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2 Natur

Passivhausluftschlösser

Das erste Szenario für eine nachhaltige Zukunft:

Jeder Haushalt bekommt ein CO2-neutrales Passivhaus. Dessen perfekt isoliertes Dach beinhaltet eine große Solaranlage, die im Durchschnitt mehr Energie produziert, als das Haus selbst verbraucht. Mit dem Rest wird das Elektroauto in der Garage aufgeladen, dessen Batterie wiederum dem Stromnetz Stabilität verleiht.

Die Toilette recycelt Wasser, die Dusche verbraucht fast keines. (Eine Badewanne gibt es aufgrund des zu hohen Wasserverbrauchs, den sie bedeuten würde, ohnehin nicht.) Das Warmwasser wird per Wärmepumpe aufbereitet.

Der kleine Kühlschrank ist ausschließlich mit lokalen Produkten gefüllt. (Ob darunter auch Fleisch sein darf, ist Teil heftiger familieninterner Diskussionen.36) Die Marke der Schuhe heißt Birkenstock, das Lieblingshobby der Familie sind Wanderungen, und auch sonst ist alles biologisch, natürlich und ganz auf Umweltschutz getrimmt.

Vor der Haustür: Natur. Hinter dem Haus ohnehin, dort ist der unberührte Wald. Das einzige kleine Zugeständnis: Der alljährlich obligate kleine Weihnachtsbaum wird aus ebendiesem Wald besorgt. (Nachdem er seinen Dienst getan hat, kommt der Baum selbstverständlich wieder zurück in die Natur: per Kompostierung, der auch sonst alle möglichen Haushaltsreste zugeführt werden.)

Das zweite Szenario:

Die Durchschnittsfamilie wohnt im renovierten Mehrfamilienhaus. Die wohlhabenderen Familien haben ihre Altbauwohnung mittlerweile mit Isolierungsschaum nachgedämmt – nicht ganz nach Passivhausstandards, aber fast. Andere würden gerne diesen Schritt setzen, finden aber oft weder Geld noch Zeit dafür.

Das Dach ist teils begrünt, teils mit einer Solaranlage bedeckt, wenn auch mit einer relativ kleinen: Den Energiebedarf des Hauses deckt sie nicht ab. Größer kann sie nicht ausfallen, denn das Nachbarhaus würde sie verdecken. (Und das begrünte Dach trägt zwar zu einem besseren Mikroklima bei, aber auch das ist relativ: Die Temperaturen hier in der Stadt sind immer ein oder zwei Grad höher als am Land.)

Garage gibt es in diesem Haus keine. Nur eine der sieben Familien, die hier wohnen, hat ein eigenes Auto – sie verbringt ihre Wochenenden gerne am nahen Land. („Nahe“ ist dabei relativ: Ihre Lieblingswanderwege sind zwei Autostunden entfernt.)

Der Rest des Alltagslebens ist ebenso mit Kompromissen verbunden. Ein paar der Nachbarn kompostieren ihre Speisereste, aber das ist in der Stadt dann doch etwas kompliziert. (Vegetarier zu sein, ist dafür ein bisschen einfacher.)


Abgesehen vom Wohnort – Land beziehungsweise Stadt – sind die beiden Szenarien fast gleich: Die Durchschnittsfamilien sind gleich groß, und sie leben den Umständen entsprechend ähnlich klimafreundlich.

Der große Unterschied ist der konkrete Schauplatz. Das erste Szenario ist dabei eine „Vision“: So zu leben, wäre mithilfe heutiger Technologien bereits möglich. Die wenigsten tun es aber. Das zweite Szenario ist eine erweiterte „Version“ des heutigen Stadtlebens.

Es geht nun zunächst noch nicht darum, den jeweiligen CO2-Fußabdruck dieser beiden Szenarien zu hinterfragen.

Hier geht es um die Natur – also um die Frage: Welches der beiden Szenarien ist für die Natur besser verträglich?

Naturschutz versus Klimaschmutz

Der sogenannte „kalifornische Traum“, dass sich jede Familie ihr eigenes Einfamilienhaus, ein oder sogar zwei Autos und auch sonst alle Ressourcen anschafft, die man mit Geld kaufen kann, ist genau das: ein Traum, aus dem es so schnell wie möglich aufzuwachen gilt.

Denn CO2-Emissionen sind nur eine Folge einer solchen Lebensweise, denen durch konsequente Klimapolitik möglicherweise sogar Einhalt geboten werden könnte. Doch selbst dann, wenn jedes Einfamilienhaus in ganz Kalifornien – und auch anderswo auf der Welt – durch ein ideales Passivhaus ersetzt würde: Es bliebe immer noch das Grundproblem, dass diese Häuser, egal wie sie ausgestaltet sind, enorm viel Platz verbrauchen.

Um beim Beispiel Kalifornien zu bleiben: Die 40 Millionen Menschen, die hier wohnen, sind im Durchschnitt verhältnismäßig wohlhabend und progressiv eingestellt. Sie erleben mittlerweile jährlich immer größere Waldbrände.37 Ein Grund dafür heißt: Klimaschmutz – die immer glühendere Hitze. Doch ein weiterer wichtiger Grund ist, dass viele Wohnhäuser immer weiter in bisher unberührte Natur hinein errichtet werden.

Egal also, wie CO2-neutral das Passivhaus auch sein mag: Die Vorstellung, dass jede Familie in einem Einfamilienhaus leben könnte, ist reine Fiktion. Das gilt für Kalifornien und die schier endlosen Ansammlungen von Einfamilienhäusern. Es gilt für die Vereinigten Staaten insgesamt. Und es gilt auch für Deutschland, Österreich, die Schweiz und ein jedes andere Land.

Die aktuellen Zahlen zeichnen ein düsteres Bild für die Natur: In Deutschland etwa wurden im Zeitraum 2015 bis 2018 bundesweit täglich 56 Hektar Fläche an Ackerböden, Wald oder Grünland in Siedlungs- und Verkehrsflächen umgewandelt. Im Jahr 2000 lag diese Zahl sogar noch bei etwa 129 Hektar pro Tag. Inzwischen gibt es zwar die Zielsetzung, den Bodenverbrauch bis 2030 auf 20 bis 30 Hektar pro Tag zu senken.38 Doch die Umwandlung von Natur in bebaute Flächen geht damit trotz dieser ambitionierten Ziele weiter. Die einzige „nachhaltige“ Zahl wäre eine runde Null, wenigstens bezogen auf die Nettozahl, in welche auch die Rückwandlung von bebauten Flächen in Naturflächen miteinbezogen wird.

Die Hinweise, dass es höchst an der Zeit wäre, den Bodenverbrauch – die Umwandlung von Grün in Grau oder Braun – zu stoppen, sind überdeutlich. Der jährlich herausgegebene Living-Planet-Report des WWF etwa, der den weltweiten Status der Tierwelt beschreibt, zeigt klar, dass hier Alarmstufe Rot herrscht – ähnlich wie auch beim Klima. Der WWF-Bericht verfolgt den Status der Populationen von 4000 Säugetieren, Vögeln, Fischen, Amphibien und Reptilien seit 1970. Das alarmierende Ergebnis: In diesen fünfzig Jahren sind die Populationen weltweit um insgesamt mehr als zwei Drittel (!) geschrumpft.39 Ein ähnlicher Befund gilt für Schmetterlinge (minus 50 Prozent seit 1990 in Europa), Hummeln (minus 50 Prozent seit 1974 in Nordamerika) und Insekten im Allgemeinen (40 Prozent sind vom Aussterben bedroht).40

Die Natur ist am Rückzug: Wir befinden uns am Anfang des sechsten globalen Massenaussterbens.41 Ein wichtiger Grund dafür ist der Klimawandel. Ein ebenso wichtiger ist aber auch die globale Nutzung – der globale Missbrauch – von Land.42

Der Biologe und Autor E. O. Wilson, der vor allem für seine Studien zu Ameisen weltbekannt ist, schlägt daher vor: „Die Hälfte der Erde“ (so der Titel eines seiner Bücher) sollte so weit wie möglich von Menschenhand unberührt bleiben.43 Das wäre möglich – und muss es wohl auch. Doch es geht nur dann, wenn die überwiegende Mehrzahl der Menschheit in Städten wohnt. Nicht in Vorstädten, nicht in Vororten, nicht in vollkommen CO2-neutralen, hypermodernen Passivhäusern am Land – in Städten.

Stadt, Land, Klima

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