Читать книгу Stadt, Land, Klima - Gernot Wagner - Страница 12
Potenzial für: mehr
ОглавлениеUmgelegt auf den Klimaschutz bezieht sich die Frage nicht auf den durchschnittlichen Bewohner von Stadt, Suburbia oder Land. Die eigentliche Frage lautet: Welchen konkreten Beitrag leistet die nächste Person, der nächste Haushalt zu Klima schmutz und Klimaschutz?
Denn der Durchschnitt ist bekannt: Die CO2-Emissionen sind am Land und in der Stadt etwa gleich hoch, in Suburbia aber betragen sie das Doppelte. Ebenso bekannt ist, dass die CO2-Emissionen da wie dort drastisch sinken müssen. Es geht also nicht nur um das Jetzt – es geht um die Zukunft; um Möglichkeiten, das Potenzial, CO2-Emissionen noch viel stärker zu reduzieren.
Die Durchschnittsfamilie lebt in einem Durchschnittshaus. Sie fährt ein Durchschnittsauto (zumindest am Land und in Suburbia – in der echten Stadt fährt sie durchschnittlich keines). Sie ernährt sich durchschnittlich. Ihre Reisen sind Durchschnitt.
Die wirkliche Klimafrage bezieht sich jedoch auf die marginale, die nächste, die erste Familie – und auf deren Potenzial, mehr beizutragen: Lebt diese Familie im Alt- oder Neubau? Fährt sie ein Benzin- oder Elektroauto oder gar keines? Auf wie vielen Quadratmetern lebt sie? Ließen sich diese Quadratmeter besser isolieren, energieeffizienter versorgen? Lässt sich das Leben insgesamt noch effizienter gestalten? Welcher Anreize bedarf es, genau so zu handeln? Und schlussendlich auch: Wie wird die Wahl des Lebensortes die Familie selbst verändern? Was bedeutet es für die Weltoffenheit der Kinder, wenn die Familie inmitten einer diversen Stadt dem Anderen täglich begegnet? Für welche Politik werden diese Kinder – und natürlich auch jetzt schon die Eltern – stimmen?
Die Antwort, wo diese nächste Familie wohnen sollte, könnte nicht eindeutiger ausfallen: in der Stadt! Stadt ist, wo das Leben reichhaltig und effizient ist, erfüllend und CO2-arm. Stadt ist auch, wo das Potenzial für „mehr“ steckt. Stadt ist, wo relativ kleine Schritte große Unterschiede machen können – wo es möglich ist, mit einer strategisch klug eingerichteten Buslinie, mit einem Radweg, mit einer umgestalteten Straße die CO2-Emissionen merkbar fast über Nacht zu reduzieren.
Egal, um welche Stadt es dabei geht: Wenn eine vormals vierspurige Autostraße in einen geschützten, vollwertigen Radweg, eine eigene Busspur und zwei verbleibende Autospuren umgewandelt wird, dann multiplizieren sich die Radfahrer und jene, die den Bus bevorzugen, ganz von selbst – und zwar innerhalb von Tagen und Wochen. Wenn die Stadt immer schon verschiedene Möglichkeiten bot, um von A nach B zu kommen, dann fällt der Umstieg von einer Option zur anderen leicht.
Wenn es hingegen immer schon nur eine einzige Option gab, um von C nach D zu kommen – das eigene Auto etwa –, dann wird der Umstieg um ein Vielfaches schwieriger. Und noch schwieriger wird es, wenn Klimaschutz einen noch viel größeren Schritt erfordert – einen Umzug etwa.
Eine der größten Klimasünden überhaupt sind demnach kostenlose (oder zumindest sehr günstige) Parkplätze:19 Wenn ich weiß, dass ich in der Stadt meine ganz persönliche Tonne Stahl gratis parken darf, dann werde ich das auch tun. Das bedeutet mitunter, dass der Umzug in ein Haus im „Grünen“ plötzlich um ein Vielfaches leichter fällt – ich könnte ja immer mit dem Auto zurück in die Stadt fahren. Sobald ich dann in diesem Haus in einem fernen Vorort wohne, bin ich für geraume Zeit auf das Auto angewiesen.
Technisch gesehen handelt es sich dabei um den Lock-in-Effekt: Die Wechselkosten und sonstigen -barrieren sind so hoch, dass ein solcher Wechsel – weg vom Auto etwa – kaum noch möglich ist. Aus dem fernen Vorort oder vom Land kommt man schließlich ohne Auto nur schlecht in die Stadt. Selbst jene, die grundsätzlich die Möglichkeit haben, etwa mit dem Zug zur Arbeit zu fahren, brauchen immer noch irgendwo Zugang zu einem Auto; man weiß ja nie. Je mehr Menschen nun an diese Orte ziehen – im Wissen, dass sie fast täglich mit dem Auto zur Arbeit zurück in die Stadt fahren werden –, desto mehr dieser Fahrten sind locked-in, das heißt: Alternativen zur Autofahrt gibt es nicht mehr.
Je größer der Lock-in, desto schwieriger wird es auch, intelligente Klimapolitik zu betreiben – und etwa Gratisparkplätze abzuschaffen. Die unmittelbare Reaktion auf eine solche Maßnahme ist ein Aufschrei: „Die armen Pendler! Sie müssen jetzt plötzlich mehr bezahlen!“ Solche Debatten gibt es fast überall auf der Welt. Stadtpolitiker sind meist für, Vorstädter, Autofahrerklubs, die Automobilindustrie und ähnliche Interessengruppen gegen die Abschaffung billiger Parkmöglichkeiten. Und was für Parkplätze gilt, das gilt auch für viele andere Infrastrukturinvestitionen, die es jenen aus Suburbia leichter machen, in die Stadt zu kommen – von breiteren Straßen bis hin zur Grünphase für die Durchzugsstraße, während die lokalen Schulkinder länger warten müssen.
All das bedeutet, dass Klimapolitik nicht nur aus CO2-Bepreisung bestehen kann, einer Verteuerung der CO2-Emissionen oder der städtischen Parkplätze. Das auch – allerdings stellt der Lock-in-Effekt sicher, dass eine solche Verteuerung zunächst hauptsächlich zu höheren Kosten für Autofahrer führt, ohne noch einen entsprechenden Unterschied in Sachen Emissionen zu bewirken. Es gibt auf kurzfristige Sicht keine Alternativen. Der einzige Unterschied ist vielleicht ein Aufkleber am Auto, um meinem Unmut gegen die neue politische Maßnahme Ausdruck zu verleihen. Die CO2-Emissionen würden aber – zumindest kurzfristig – kaum sinken.
Mittelfristig kaufe ich mir vielleicht ein sparsameres Auto, oder auch gleich ein Elektroauto, weil es dafür eine Befreiung von der Parkgebühr gibt, um ebendiese Anreize zu schaffen. Vielleicht kann ich meinen Arbeitgeber auch dazu bewegen, dass ich öfter von zu Hause aus arbeiten darf. Die CO2-Emissionen sinken nun, allerdings gibt es auch hier Limits: Der Lock-in-Effekt besteht teils immer noch.
Erst langfristig machen die CO2-Steuer oder die neue Parkgebühr einen echten Unterschied: wenn nämlich Familien aus dem Vorort und vom Land wieder ans Übersiedeln denken.
Der wichtigste Schritt überhaupt: diesen Lock-in von vornherein zu vermeiden – erst gar nicht aus der Stadt wegzuziehen.
Deshalb geht es bei Klimapolitik neben einer CO2-Steuer einerseits auch um direkte Steuerung – um Verkehrs- und Regionalpolitik, um Stadtplanung – und andererseits vor allem um Investition: Es geht darum, Alternativen zur derzeitigen CO2-intensiven Lebensweise zu schaffen. Es geht darum, Menschen dabei zu helfen, ihren derzeitigen Lock-ins zu entkommen und sie erst gar nicht so zu schaffen. Oft ist es genau der Mangel an einfachen Alternativen, der Klimapolitik so schwierig macht: Denn kaum jemand gibt an der Wahlurne seine Stimme für jene Politik, die einem das eigene Leben schwerer macht. Es geht um Alternativen – billigere und bessere Alternativen.20
Lock-ins gibt es überall – auch in der Stadt. Allerdings sind es hier deutlich weniger: Stadt ist flexibel. In der Stadt ist es viel einfacher, eine alternative Route von A nach B zu finden. Die Stadt ist schon jetzt effizient und klimafreundlich. Und sie birgt auch Potenzial für mehr. Das ist vor allem bei einer der wichtigsten Klimafragen überhaupt der Fall, wo menschliches Leid durch Klimawandel auf menschliches Leid durch Armut stößt.