setzt sie sich auf die Bank und entnimmt dem Rucksack das Mittagessen. Sie lässt ihren Blick über die Wälder des Tafeljura schweifen. Könnte man in diesen Wäldern noch überleben? Gäbe es ausreichend Früchte und genug Wild zum Jagen? Sicher nicht, das beginnt schon damit, dass man nur im Herbst jagen darf, auch das Sammeln von Pilzen ist zeitlich begrenzt. Früchte tragen die Bäume ebenfalls nicht, die Buchen und Tannenwälder sind nicht zur Ernährung des Menschen geeignet.
Nach einer Stunde packt sie ihre Sachen zusammen und macht sich vorsichtig auf die Abfahrt. Sie fühlt sich besser, als vorher, die Ruhe des Waldes hat ihr gut getan. Noch fühlt sie sich nicht zuhause angekommen. Das wird noch einige Tage dauern. Vielleicht kann sie sich nach Eintreffen ihres Gepäcks neu motivieren. Noch fühlt sie sich ausser Stande, an ihrem Bericht zu schreiben. Sie hat sich noch nicht einmal aufgerafft, ihren Computer zu starten. Sicher ist ihre Mailbox zum Bersten gefüllt, doch das lässt sie noch kalt.