Читать книгу Stadt, Land, Klima - Gernot Wagner - Страница 14
Potenzial für: viel mehr!
ОглавлениеBei der Frage nach dem Potenzial könnte die Antwort nicht klarer ausfallen: Davor strotzen Städte nur so. Das gilt für Mobilität und Verkehr ebenso wie für die Gebäude – von der effizienten Flächennutzung bis zur Isolierung und der effizienten, CO2-armen Energiezufuhr.
Unsere 70-Quadratmeter-Wohnung liegt im zweiten Stock eines Hauses mit insgesamt sieben Einheiten. Das gesamte Grundstück misst nur etwa 200 Quadratmeter, einschließlich eines kleinen Gartens. Es ist ein relativ kleines Gebäude, errichtet vor fast 200 Jahren. Die Mauern sind entsprechend dick – damals wurden europäische und amerikanische Häuser noch recht ähnlich gebaut. Mittlerweile klaffen die Standards auseinander: effiziente Gebäude fast überall in Europa, während amerikanische Neubauten oft mit papierdünnen Tyvek-Schichten isoliert werden – dasselbe Material, aus dem auch Briefumschläge hergestellt werden.
Es gibt zwar regionale Ausnahmen von der Regel, dass sich Städte überall auf der Welt in dieser Hinsicht ähnlicher sind als der jeweilige Unterschied zwischen Stadt und Land – allerdings in diesem Fall leider nur auf einem einzigen Kontinent, in Europa: In Deutschland etwa werden die Gebäudestandards auf Bundesebene geregelt. Die Vereinigten Staaten dagegen sind sich in dieser Hinsicht alles andere als einig: Neubauten in New York werden noch relativ gut isoliert, sind energieeffizient und erhalten teils sogar Dachbegrünung oder Solaranlagen.30 Die New Yorker Standards kommen somit jenen in Deutschland – die dort für Stadt und Land gelten – recht nahe. Doch der Unterschied zwischen New York mit seinen strikten Regeln und den vielen ländlichen Regionen der Vereinigten Staaten, in denen es kaum solche Gebäudebestimmungen gibt, ist enorm.
Potenzial für mehr gibt es freilich auch in New York. Enormes Potenzial! Unsere eigenen allerersten Investitionen als neue Wohnungsbesitzer waren etwa: Deckenisolierung nach deutschen Passivhausstandards, eine effiziente Wärmepumpe und ein Anruf beim Energieversorgungsunternehmen, um die Gasleitung abzustellen. Der Gasherd schadet in jedem Haus sowohl dem Klima als auch der eigenen Gesundheit.31 Und in einer 70-Quadratmeter-Wohnung, wo die Distanz zwischen Küche und Kinderbetten weniger als fünf Meter beträgt, wollten wir in dieser Hinsicht lieber erst gar keine Selbstexperimente wagen. Der Induktionsherd ist auch um einiges effizienter.
Mittlerweile besitzen alle unsere sechs Nachbarn ähnlich effiziente Wärmepumpen. Die nächste gemeinsame Investition: eine Außenisolierung für das gesamte Haus.
Realistisch betrachtet sind derzeit viele Investitionen dieser Art freiwillige Beiträge. In bessere, hochwertigere Isolierung zu investieren, ist grundsätzlich gut fürs Klima, ebenso für das subjektive Wohngefühl. Doch Letzteres muss einem aktuell noch viel mehr wert sein als rein ökonomische Überlegungen: mehr Architektur- und Lifestyle-Magazin als Financial Times.
Denn finanziell gesehen zahlt sich die Investition in die Deckenisolierung oder die bessere Isolierung der Außenwände für uns alleine genommen nicht aus – weder in den Vereinigten Staaten noch in Deutschland. Deshalb müssen politische Maßnahmen gesetzt werden, um die richtigen Anreize zu schaffen: um zu gewährleisten, dass die jeweiligen Investitionen den echten Klimakosten gerecht werden. Eine der wichtigsten Kennzahlen in diesem Zusammenhang ist der echte Preis für CO2 – also jener Preis, den wir alle bezahlen sollten, nicht der, den wir derzeit bezahlen.
Aktuell zahlen Europäer durch das EU-weite Emissionshandelsgesetz für etwa 50 Prozent ihrer CO2-Emissionen rund 25 bis 30 Euro pro Tonne. Kalifornier bezahlen für 85 Prozent ihrer Emissionen rund 15 bis 20 Dollar pro Tonne. Das ist zwar besser als nichts, allerdings liegt es weit unter den echten Kosten, die jede Tonne CO2 verursacht: Diese betragen weit über 100 Dollar (oder Euro – das macht hier aufgrund der großen Bandbreite keinen Unterschied).32
Glücklicherweise kommt hier eine weitere Tatsache ins Spiel: Städte fast überall auf der Welt ähneln sich auch hinsichtlich der politischen Einstellung enorm. Jeweils rund 80 Prozent der New Yorker etwa wählten bei der Präsidentschaftswahl 2016 die Demokratin Hillary Clinton und 2020 ihren Parteikollegen Joe Biden.33 In neun der zehn deutschen Millionenstädte erhielten die Grünen bei der letzten Europawahl die meisten Stimmen. In Frankreich und Großbritannien liegen in den Städten die progressiven Parteien vorne, ebenso in Österreich, und das Bild wiederholt sich in den verschiedensten Ländern.34
Städte sind tendenziell liberaler, progressiver, sozialer und globaler ausgerichtet – genau die Einstellung, um die es beim Klimaschutz geht. Das umliegende Land hingegen ist tendenziell konservativ, bodenständig, auf die eigene Nation, die eigene Gruppe, die eigene Familie fokussiert. (Wobei das mit der eigenen Familie so eine Sache ist: Wenig fördert das Familienleben mehr, als zu viert auf „nur“ 70 Quadratmetern zu wohnen. Mehr zur „Stadtmoral“ in Kapitel 8: Moral.)
Der wichtigste Aspekt dabei ist, dass „Stadt“ in diesem Sinne wirklich das bedeuten muss: eine echte Stadt. Der verlässlichste Indikator in Sachen CO2-Emissionen ist die Einwohnerdichte. Je höher die Einwohnerdichte, desto geringer sind die CO2-Emissionen pro Kopf.35 Genau darum geht es.
In der echten Stadt zu leben bedeutet, im Alltag weniger CO2 zu verursachen.
Die Tatsache, dass das Leben in der Stadt auch bereichernd ist – und daher reicher macht –, ist ein zusätzlicher Vorteil. Es geht schließlich darum, CO2-ärmer – und nicht insgesamt ärmer – zu leben.
Ganz im Gegenteil: Klimaschutz bedeutet keineswegs die Wiederkehr des Mittelalters oder des 18. Jahrhunderts, vor der industriellen Revolution. Er bedeutet nicht weniger zu tun – das haben die Corona-„Lockdowns“ auf eindrucksvolle Weise gezeigt. Trotz radikalster Maßnahmen sanken globale Emissionen kaum. (Mehr dazu in „Mobilität nach der Pandemie“ in Kapitel 7: Mobilität.) Klimaschutz bedeutet ein Mehr an Aktivität, er bedeutet einen Vorstoß neuer Technologien. Das heißt auch, dass der zusätzlich erworbene Reichtum teils dazu verwendet wird, noch CO2-ärmer, noch technologisch fortschrittlicher zu leben.
Dabei geht es um die grundsätzliche Lebenseinstellung ebenso wie darum, die richtigen politischen Impulse zu setzen – etwa intelligente Stadtplanung und ein Fokus auf städtische Mobilität, um die 15-Minuten-Stadt zur Realität zu machen; jene, wo sich der Alltag, einschließlich Arbeit und Unterhaltung, innerhalb von 15 Gehminuten von zu Hause abspielt. Paris gilt als moderner Pionier dieses Konzepts, das eigentlich für Großstädte, die schon vor der Erfindung des Autos entstanden sind, nicht besonders neu ist. Es beruht auf der Idee von Stadt als Mosaik, bestehend aus einzelnen Nachbarschaften, die wiederum durch den öffentlichen Nahverkehr – oder auch das Fahrrad – direkt miteinander verbunden sind.
Klimaschutz bedeutet zugleich, Mobilität zwischen Stadt und Land zu gewährleisten, um auch hier nicht auf das eigene Auto angewiesen zu sein. Das funktioniert nicht immer ganz so gut, aber bereits jetzt sieht man etwa in München, Wien oder Zürich im Winter häufig Reisende mit Skiausrüstung am Bahnhof, mit der es direkt auf die Piste geht. In Cambridge, Massachusetts, waren wir meist die einzige Familie, die so an fast jedem Winterwochenende per Bahn zum nahe gelegenen Wachusett Mountain fuhr. Auch von New York aus gibt es genug Ski- und Wandermöglichkeiten, die per Bahn oder Bus innerhalb von einer oder zwei Stunden erreichbar sind.
Klimaschutz bedeutet vor allem zu realisieren, dass sowohl Stadt als auch Land den Schlüssel zur Zukunft darstellen: die Stadt als vornehmlicher Wohnort für den Menschen, das Land als vornehmlich der Natur vorbehaltener Bereich (und mit deutlich weniger Menschen). Klimaschutz hängt von der Balance zwischen Stadt und Land ab.
Die Frage des Klimaschutzes mag das ultimative Umweltproblem sein. Doch es ist leider bei Weitem nicht das einzige.